Links in dieser Grafik sind drei verschiedene Versicherungskarten zu sehen, in der Mitte die Röntgenaufnahme einer Wirbelsäule, rechts sind sind Füße einer Patientin in einem Krankenhausbild zu sehen.
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Menschen

Über 80.000 Menschen in Deutschland sind nicht krankenversichert – eine davon ist Bahareh

Monatelang hat die chronisch kranke Iranerin sich versteckt. Dann musste sie ins Krankenhaus.
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Damit Bahareh im Krankenhaus behandelt werden konnte, musste Ludwig für sie lügen. Er dachte sich einen anderen Namen für sie aus. Sagte dem Krankenhauspersonal, er kenne Bahareh nicht, sie habe sich in ihrer Notsituation an ihn gewandt. Während sie behandelt wurde, telefonierte die Buchhaltung des Krankenhauses alle Sozialämter in der Umgebung ab: Kennen Sie die Patientin? Irgendwer müsse doch die Kosten übernehmen.

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Bahareh lebt in einer Großstadt in Westdeutschland. Sie ist vor zwei Jahren aus dem Iran nach Frankreich geflohen, kam von dort nach Deutschland und steckt seitdem im Dublin-Verfahren. Es ist also nicht klar, welches Land für die Durchführung von Baharehs Asylverfahren zuständig ist. Weil ihr drohte, nach Frankreich abgeschoben zu werden, ist Bahareh untergetaucht. Sie versteckt sich in einer Wohnung, die Ludwig organisiert hat. Er engagiert sich seit einigen Jahren bei der Aktion Bürger*innenasyl, bei der Bürgerinnen Menschen aufnehmen, die abgeschoben werden sollen. Dass er Bahareh hilft, ist eine Form des zivilen Ungehorsams.

Mittlerweile ist die Frist zur Überstellung verstrichen und eigentlich stünde Bahrareh ein Asylverfahren in Deutschland zu. Doch durch Corona sind die Fristen ausgesetzt. Niemand weiß, wie lange Bahareh noch im Untergrund leben muss.

All das heißt: Bahareh hat keine Krankenversicherung – und das, obwohl sie eine chronischen Erkrankung hat. Die Krankenhausmitarbeiter wählten sich am Tag ihrer Behandlung vergebens durch die Sozialämter. Niemand kannte Bahareh, niemand konnte den Antrag auf Kostenerstattung übernehmen. Die Rechnung blieb unbeglichen.

Selbstständige, Arbeitslose, Obdachlose und Geflüchtete sind besonders betroffen

Das deutsche Gesundheitssystem gilt als solide. Hier ist die Krankenversicherung eine Pflichtversicherung. Und doch gibt es je nach Schätzungen zwischen 80.000 und 300.000 Personen, die diese Absicherung nicht haben. Davon sind die unterschiedlichsten Gruppen betroffen. Zum Beispiel Selbstständige, die sich selbst versichern müssen, aber entweder ihre Beiträge nicht zahlen können oder gar versäumen, sich bei der Krankenkasse zu melden. Wer das erst Jahre später macht, muss die Gebühren der verpassten Monate nachzahlen. Selbst wenn ihnen ein Teil des Betrags erlassen wird, können das mehrere tausend Euro sein. Wer das nicht zahlen kann, bleibt ohne Schutz.

Ähnlich ist es bei Menschen, die arbeitssuchend sind: Kriegen sie kein Geld von der Agentur für Arbeit, müssen sie sich selbst um ihre Krankenversicherung kümmern.

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Auch viele Menschen, die kein Obdach und keine Meldeadresse haben, haben keine Krankenversicherung. Oder Europäerinnen, die in Deutschland leben, aber schon in ihrem Heimatland keine Krankenversicherung hatten. Aber vor allem sind es Menschen, die ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Deutschland leben. Ähnlich wie Bahareh.


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Ludwig und Bahareh erzählen ihre Geschichte per Videoanruf. Mit dabei ist außerdem ein Übersetzer, der die Worte der Iranerin von Farsi ins Deutsche übersetzt. Weil die beiden nicht erkannt werden möchten, nennen wir hier nicht ihre echten Namen.

