Ein junger Mann mit Schal, Mütze und Brille wird von maskierten Polizisten festgehalten, in Russland protestieren Tausende gegen den Krieg in der Ukraine, während das Leben im Land durch die Sanktionen immer schwerer wird.
Ein Demonstrant gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine wird in Sankt Petersburg festgenommen | Foto Dmitri Lovetsky
Politik

Putins Krieg stürzt Russland ins Chaos

Die Sanktionen treffen die Bevölkerung hart. Menschen versuchen, das Land zu verlassen oder tauschen ihren Lohn in Schmuck und Elektrogeräte um.
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Am Mittwochabend, bevor die ersten russischen Raketen in der Ukraine einschlugen, saß ich in der russischen Millionenstadt Rostow am Don in einer Bar und unterhielt mich mit Dmitri, einem einheimischen Ladenbesitzer, und seinem Kumpel Dmitri, einem Bauarbeiter. "Wir haben hier in Russland eine Tradition: Wenn du zwei Menschen mit demselben Namen triffst, stellst du dich zwischen sie und wünscht dir was", sagte Dmitri der Ladenbesitzer. 

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Ich stellte mich zwischen beide Dmitris, schloss meine Augen und sagte: "Ich wünsche mir, dass es keinen Krieg gibt." 

"Warum verschwendest du deinen Wunsch für so was?", sagte Dmitri, der Ladenbesitzer. "Hier wird nicht gekämpft, davon kannst du dich selbst überzeugen." 

Nur wenige Stunden später erwachte ich zum Geräusch von Kampfflugzeugen, die über die Stadt flogen. Rostow am Don liegt rund 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.

Etwa zur gleichen Zeit um 4 Uhr morgens gab Russlands Präsident Wladimir Putin eine Fernsehansprache, in der er bekanntgab, eine militärische Operation im Nachbarland angeordnet zu haben. Während er noch davon sprach, die Ukraine zu demilitarisieren und entnazifizieren, schlugen Raketen und Bomben in Flughäfen, Landebahnen und Militärgebäude ein. Aus dem Umkreis aller ukrainischen Großstädte wurden Explosionen gemeldet. In Russland und Belarus setzten sich Panzerkolonnen in Richtung Grenze in Bewegung.

Während Putins brutales Vorgehen die Welt schockiert, sind wenige so erstaunt über den Angriffskrieg wie die Menschen in Russland. Wochenlang hatte Moskau die westlichen Meldungen über einen bevorstehenden Angriff als Hysterie abgetan. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow behauptete sogar, sein Land habe in seiner ganzen Geschichte noch nie jemanden angegriffen. "Wir, die so viele Konflikte überlebt haben, sind die letzten Menschen, die jemals das Wort Krieg in den Mund nehmen würden", sagte er.

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Und jetzt? Während in der ganzen Ukraine Raketen niedergehen und blutige Kämpfe toben, setzt Hunderte Kilometer entfernt in Moskau Panik ein. Aus Angst, mit in den Konflikt hineingezogen zu werden, versuchen einige Menschen, das Land zu verlassen.

Ein Arzt, der in einem Moskauer Krankenhaus arbeitet und anonym bleiben möchte, hat mit seiner Freundin einen Last-Minute-Flug ins Ausland genommen. Für das Ticket habe er mehr als den doppelten Preis als sonst bezahlt, sagt er. Statt 50.000 Rubel, seien es 110.000 Rubel gewesen, umgerechnet 879 Euro.

Zu dem Schritt habe er sich entschieden, nachdem einem seiner Kollegen aufgetragen wurde, eine Liste mit Medikamenten zu erstellen, die kurzfristig zur Armee geschickt werden könnten. "Ich will keine Rolle in diesem schändlichen Krieg spielen", sagt er. "Wenn das andauert, werden alle Ärzte eingezogen."

