Popkultur

Britney Spears ist ein Vorbild für alle, die aus kaputten Familien kommen

13 Jahre stand der Popstar unter einer Vormundschaft, die nur so vor Übergriffen trieft. Dass sie nun offen spricht, gibt auch anderen eine Stimme.
Britney Spears performtvor
Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Sie weiß offenbar noch gar nicht, was sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit anstellen soll: "Ich stand 13 Jahre unter Vormundschaft. Das ist eine sehr lange Zeit dafür, sich in einer Situation zu befinden, in der man nicht sein möchte", sagt Britney Spears in einem Instagram-Video und wiegt ihren Körper von Seite zu Seite. Sie wirkt nervös.

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Dabei hat sie Grund zur Freude. Seit dem 12. November ist Britney Spears frei. An diesem Tag wurde die Vormundschaft, die man 2008 über sie verhängt hatte, aufgehoben. Dafür, dass es so weit kam, hat sie selbst am meisten gekämpft. Oft gegen ihre Familie. Das macht sie zum Vorbild für Menschen wie mich. Für Menschen aus kaputten Familien. 


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Ich komme aus einer Familie, in der Übergriffe, Gewalt und Kontrolle ein Thema waren – genau wie bei Britney. Sie ist ein Vorbild für mich, weil sie nun öffentlich über den Missbrauch in ihrer Familie spricht und sich somit aus der Opferrolle befreit.

13 Jahre lang hatte der Popstar keine rechtliche Kontrolle über ihren Körper, ihre Finanzen, ihre Karriere oder ihre Beziehungen. 13 Jahre lang durfte sie nur das tun, was ihre Vormünder und ihre Familie ihr erlaubten. 

Gerichte können in den USA einen Vormund bestimmen, der die persönlichen, finanziellen und rechtlichen Angelegenheiten einer Person regelt – insbesondere, wenn sie nach Auffassung des Gerichts nicht für sich selbst sorgen kann. Das soll für Britney Spears der Fall gewesen sein. 

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2007 erlitt sie einen öffentlichen Zusammenbruch, fuhr betrunken Auto und nahm Drogen. Das war das Bild, das Außenstehende sahen. Im Laufe des Verfahrens, das die Vormundschaft beenden sollte, kamen jedoch Details aus dem Inneren der Familie Spears zutage, die erklären können, was Britney überhaupt erst in diese Situation brachte. Diese Details zeichnen ein bedrückendes Bild. Das Bild einer kaputten, einer sogenannten dysfunktionalen Familie.   

"Dysfunktionale Familien sind geprägt von ungelösten Konflikten, Missbrauch, Kontrolle, emotionaler, verbaler und physischer Gewalt", sagt die Freiburger Psychologin Anne Denk. Auch Alkoholismus und Spielsucht können demnach Faktoren sein – diese seien aber oft Indizien dafür, dass ein Elternteil selbst Vernachlässigung erlebt hat.

Für vieles davon finden sich in Britney Spears Leben Anhaltspunkte. In ihrer 2008 erschienen Autobiografie Through the Storm berichtet Britneys Mutter Lynn Spears von verbalem Missbrauch, Vernachlässigung, unberechenbarem Verhalten, Alkoholmissbrauch und genereller Abwesenheit ihres heutigen Ex-Manns. Laut The New Yorker habe Lynn ihn auch beschuldigt, sie einmal an Weihnachten betrogen zu haben. Britney sagte dem People-Magazin, die Scheidung 2002 war "das Beste, was unserer Familie passieren konnte". 

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In diesem Umfeld gedieh offenbar auch das Bedürfnis nach unbedingter Kontrolle über die eigene Tochter, das sich später in der Vormundschaft äußerte. 

Auch ich wurde als Kind kontrolliert und musste Dinge tun, die ich nicht tun wollte. Damit meine ich nicht meine Hausaufgaben. Ich wurde zum Zigarettenautomaten, zum Weinholen oder auf Botengänge geschickt. Zu Aufgaben, die ein Kind nicht übernehmen sollte. Wenn ich nicht funktioniert habe, wurde ich klein gemacht, beschimpft oder geschlagen. Wenn ich als Jugendlicher "Nein" gesagt habe, musste ich wochenlang bei den Nachbarn oder Freunden wohnen. 

