Menschen

Wie Abdul verzweifelt versucht, mit seiner Familie auf den Flughafen von Kabul zu gelangen

"Wenn ich es nicht schaffe, werden die Taliban mich töten. Das weiß ich", sagt Abdul, der in Afghanistan für ein deutsches Unternehmen gearbeitet hat.
Menschen versuchen, über die Mauer des Flughafens in Kabul zu klettern, um vor den Taliban aus Afghanistan zu fliehen.
Foto: IMAGO / NurPhoto | Bearbeitung: VICE

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan verschärft sich die Lage am Hamid Karzai International Airport in Kabul. Jeden Tag versuchen Tausende Menschen zu fliehen. 

Mehrere Staaten haben eine sogenannte Luftbrücke eingerichtet, auch Deutschland. An Bord kommt aber nur, wer auf einer Flugliste des Auswärtigen Amtes steht. Das betrifft Ausländer und afghanische Unterstützer der NATO-Truppen. Immer wieder wurde in den vergangenen Tagen kritisiert, dass es zu viele Schutzbedürftige nicht auf die Listen schaffen und der Vergeltung der Taliban schutzlos ausgeliefert werden.

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Mehr als 88.000 Menschen sollen so bisher aus Kabul ausgeflogen worden sein, rund 5.300 von ihnen von der Bundeswehr. Die USA haben angekündigt, den Flughafen nur noch bis 31. August betreiben zu wollen. Ohne die Amerikaner können die EU und Großbritannien den Flughafen nicht halten. Es wird erwartet, dass Deutschland die Evakuierung am heutigen Donnerstag beendet.

Seit der Machtübernahme der Taliban sind insgesamt 14 Menschen am Flughafen gestorben. Am Dienstagmorgen beschrieb der Grünen-Politiker Omid Nouripour der WELT die Lage so: "Taliban sitzen auf dem Zaun des Flughafens mit Bazookas in der Hand."

Wir haben mit Abdul gesprochen, der lange als Übersetzer für ein deutsches Unternehmen in Afghanistan gearbeitet hat. Seinen echten Namen möchte er nicht nennen.

Abdul fürchtet die Rache der Taliban und versuchte bereits mehrmals, gemeinsam mit seiner Familie nach Deutschland zu fliehen – bisher vergebens.


Auch bei VICE: Was kostet die Flucht nach Europa?


VICE: Wie ist die Lage am Flughafen Kabul?
Abdul:
Ich bin letzte Woche fünfmal zum Flughafen gefahren und habe versucht, einen Flug zu kriegen, aber bei dem ganzen Chaos ging nichts voran. Man kann sich die Verzweiflung der Menschen nicht vorstellen. Jeder versucht, irgendwie das Land zu verlassen – egal, ob er darf oder nicht. Zuhauf drängen sich die Menschen jeden Tag um einen Evakuierungsflug. Viele schlafen sogar dort und nehmen die Gefahr durch die Taliban in Kauf – und inzwischen auch durch den islamischen Staat, der mit Anschlägen auf den Flughafen gedroht hat.

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Wie habt ihr versucht, das Land zu verlassen?
Wie alle versuchten wir, uns zum Gate durchzudrängen. Als Familie ist das schwierig. Ich war mit meiner Frau und meinen drei Kindern da. Schon beim ersten Mal habe ich fast meine Familie verloren, weil die Soldaten plötzlich angefangen haben, mit Tränengas zu sprühen, und ich meine Frau und unsere Kinder nicht mehr am vereinbarten Treffpunkt finden konnte.

Als wir zum fünften Mal zum Flughafen fuhren, war es nachmittags und über 4.000 Menschen waren da. Kurz bevor wir das Gate erreichten, schossen die Taliban einfach los.

Welcher Tag war das?
Ich weiß es nicht mehr. Ehrlich gesagt, bei dem ganzen Durcheinander habe ich den Überblick über die Wochentage verloren.

Es heißt, die Taliban hätten nur Warnschüsse abgegeben.
Nein, sie haben auf Menschen gezielt. Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich sah zu, wie ein Junge am Gate erschossen und andere Leute schwer verletzt wurden.

Meine Kinder hatten solche Angst. Ich hatte eine Tasche in der Hand und ein Kind auf dem Arm. Meine Frau war hinter mir mit unseren Söhnen und durch die ganze Schießerei brach plötzlich Massenpanik aus. Gleichzeitig wurden Menschen niedergetrampelt. Wir hatten Todesangst.

Ich wollte das Chaos auch filmen, hatte aber Angst, dass die Taliban auf mich schießen würden. 

Sind du und deine Familie jetzt in Sicherheit?
Wir sind wieder zu Hause in unserer Heimatstadt, acht Stunden von Kabul entfernt. Wir sind spätnachts zurückgekommen und haben uns gegenseitig festgehalten. Meine Frau und meine Kinder haben nur noch geweint. Wir können nur von Kabul ausreisen, aber am Flughafen bleiben möchte ich nicht. Jedes Mal habe ich dort Menschen sterben sehen.