Seine Freundin sagt: "Uns blieb keine Zeit mehr." Sie befinden sich jetzt in einem sicheren Land. Kurz nach ihrem Flug wurden alle Flüge in die Region ohne Vorwarnung gestrichen. Die beiden wissen nicht, ob und wann sie nach Russland zurückkehren können. 

Derweil soll die russische Nationalgarde damit begonnen haben, Wehrpflichtige ausfindig zu machen, die sich nicht zum Dienst gemeldet haben. Nadeschda, eine Übersetzerin, die in Wahrheit anders heißt, sagt, dass sie einen Anruf von ihrem panischen Bruder bekommen habe, nachdem Soldaten vor seiner Wohnung aufgetaucht seien. Er sei vergangenes Jahr einberufen worden, aber habe sich in der Hoffnung, bald ins Ausland zu ziehen, entschlossen, das zu ignorieren. Ohne gültige Ausnahmebewilligung oder das nötige Geld, um sich von der Wehrpflicht freizukaufen, wie es viele Russen tun, steht sein Name jetzt auf einer Fahndungsliste. "Die Offiziere hämmerten gegen meine Türe und riefen, dass ich rauskommen soll", habe er ihr gesagt. "Ich bin still geblieben und sie sind nach einiger Zeit wieder gegangen."

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Taras, ein russischer IT-Berater mit Familie in der Ukraine, sagte am Sonntag, dass er es als seine Pflicht sehe, gegen diesen Krieg zu sein. "Meine Verwandten in Tschernihiw in der Nordukraine schreiben mir von Artillerie- und Raketenbeschuss. Wie soll es mir da gehen? Ich denke darüber nach, mich den Antikriegsprotesten anzuschließen. Das ist das Mindeste, was ich für meine Familie tun kann."

Nachdem Putin allerdings am Montag im Fernsehen verkündet hatte, seine nuklearen Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft versetzt zu haben, entschieden sich Taras und seine Frau, dass sie Moskau verlassen und erstmal auf dem Land in einer Datscha von Freunden leben werden. "Es ist besser dort zu sein, falls es zum Bürgerkrieg kommt", sagte er. 

Einige Ausländer planen, Russland zu verlassen. Der Manager eines beliebten indischen Restaurants in Moskau sagte, dass seine Angestellten gerade versuchen würden, irgendwie aus dem Land zu kommen. "Das ist gar nicht gut", sagte er. "Das wird eine Menge Probleme verursachen."

Zwei Männer in Winterkleidung schauen auf eine Anzeigetafel mit Euro und Dollarkursen

Eine Anzeigetafel mit den Wechselkursen in Moskau | Foto: Pavel Pavlov/Anadolu Agency via Getty Images

Für alle, die in der Stadt bleiben, wird das Leben im Schurkenstaat zunehmend schwer.

Die umfangreichen Sanktionen, die die USA, Großbritannien und die EU verhängt haben, haben die russische Wirtschaft schwer getroffen und von ausländischen Investitionen abgeschnitten. Der Rubel hat seit dem 27. Februar über die Hälfte seines Werts eingebüßt.

Vor Geldautomaten und Wechselstuben bildeten sich lange Schlangen. Viele Menschen befürchten, dass ihre ganzen Ersparnisse in ein paar Tagen wertlos sein könnten. Kyle, ein US-Bürger, der in Moskau lebt und arbeitet, sagt, er habe eine Stunde angestanden, um US-Dollar zu kaufen. "Aber die Frau vor mir hat die Letzten bekommen."

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Elektronikgeschäfte und Juweliere berichten von einem Kundenansturm. Die Menschen versuchen, ihre Löhne in Wertgegenstände umzuwandeln. "Wir haben noch ein MacBook übrig", sagt der Mitarbeiter eines Apple-Stores in der schicken Moskauer Twerskaja-Straße. "Aber nur das kleine. Die größeren sind alle weg."