Fünf Tage lag Bahareh im Krankenhaus – fünf Tage lang hatte sie Angst

Vor zwei Wochen ist Bahareh in Ohnmacht gefallen. Sie leidet an einer Immunschwächekrankheit, muss deswegen schon seit Jahren Medikamente nehmen. Ludwig brachte sie ins Krankenhaus, wo die Ärztinnen feststellten, dass der Natrium-Gehalt in ihrem Blut zu stark abgesackt war, was zu dem Kollaps geführt hat. Fünf Tage blieb Bahareh im Krankenhaus, bis ihre Werte wieder stabil waren.

Was hier nach schnellem Happy End klingt, bedeutete für die 49-Jährige viel Stress. "Ich wurde im Krankenhaus gut umsorgt, aber ich hatte große Angst", erzählt sie. Ständig machte sie sich Sorgen: dass gleich die Tür aufgeht und die Polizei davor steht. Dass sie eine Rechnung kriegt, die sie nicht zahlen kann. Und vor allem: dass Ludwig und all jene, die ihr helfen, Probleme bekommen.

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Dank der Aktion Bürger*innenasyl fand Bahareh Unterschlupf, bekam Taschengeld – und bekam Hilfe, als sie ins Krankenhaus musste. Die Initiative ist recht jung. In der Großstadt, in der Bahareh wohnt, können sie gerade mal drei Menschen versorgen.

Diese Initiative ist längst nicht die einzige, die sich um das körperliche Wohlergehen von Menschen ohne Krankenversicherung sorgt. Ehrenamtliche vieler großer Städte haben in den letzten Jahrzehnten ein Hilfsnetzwerk geknüpft. Ein Knoten in diesem Netzwerk ist das Medibüro in Berlin. Es arbeitet so: Wer Hilfe braucht, kommt zu ihnen. Sie vermitteln die Personen dann an Ärztinnen und Ärzte, die sie ehrenamtlich behandeln. Kleinere Operationen, Labortests und Medikamente bezahlen sie von Spenden. Das müssen sie so machen, weil es gerade für illegal im Land lebende Menschen keine Alternative gibt, wie Maria Hummel vom Medibüro Berlin schildert: "Auf dem Papier bekommen zwar alle Menschen in Deutschland eine medizinische Versorgung", sagt sie. Steht eine Behandlung an, die im Voraus geplant ist, müssten die Betroffenen aber vorher einen Krankenschein beim Sozialamt beantragen, damit das dann die Kosten übernimmt. Aber: Das Sozialamt ist dann verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde weiterzuvermitteln. Keine Option für Menschen, die sich verstecken, um im Land bleiben zu können. "Das ist im Prinzip eine Falle", sagt Hummel. "Menschen, die illegal in Deutschland sind, nutzen das nicht und gehen im Zweifel nicht zum Arzt."

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Bei Notfallbehandlungen ist das anders. Hier sind Ärztinnen verpflichtet, sofort zu helfen. Die Daten landen dann auch nicht bei der Ausländerbehörde. In diesem Fall greift der sogenannte verlängerte Geheimnisschutz. Die ärztliche Schweigepflicht gilt bis in die Behörden hinein und das Sozialamt darf die Daten nicht weitergeben.

Theoretisch hätte Ludwig im Krankenhaus also auch Baharehs echten Namen sagen können. "Aber es war leichter, der Buchhaltung zu sagen, ich würde Bahareh nicht kennen, als ihr stundenlang zu erklären, dass es durchaus Menschen ohne geklärten Aufenthaltsstatus in Deutschland gibt, für die dann keiner zuständig ist."

Das Coronavirus hat die Angst vergrößert: Plötzlich war überall Polizei

Diese Regelungen müssen die Betroffenen aber erstmal kennen. Und dann geht es auch um Vertrauen. Denn wenn man monatelang in der Furcht lebt, von der Polizei aufgegriffen zu werden, fällt es schwer, sich im Notfall einer Institution wie einem Krankenhaus anzuvertrauen. "Die ersten drei Monate waren furchtbar für mich", erinnert sich Bahareh. "Ich hatte schreckliche Angst, rauszugehen. Ich habe es versucht, aber ich konnte nicht. Ludwig und die anderen haben mir gesagt, ich müsse mindestens eine halbe Stunde spazieren gehen am Tag. Aber ich bin nur mit anderen zusammen rausgegangen, nicht alleine."