"Nein" zu sagen, scheint auch für Britney nichts bewirkt zu haben. In den 13 Jahren der Vormundschaft scheint sie vor allem aus finanzieller Sicht ausgenutzt worden zu sein. Sie veröffentlichte in dieser Zeit vier Studioalben, ging mehrfach auf Welttournee und stand vier Jahre lang in Las Vegas auf der Bühne – selbst als sie nicht mehr wollte und eine Pause brauchte, wie sie im Juni vor Gericht aussagte.

Ihr Vater Jamie Spears habe sich laut Forbes für seine Rolle als Vormund jeden Monat 16.000 Dollar vom Geld seiner Tochter auszahlen lassen. Das gehe aus Gerichtsdokumenten hervor. In zwölf Jahren seien so 2,4 Millionen Dollar zusammengekommen. Britneys Song "Work Bitch" bekommt damit eine neue, zynische Bedeutung.

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Britney beschuldigte zudem ihre Mutter, die Idee zu der Vormundschaft gehabt zu haben. Ihr Vater sei dafür nicht schlau genug, "meine Mutter gab ihm die Idee", sagte sie in einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post. Selbst ihre jüngere Schwester, Jamie Lynn Spears, soll laut rechtlichen Dokumenten, aus denen das Portal The Blast zitiert, Kontrolle über einen Teil des Vermögens ihrer Schwester gehabt haben, jedoch ohne daran Geld zu verdienen.

"Sie sollte das brave Mädchen mimen, aber das ist sie nicht."

Ich habe Britney Spears als kleiner Junge entdeckt. Spätestens als 2007 "Blackout" erschien, war es um mich geschehen. Das Album ist rotzig, wild und verrucht. All das Laszive und Freilebige, was sich auf den Alben zuvor bereits anbahnte, fand auf "Blackout" seinen Zenit, das mit den Worten: "It's Britney Bitch" öffnet.

Ich mochte immer ihre Wut und das Ausbrechen aus einem Image, das ihr scheinbar so lange aufgezwungen wurde. Sie sollte das brave Mädchen mimen, aber das ist sie nicht. Eine Rolle zu spielen und zu funktionieren, kannte ich auch aus meinem eigenen Leben.

Als Ende 2008 mit der Vormundschaft das Album "Circus" folgte, sah Britney auf einmal ganz anders aus. Sie wirkte kontrolliert. Fast schon bieder stand sie engelsgleich mit goldenen Locken als Dompteurin im Video zur Leadsingle im Zirkus, dabei war sie es, die gezähmt wurde. Man hatte ihr Image glatt poliert. In Interviews sprach sie darüber, dass sie gerne Reis isst und langweilig sei. Ihre Musikvideos wurden immer braver. Irgendwann gab es keine Schimpfwörter in Interviews, keine Offenheit, keine Britney. Es wirkte auf mich manchmal so, als würde das Licht in ihren Augen immer schwächer.

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Britney sollte schon in ihrer Kindheit funktionieren, auf Bühnen stehen, für das finanzielle Wohl der Familie sorgen. Später wurde der Druck zu groß, Britney verlor selbst die Kontrolle. So sehr, dass sie abhängig von Crystal Meth und Amphetaminen gewesen sein soll, wie das US-Portal TMZ aus Gerichtsunterlagen aus dem Jahr 2016 zitiert. All das sind weitere Symptome für die Probleme in ihrer Familie.

Und es sind Symptome, die mir nicht ganz unbekannt sind. Die Erlebnisse meiner Kindheit waren so belastend für mich, dass ich selbst zum Alkoholiker wurde. Der Alkohol wurde zum Bewältigungsmittel. Mir wurde nie vorgelebt, wie man gesund mit Emotionen umgeht, einen gesunden Selbstwert entwickelt und dass es sicher ist, seine Wünsche und Bedürfnisse zu äußern. All das durfte ich erst als Erwachsener in Therapien und Selbsthilfegruppen lernen. 