Die Inflation, die in Russland schon vor der Invasion ausser Kontrolle war, und Washingtons Drohung, keine US-Produkte mehr nach Russland zu exportieren, treiben die Preise nach oben. Online wechseln neue iPhones für mehrere Tausend Euro die Besitzer. Die Menschen haben Angst, dass diese Geräte bald nicht mehr erhältlich sein werden. Tatsächlich gab Apple am Dienstagabend bekannt, dass das Unternehmen vorerst keine Produkte mehr in Russland verkaufen wird.

Menschen in Winterkleidung stehen vor einem Fahrkartenschalter Schlange

Schlangen vor einem Fahrkartenschalter der Moskauer Metro | Foto: Mikhail Tereshchenko\TASS via Getty Images

Bereits am Montag konnte man mit Apple Pay und Google Pay keine Fahrkarten mehr für die Moskauer Metro kaufen. Vor den Schaltern bildeten sich lange Schlangen. Twitter ist nur noch mit einem VPN uneingeschränkt nutzbar und die russische Medienregulierungs- und Zensurbehörde Roskomnadsor hat gewarnt, dass sie auch bald den Zugang zu Facebook einschränken möchte. Regierungsvertreter hatten dem US-Tech-Giganten vorgeworfen, "die Rechte seiner Nutzer zu verletzen". 

Der Zugang zu Websites ausländischer Medien wie der Deutschen Welle oder der BBC ist eingeschränkt. Viele unabhängige russische Radio- und Fernsehsender mussten ihren Betrieb einstellen.

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Viele Russinnen und Russen sind schockiert und schämen sich für den plötzlichen Angriff auf das Nachbarland, in dem einige von ihnen Verwandte und Freunde haben. "Das ist ein Desaster, ein Verbrechen und eine Tragödie", sagte Kirill, ein Versicherungsmakler. "Ich bin verzweifelt. Aber das Unheimlichste an der ganzen Sache ist, dass Leute hier das zu rechtfertigen versuchen", sagt er. "Als wäre es kein Problem und total normal, in andere Länder einzumarschieren und Menschen zu töten."

Er hoffe, ein Visum für ein EU-Land zu kriegen und mit seiner Freundin auszuwandern. "Es wäre extrem traurig, hier wegzugehen – meine Eltern sind hier, meine ganzen Freunde sind hier. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit."

Auch wenn viele Russen gegen den Krieg sind, zeigen die meisten mit dem Finger auf den Westen. Sie glauben, die Bedrohung durch einen NATO-Beitritt der Ukraine habe ihr Land in die Ecke gedrängt. Das zeigt auch eine Umfrage des Lewada-Zentrums, einem Moskauer Meinungsforschungsinstitut, das von der russischen Regierung als "ausländischer Agent" bezeichnet wird, weil es Geld aus dem Ausland erhalten hat. 60 Prozent der 1.600 Befragten machten die USA und ihre europäischen Verbündeten für die Eskalation im Donbas und den darauffolgenden Konflikt verantwortlich.

Jeremy Rinker, ein Experte für Friedens- und Konfliktforschung an der University of North Carolina, sagt: "Wenn man damit beginnt, Sanktionen gegen Personen zu verhängen, hat das weitläufige Auswirkungen. Es bleibt abzuwarten, ob das die Menschen auf die Straße treiben wird oder ob sie Putin weiter seine Propagandarhetorik abkaufen."

Es gebe immer Menschen, die allem vertrauen, was die Regierung sagt, so Rinker. "Das gleiche haben wir in den USA erlebt, als es große Proteste gegen den Irakkrieg gab. Auch da gab es viele Menschen, die gesagt haben: 'Wenn die Regierung sagt, dass die Massenvernichtungswaffen haben, dann muss das wahr sein.'"

Nichtsdestotrotz scheinen viele Russinnen und Russen Putins Begründung für den Angriff auf die Ukraine mit großer Skepsis zu sehen. Und sie haben Angst davor, den Preis für Putins Krieg mit ihren Jobs und Ersparnissen bezahlen zu müssen. Jenseits der Grenze zahlen diesen Preis bereits ihre Söhne und die ukrainische Bevölkerung mit ihrem Leben.

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