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Warum das Rentnergame Kniffel das perfekte Spiel für die Pandemie ist

Alle müssen schauen, wie sie am besten mit dieser Pandemie klarkommen. Ich kniffele halt. Eine Liebeserklärung.
Eine Frau und ein Mann schreien, in der Mitte Würfel und Würfelbecher. Kniffel ist das Spiel, mit dem die Pandemie erträglich wird
Blutige Würfel und absolute Ekstase: Ein Kniffel-Symbolbild Frau: IMAGO / Panthermedia | Mann: IMAGO / YAY Images | Würfelbecher: IMAGO / suedraumfoto | Kniffel: IMAGO / Westend61

Ja, wir reden über den Spieleklassiker mit den fünf Würfeln im Becher und dem kleinen Block, auf dem der Spieler seine Punkte spaltenweise notiert. Jahrelang war Kniffel für mich vor allem eine verschwommene Kindheitserinnerung, seltsamerweise immer auch an den Wohnwagen der Großeltern. Eventuell waren die Sommerurlaube an der Ostsee früher auch gar nicht so aufregend, wie man sich das in der Rückschau gerne ausmalt. 

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Seit eineinhalb Jahren aber ist Kniffel wieder da. Als Pausenfüller, als kompletter Abendplan, überall. Kaum etwas entspannt mich aktuell so gut wie das magische Klackern der Würfel, der dumpfe Aufprall auf dem Taschenbuch in der Tischmitte, der hoffnungsvolle Blick unter den Becher. Es ist alles noch recht frisch, aber ich glaube, es ist Liebe. (Disclaimer: Eine Spielsucht habe ich selbstverständlich nicht entwickelt, denn, nun ja, ich könnte jederzeit aufhören.) 

Warum Kniffel?

"Clever knobeln. Mit Köpfchen." So lautet die Unterzeile auf dem Kniffel-Karton. Und selten ging etwas dermaßen am Thema vorbei, man muss nämlich wirklich nicht besonders clever sein, man kommt sogar mit bemerkenswert wenig Köpfchen durch. Genau das ist der eigentliche Trumpf dieses Spiels: Kniffel entlastet. Man spielt, ohne wirklich zu spielen.

Niemand muss mitzählen, niemand muss aufpassen. Doppelkopf, Skat, Flunkyball – im Vergleich alles megaanstrengend. Zu jedem Zeitpunkt hat man beim Kniffel die vollständige Information. Ich sehe meinen Block, den des Gegners, sehe alle eingetragenen Punkte, sehe, was noch fehlt. Der Rest ist je nach Nerd-Faktor ausrechenbare oder eben gefühlte Wahrscheinlichkeit. 

Echte Entscheidungen trifft man ohnehin schon nach ein paar Runden nicht mehr. Dann sind die Grundsätze längst festgezurrt. Ah, ein frühes Full House, das kommt ja sowieso nochmal wieder, dann kann ich ja richtig aggressiv auf den Kniffel gehen. (Spoiler: Kommt es nicht.) Trage ich das jetzt bei den Sechsern oder beim Viererpasch ein? Und woraus kann ich noch eine große Straße bauen? Das ist alles. Mittelclever knobeln. Ohne Köpfchen. 

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Dadurch wiederum wird Raum für Kommunikation frei – und sei es, über das Spiel selbst. Mir persönlich war das auch nicht klar, aber ich bin ganz offensichtlich ein Kniffel-Trash-Talker: Läuft es beim Gegenüber zu gut, mache ich ihm konsequent seine Erfolge madig oder beschuldige ihn gar des Schummelns. Eigenes wird dagegen ständig überhöht, dauernd irgendwelche Heldentaten angekündigt, ab und zu Applaus eingefordert. Das ist sehr unangenehm, für alle. Social Distancing ist leider auch in der Kleinstgruppe noch möglich.

Aber auch das macht Kniffel so attraktiv: Es lässt am Spielende sehr schmeichelhafte Deutungen zu. Wer gewinnt, hatte natürlich "die überlegene Strategie", hat "richtig gute Entscheidungen" getroffen. Wer verliert, hatte einfach kein Würfelglück, aber im Grunde auch nichts falsch gemacht. Wo keine Geschichte ist, baut man sich eine. Jeder Beteiligte kommt da einigermaßen ungeschoren wieder raus.

Warum Kniffel gerade jetzt?

Dass Kniffel nun ausgerechnet in dieser seltsam leeren Corona-Zeit sein Comeback feiert, ist kein Zufall. Draußen Kontaktbeschränkungen, drinnen Full House. Draußen Lockdown, drinnen Block schauen. Im Grunde braucht es ja bloß einen weiteren Mitspieler. Der ist im Optimalfall schon im eigenen Haushalt vorhanden oder wird eben ganz gezielt für die aktuellste Welle gesucht (Stichwort: Kniffelkontakt). Es ist ein fantastisches Zwei-Personen-Spiel. One-on-one. Du oder ich. Eine Runde noch. Ich mach Dich fertig, Kathrin!

Umgeben von all den quälenden Pandemie-Ungewissheiten punktet Kniffel zudem als etwas, bei dem absolut unstrittig ist, wie es funktioniert. Bundesweit gelten dieselben Regeln, Grenzwerte bleiben seit Jahren stabil – die 63er-Inzidenz für den Bonus etwa. Da wird nicht gelockert, da wird nicht nachgeschärft. Ein Kniffel bringt 50 Punkte – egal, was die Länderchefinnen und Länderchefs verabredet haben. 

Dieses Spiel bedient perfekt die basalen Sehnsüchte Kopf aus und Klarheit. Das also, was allen gerade fehlt. Und: Während die Pandemie da draußen die Ungleichheit in beschämender Weise verstärkt, nivelliert Kniffel sie. Wer viel trainiert, wird nicht besser. Wer selten spielt, hat nicht weniger Würfelglück. Vor dem Zufall sind alle Gruppen gleich vulnerabel.  

Schließlich ist da noch das wunderbare Konstrukt der "Chance". Einmal in jeder Runde ist es egal, ob die Würfel in irgendeiner Weise zusammenpassen, alle Augen zählen. Es ist der große versöhnende Joker, der jede Grütze in etwas Zählbares verwandelt. Das ließe sich nun mit ein wenig gutem Willen sogar zur Gesellschaftsmetapher aufblasen. Dabei handelt dieser Text doch wirklich nur von einem Spiel.

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