Corona hat ihre Angst vergrößert, obwohl Abschiebungen gerade ausgesetzt sind. Denn in einigen Städten gab es plötzlich eine Ausweispflicht. Mannschaftswagen der Polizei fuhren durch Parks, Beamte patrouillierten über Plätze. Die Stellen, die sonst Hilfe boten, hatten nun seltener geöffnet. Und zu der Angst, durch die verschärften Kontrollen entdeckt zu werden, kommt die Angst vor dem Virus selbst.

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"Durch Corona zeigt sich verstärkt: Wir haben ein Zwei-Klassen-System, das ausgerechnet jenen schnelle Hilfe verwehrt, die eigentlich aufgrund der Komplexität ihrer Bedürfnisse eine bessere Versorgung bräuchten", sagt Indre Illig. Sie ist ein weiterer Knoten in dem Hilfe-Netzwerk: Als Fachärztin für Allgemeinmedizin in Berlin behandelt sie ehrenamtlich Menschen ohne Krankenversicherung. Das Medibüro schickt sie zu ihr. In ihrer Praxis müssen die Patientinnen dann nur sagen, sie kämen von dort und einen beliebigen Namen nennen, mit dem Illig sie im Wartezimmer aufrufen kann. Diesen ausgedachten Namen kann die Ärztin dann auch nutzen, um Blut zum Labor zu schicken oder Akten zuzuordnen, sollte die Person zu einer weiteren Untersuchung kommen.

Bei Hausärztin Indre Illig können Illegalisierte sich einen Namen ausdenken

Allgemeinärztin Illig arbeitet schon seit rund 20 Jahren mit dem Medibüro Berlin zusammen. Bei vielen Beschwerden, die die Menschen haben, könne sie gut helfen: Wenn der Blutzuckerspiegel eingestellt werden müsse, zum Beispiel. Doch viele kämen mit Schmerzen, die keine körperliche Ursache haben. "Ich habe einen psychosomatischen Schwerpunkt", sagt Illig. "Wenn Menschen mit chronischen Kopfschmerzen kommen, für die keine organische Ursache verantwortlich ist, sage ich denen: Schauen Sie sich doch mal Ihre Lebenssituation an. Müssen Sie da vielleicht etwas ändern?" Für Illegalisierte wäre dieser Rat purer Hohn. "Das ist der größte Frust an meinem Job: dass medizinische Lösungen von mir erwartet werden, wo es politische geben muss."

Ärztin Illig, Maria Hummel vom Medibüro und Ludwig vertreten hier einen ähnlichen Standpunkt. Sie helfen Menschen ohne Krankenversicherung zwar – wollen aber eigentlich nicht, dass diese Hilfe überhaupt notwendig ist. Deswegen engagieren sie sich auch politisch, machen Kampagnen und Aktionstage, um Lösungen zu finden.

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Eine dieser Lösungen könnte ein Anonymer Krankenschein sein, den Menschen ohne Krankenversicherung statt einer Chipkarte abgeben und mit dem Ärzte ihre Behandlung abrechnen könnten.

In Berlin ist aus dieser Forderung ein Modellprojekt entstanden. 2018 hat der Senat die Clearingstelle eingerichtet. Sie prüft, woher die Menschen kommen und ob sie Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung haben. Maria Hummel vom Medibüro sagt, sie befürworten dieses Projekt, weil Menschen dadurch eine gesicherte und vom Staat finanzierte Versorgung bekommen können. Allerdings werde die Clearingstelle bisher schleppend genutzt. Es ist eine Behörde, die viele Fragen stellt – bei vielen Illegalisierten weckt das Misstrauen. Sie gehen dann lieber zu Einrichtungen wie dem Medibüro, denen sie vertrauen und wo sie unbürokratisch Hilfe bekommen.

In anderen Bundesländern gibt es solche Modellprojekte nicht. Und nicht an allen Orten gibt es ein Hilfsnetzwerk wie in Berlin. Und selbst dort können die Initiativen längst nicht bei allem helfen. Dauernd mangelt es an Fachärztinnen, für große Operationen fehlt das Geld. Eine perfekte Lösung ist auch das gut organisierte Hilfsnetzwerk nicht.

"Es ist kein Problem, über eine längere Zeit mit schlechter Kleidung zu leben", sagt Bahareh. "Aber gute Gesundheit ist ein Muss. Jeder sollte eine Krankenversicherung haben, auch wir."

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