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Du hast die afghanische Staatsbürgerschaft und möchtest nach Deutschland ausreisen. Welche Verbindung hast du zu Deutschland?
Ich habe für eine deutsche Organisation gearbeitet, als die NATO nach Afghanistan kam. Ich hab ein Zertifikat, das beweist, dass ich gefährdet bin.

Werdet ihr wieder versuchen, am Flughafen einen Flieger zu bekommen?
Momentan ist allein der Weg zum Flughafen schon lebensgefährlich. Die Taliban haben Checkpoints aufgestellt, die man auf dem Weg zum Flughafen passieren muss.

Wie habt Ihr die bisher passiert?
Es ist nicht einfach, aber wir konnten sie umgehen. Beim letzten Mal sind wir viele kleine Umwege gefahren und mussten auch lange laufen. Mein Zertifikat, das mir helfen kann zu fliehen, ist hierzulande gleichzeitig mein Todesurteil. Ich muss es also gut versteckt halten.

Also wartet ihr darauf, dass ihr zu Hause benachrichtigt oder abgeholt werdet?
Gestern bin ich mit meiner Familie noch mal nach Kabul gefahren. Es ging das Gerücht um, dass die Deutschen auch Afghanen abholen, die außerhalb des Flughafens warten. Wir haben dann dort übernachtet, aber es ist nichts passiert.

Was hast du dann gemacht?
Heute Morgen um 5 Uhr bin ich dann doch noch mal zum Flughafen gegangen, aber keine Chance. Nur Menschen, die mit dem Auto kommen, kriegen die Chance, sich zu registrieren. Ich schätze, vor den drei Eingängen warten jeweils etwa 3.000 Menschen. Wir sind jetzt wieder zu Hause.

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Gibt es einen Alternativplan?
Mittlerweile heißt es, einige Familien in Europa würden ihre Angehörigen in Afghanistan über die französischen Behörden registrieren. Nur kenne ich niemanden in Frankreich.

Was hat sich verändert, seitdem die Taliban die Macht übernommen haben?
Man hat es gespürt. Auf den Straßen Kabuls war es plötzlich ganz still. Draußen waren nur noch Männer zu sehen und wenn man Frauen sah, dann trugen sie eine Burka. Meine Frau traut sich nicht mehr nach draußen und erst recht nicht mehr zur Arbeit. Auch im Fernsehen sieht man viel weniger Journalistinnen. Sie zeigen weniger internationale Filme.

Und es geht das Gerücht rum, dass Mädchen über zwölf Jahre zwangsverheiratet werden sollen. Man sagt, die Taliban klopfen an unsere Türen und nehmen uns unsere Töchter weg. Gesehen habe ich aber noch nichts derartiges.

Was ist gerade dein Plan, um zu entkommen?
Ich warte jetzt auf grünes Licht von der deutschen Botschaft. Irgendein Zeichen, dass ich evakuiert werden kann und dass wir am Flughafen auch wirklich in ein Flugzeug nach Deutschland steigen können. 

Warum?
Alles andere ist zu gefährlich. Ich kann es nicht riskieren, meine Kinder wieder zu verlieren – oder noch schlimmer, dass einer von uns so sinnlos hingerichtet wird. Momentan hat niemand die Situation unter Kontrolle. Die Menschen sind so verzweifelt, dass sie ihre Stromrechnung als Ausweisdokument mitbringen, wenn sie keinen Pass haben. Einfach nur, um zu beweisen, dass sie hier leben und bedroht sind. Aber wir müssen ausreisen, das ist klar.

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Was nimmst du von zu Hause mit?
Nichts. Mir sind all diese Dinge egal. Ich will einfach nur noch meine Familie retten. In dieser kritischen Situation gibt es nichts Wichtigeres als sie.

Was möchtest du den Regierungen des Westens mitteilen?
Nichts, ich respektiere ihre Vorschriften.

Bist du denn nicht wütend?
Warum soll ich wütend sein? Es bringt doch nichts. Gesetze sind Gesetze und die demokratischen Länder tun, was sie können. Ich wünsche mir natürlich, dass ich außer meiner Frau und meinen Kindern auch meine Mutter und meinen Bruder mitnehmen kann, auch wenn die Hoffnung darauf gerade klein ist. Und ich werde alles tun, damit das klappt. Aber wenn es nicht geht, dann muss ich sie wohl zurücklassen. Ich habe große Angst davor, weil die Taliban sie dann eventuell als meine Familie identifizieren werden.

Was ist, wenn du es nicht schaffst?
Das wäre fatal für mich. Es ist nicht erlaubt, für ein ausländische Unternehmen zu arbeiten, und genau das habe ich getan. Die Taliban versuchen jeden umzubringen, der Ausländern hilft oder für sie arbeitet. Die leugnen das, aber jeder hierzulande weiß, dass es stimmt. Wenn ich es nicht schaffe, werden die Taliban mich töten. Das weiß ich.

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