Auf einem Platz im ukrainischen Charkiw herrscht durch den Krieg das komplette Chaos, während in einer örtlichen Bäckerei weiter Brot für die Soldaten an der Front gebacken wird; wir haben mit den Mitarbeitern der Bäckerei gesprochen
Das Chaos in Charkiw im Kontrast zum Treiben in der Bäckerei | linkes Foto: Vyacheslav Madiyevskyy / Ukrinform / Abacapress; rechtes Foto: bereitgestellt von George
Menschen

Die Front-Bäckerei, die ukrainische Soldaten mit Brot versorgt

"Das Backen ist mein Weg, meine Energie für etwas Gutes einzusetzen. Mehr kann ich nicht tun, um mich abzulenken und nicht in Panik zu verfallen." – George aus Charkiw
Sander van Dalsum
Amsterdam, NL
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"Einen besseren Wecker gibt es nicht. Freude bereitet er trotzdem nur wenig", sagt der 24-jährige George über die Bomben, die ihn jeden Morgen aus dem Schlaf reißen. George lebt in Charkiw, einer Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern im Nordosten der Ukraine. Am Telefon klingt er ganz ruhig, er sitzt in einem provisorischen Luftschutzbunker im Keller einer Bäckerei. Durch seine ruhige Art könnte man fast denken, dass seine Heimatstadt nicht gerade von russischen Truppen und Kampfjets in Schutt und Asche gelegt wird.

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Neben George haben 14 weitere Menschen unter der Bäckerei Schutz gesucht. Vor dem Kriegsausbruch hat er dort gearbeitet. "Es war wunderschön. Die Leute haben hier Kaffee getrunken, Sandwiches gegessen, gelesen, gearbeitet und Brettspiele gespielt", erzählt er. Von diesem gemütlichen Treiben ist nichts mehr übrig geblieben.


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Charkiw ist nach Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie befindet sich nur 32 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt und wurde von der Invasion schwer getroffen. In den Straßen kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen ukrainischen und russischen Truppen, das russische Militär greift sowohl strategische Ziele als auch Zivilgebäude an. Die Bilder in den Nachrichten zeigen zerstörte Häuser, mit Trümmern übersäte Plätze und U-Bahn-Stationen voller jetzt obdachloser Menschen.

Der Keller der Bäckerei bietet dringend nötigen Schutz. George hat das Gebäude in den vergangenen Tagen auch nur ein einziges Mal verlassen, um sich im Haus eines Bekannten frisch zu machen. Im Bunker gibt es kein wirkliches Badezimmer. Die Situation ist nicht ideal, aber dennoch besser als sich oberirdisch aufzuhalten, wo das Risiko eines Raketeneinschlags extrem hoch ist.

Mehrere Brote sind auf einem Haufen gestapelt, daneben sieht man den großen Ofen, in dem die Brote gebacken werden

In diesen Öfen werden die Brote gebacken | Fotos: bereitgestellt von George

"Bevor sie hier in den Bunker kamen, wussten die meisten Leute nicht, wie man Brot, Kekse oder Kuchen backt", sagt die 19 Jahre alte Oksana, die in den Monaten vor dem Krieg in einer anderen Bäckerei gearbeitet hat. Im Luftschutzbunker fing sie an, ihren Mitmenschen die Grundlagen des Backens beizubringen. So produziert die Bäckerei mit gespendeten Zutaten jetzt rund 110 Brote täglich, die dann an ukrainische Soldaten verteilt werden.

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"Sobald wir keine Raketen und Flugzeuge mehr hören, backen wir Brot", sagt Oksana. "Ich sehe das Ganze einfach als schöne Arbeit in einer Bäckerei mit einem guten, freundlichen Team. Wir verstehen uns super, helfen uns gegenseitig und freuen uns über die Gesellschaft."

Oksana sorgt sich aber auch um ihre Freunde und Verwandten, die es nicht an einen sicheren Ort geschafft haben. "Die Situation in Charkiw macht mir Angst. Bei jeder Explosion, die wir mitbekommen schrecken wir auf", sagt sie. "Wir versuchen, uns in dieser schwierigen Zeit gegenseitig zu unterstützen und unsere wichtigste Aufgabe nicht zu vergessen: so vielen Menschen wie möglich zu helfen."