In diesem Sommer sagte Britney vor Gericht aus, zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gegangen zu sein. Sie habe sich Hilfe suchen wollen, aber selbst das nicht gedurft. Ihre Familie habe ihr Therapeuten und Medikamente vorgegeben, sagte sie in ihrem Statement. Sie habe unter ihrer Vormundschaft keine Kinder bekommen dürfen, man habe ihr sogar gegen ihren Willen eine Spirale eingesetzt. Außerdem sei es ihr verboten worden, zu heiraten oder in den Urlaub zu fliegen.

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Über all diese Dinge zu sprechen falle ihr nun schwer, sagte Britney in der Anhörung weiter, in der sie das Gericht bat, die Vormundschaft zu beenden. Sie habe schlicht nicht gewusst, dass es ihr überhaupt möglich sei, einen Antrag auf die Beendigung der Vormundschaft zu stellen. Wie auch? Ihre Familie habe ihr nie wirklich Gelegenheit gegeben, ihre eigenen Anwälte auszusuchen. All das klingt nach weiteren Bausteinen in Britneys Kerker, aus dem sie jetzt ausgebrochen ist.

Dass meine Identifikation mit Britney tiefer ging, als die Projektion eines Popstar-Images, war mir nicht bewusst. Erst später verstand ich es. Auch in meiner Familie musste ich als Kind sehr oft der Erwachsene sein. Ich hatte zu funktionieren und das zu tun, was von mir verlangt wurde. Ich fühlte mich wie eine Marionette. Ich fühlte mich, wie Britney sich gefühlt haben muss.

Jeder, der in einer Familie aufgewachsen ist, in der sehr viel Kontrolle herrschte, wird das verstehen. Laut Dr. Claudia Black, die sich mit Sucht und Co-Abhängigkeit beschäftigt, gibt es in von Alkoholismus geprägten und dysfunktionalen Familien eine Grundregel: Nicht vertrauen, nicht reden, nicht fühlen. Die Kinder aus solchen Familien wissen nie, wann als nächstes etwas Schlimmes passiert. Wann der Vater oder die Mutter ausrastet und betrunken die Kontrolle verliert. Um dem entgegenzuwirken, passt sich das Kind an – und schweigt.

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"Küsst meinen Arsch"

Wer dieses Schweigen brechen möchte, kann sich Hilfe suchen. Es gibt Selbsthilfegruppen wie ACA, wo sich die Kinder von Alkoholikern und Alkoholikerinnen treffen und austauschen. Weitere Hilfsmöglichkeiten können Therapien, wie Traumatherapien, Psychoanalysen oder Verhaltenstherapien sein. Die entsprechenden Stellen sind hier zu finden.

Auch Britney tut nun das, was nötig ist, um ihrer Opferrolle zu entfliehen: Sie spricht über ihre Geschichte. Auf Instagram postet sie das, was sie posten möchte. Schlecht bearbeitete Nacktbilder, Tanzvideos und jede Menge Nachrichten an ihre Familie: "Küsst meinen Arsch", schreibt sie an alle, die in die Vormundschaft involviert waren. Dass Britney sich ihre Freiheit erkämpft hat, gibt Menschen wie mir ein Vorbild.

Sie bricht mit ihrer Offenheit die Zyklen ihrer dysfunktionalen Familie und befreit die kleine Britney, die tanzen musste, wenn ihre Eltern es wollten und die große Britney, die 13 Jahre keinen eigenen Willen haben durfte. Mir zeigt sie damit, wie persönliche Freiheit aussieht: Sie muss genommen werden, denn die eigene dysfunktionale Familie wird sie einem nicht geben.

Britney möchte bald bei Oprah auftreten und ihre ganze Geschichte erzählen. Dazu soll sie bald wieder an neuer Musik arbeiten und dabei die volle kreative Kontrolle haben. Bis dahin freue sie sich erstmal über die kleinen Dinge, wie sie erzählt: Den Schlüssel zu ihrem Auto zu haben, eine Kreditkarte zu benutzen und Kerzen zu kaufen. Free at last, Britney.

Der Name des Autors ist ein Pseudonym

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