"Jeder geht mit der Situation anders um. So lange wir Wasser und Essen haben, ist es OK."

Der erste russische Angriff auf Charkiw erfolgte am 24. Februar. Seitdem hat es in der Metropole keine guten Neuigkeiten mehr gegeben. "Wenn man über nichts anderes mehr nachdenkt, dreht man durch", sagt George. "Das Backen ist mein Weg, meine Energie für etwas Gutes einzusetzen. Mehr kann ich nicht tun, um mich abzulenken und nicht in Panik zu verfallen." 

Unterstützt wird die Bäckerei von Freiwilligen, die das Brot in Charkiw verteilen. Zu diesem Team gehört auch der 32-jährige Denis. Er ist in Charkiw aufgewachsen und wütend über die Zerstörung. Als der Krieg begann, brachte er seine Familie raus aus der Stadt. Dann wollte er sich aber nützlich machen und suchte online nach Organisationen, die Hilfe brauchten. So fand er heraus, dass Lieferanten dringend gesucht wurden.

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Bei den Liefertouren durch die Stadt drohen Gefahren von allen Seiten. Auch durch ukrainische Soldaten. "Sie sind nervös und ein wenig paranoid", erzählt Denis. "Sie müssen ständig auf der Hut sein und sind erschöpft und verängstigt."

Denis ist wie viele andere Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen gegensätzlichen Gefühlen hin- und hergerissen. Manchmal fühle er sich total mutig und wolle einfach raus und seinen Job machen. Manchmal habe er aber auch Angst und wolle sich an einen sicheren Ort zurückziehen. "Manchmal ist es auch eine Mischung aus beidem", sagt er.

Das linke Bild zeigt einen Schlafplatz in einem Keller mit verschiedenen Decken und Schlafsäcken, auf dem linken Bild hält eine Hand ein Blech frisch gebackene Kekse

Links: der Schlafbereich im Keller der Bäckerei; rechts: Auch Cookies werden gebacken | Fotos: bereitgestellt von George

George sagt, dass er sich glücklich schätzen könne, in diesen stressigen Zeiten die Bäckerei zu haben. "Du bist hier nicht allein. Es gibt Brettspiele, Essen, Trinken und Leute zum Reden. Und du kannst dich ausruhen, wenn du erschöpft oder aufgebracht bist", sagt er. "Jeder geht mit der Situation anders um. So lange wir Wasser und Essen haben, ist es OK."

Da Charkiw inzwischen allerdings fast komplett von russischen Truppen eingekesselt wird, gehen solche Ressourcen immer mehr zur Neige. Zudem werden die Fluchtrouten mit jedem Tag gefährlicher. George will noch nicht fliehen, er hofft weiterhin, dass bald Verstärkung für die ukrainischen Soldaten kommt. "Ich habe schon darüber nachgedacht, von hier abzuhauen. Aber die Situation ist dafür noch nicht kritisch genug", sagt er. "Wenn die russische Invasion noch schlimmer wird, werden wir die Flucht aber wieder in Betracht ziehen müssen." 

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Die 25 Jahre alte Lili ist Miteigentümerin eines Cafés direkt bei der Bäckerei. Sie sagt, dass George in der Minderheit sei: "Es gibt Menschen, die hier nicht weg können. Aber die meisten versuchen schon, irgendwie aus der Stadt zu kommen." 

Lili ist direkt am ersten Tag der Invasion in eine sicherere Gegend im Osten der Ukraine geflohen. Sie hat immer noch das Gefühl, einen absurden Albtraum zu durchleben. "Ich kann weder klar denken, noch verstehen, dass das hier wirklich passiert", sagt sie. "Derzeit beschäftigt mich nur eine Frage: Leben meine Familie und meine Freunde noch? Das muss ich fünfmal täglich überprüfen, weil ständig Raketen einschlagen. Keine Ahnung, ob mein Haus noch steht. Keine Ahnung, ob ich mein Café jemals wieder aufmachen kann. Aber das ist mir gerade auch egal." 

Die vollen Namen und der Standort der Bäckerei sind der Redaktion bekannt. Zum Schutz der betreffenden Personen werden sie in diesem Artikel allerdings nicht genannt.

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