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Die ukrainische LGBTQ-Community befürchtet nach der Invasion Russlands das Schlimmste

"Wenn die russischen Truppen weiter vorrücken, wird es viel mehr Homofeindlichkeit geben."
Zwei Mitglieder der LGBTQ-Community auf einer Anti-Kriegs-Demo in Russland; sie erzählen uns, welche Folgen die Invasion Putins und Russland in der Ukraine für queere Menschen dort bedeutet
Alle Fotos: Bex Wade
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Die Invasion Russlands in der Ukraine schreitet weiter voran. Auf der ganzen Welt wird gegen den Krieg demonstriert. Unter den Demonstrierenden befinden sich viele LBGTQ-Menschen aus der Ukraine. Viele von ihnen haben noch Familie und Freunde in der Ukraine und befürchten vor allem in Bezug auf LGBTQ-Rechte schlimme Konsequenzen, falls Putin die Ukraine tatsächlich komplett einnehmen sollte.

2013 verabschiedete die russische Regierung ein Gesetz, das als Verbot von "homosexueller Propaganda" bekannt wurde und sich vor allem gegen LGBTQ-Darstellungen und -Aufklärung in den Medien richtet. 2020 wurden über 30 Menschen verhaftet, weil sie für die Feministin und LGBTQ-Aktivistin Yulia Tsvetkova demonstriert hatten. Und die LGBTI-Interessenvertretung ILGA-Europe stuft Russland als einen der europaweit schlimmsten Orte ein, um queer zu sein.

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Auch wenn alles eher langsam voranschreitet, gibt es vielversprechende Entwicklungen für die ukrainische LGBTQ-Community. Zwar ist die gleichgeschlechtliche Ehe dort immer noch verboten, aber die Regierung hat 2015 zumindest die Diskriminierung am Arbeitsplatz per Gesetz untersagt. 2021 liefen bei der jährlich stattfindenden Pride Parade in Kiew 7.000 Menschen mit. Und im Gegensatz zu früher wurde die Veranstaltung diesmal nicht von gewalttätigen Gegendemonstrationen oder rechtsextremen Schlägertrupps gestört.

Bei einer Anti-Kriegs-Demo in London haben uns mehrere LGBTQ-Menschen aus der Ukraine erzählt, was ihnen jetzt nach der russischen Invasion in ihrer Heimat am meisten Sorgen bereitet.

Eine Transfrau mit lockigen Haaren, gelb-blauem Lidschatten, Pelzmantel, Rock und Stiefeln hält ein "Suck my dick, Putin"-Schild in die Kamera

Angel Wilson, 20: "Freundinnen und Freunde in Kiew haben Angst, dass sie eines Tages nicht mehr aufwachen"

Ich bin eine Transfrau, meine Mutter und mein Vater kommen aus der Ukraine. Ich fühle mich wegen der derzeitigen Situation total unwohl. Meine Freundinnen und Freunde in der ukrainischen LGBTQI+-Community stehen gerade unter extremen Stress. Sie haben große Angst.

Ich habe ein paar Freundinnen und Freunde in Kiew, sie finden derzeit keine Ruhe. Sie haben Angst, dass sie eines Tages nicht mehr aufwachen. Gestern sagte mir eine Freundin aus Kiew, dass sie sich total fürchte, weil es ihre letzte Nacht auf Erden sein könnte. Die Leute versuchen gerade, irgendwie zu überleben.

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In Russland gibt es sehr strenge Gesetze und extreme politische Ansichten in Bezug auf queere Menschen. Wenn Putin – und ich rede hier nur von Putin, nicht von Russland – es ganz in die Ukraine schafft, habe ich Angst, dass die Leute dort dann auch unter schlimmer Gewalt sowie Homo- und Transfeindlichkeit leiden.

Ein Mann mit schwarzem Mantel und Umhängetasche blickt in die Kamera

Oleksandr Dmytrenko, 38: "Viele versuchen, sich in den ländlichen Dörfern vor den Raketen zu verstecken"

Was gerade in der Ukraine passiert, ist einfach nur schrecklich. Ich habe Familie in Kiew – mein Vater lebt dort, er ist schon sehr alt. Ich war zuletzt 2013 dort, bin dann aber geflüchtet und habe hier in Großbritannien Asyl beantragt, weil ich offen schwul lebte. Deswegen konnte ich in der Ukraine nicht arbeiten oder rausgehen, ohne ein Risiko einzugehen. Wenn du offen homosexuell bist, übt man in der Ukraine großen Druck auf dich aus.

Gerade geht es für die Leute dort aber fast nicht mehr um Sexualität oder Gender. Gerade geht es dort nur ums Überleben. Viele versuchen, sich in den ländlichen Dörfern vor den Raketen zu verstecken. Ich werde auf jeden Fall Geflüchtete hier bei mir in London aufnehmen, ich habe Platz für drei oder vier Menschen. Die Situation ist wirklich düster. 

Eine Frau mit kurzen, blonden Haaren, Sonnenbrille, Kapuzenpullover und Nasenpiercing schaut in die Kamera

Nat Urazmetova, 37: "Im Vergleich zu Russland hat es sich schon immer so angefühlt, als ob die Ukraine einen Schritt weiter ist"

Ein Teil meiner Familie stammt von der Halbinsel Krim, die ja von Russland eingenommen und besetzt wurde. Wenn Russland wirklich vorhat, die Ukraine ebenfalls zu besetzen und zu einem Teil von Russland zu machen, wäre das eine absolute Katastrophe für die queere Community in der Ukraine. Basierend auf dem, was ich selbst erlebt habe und was mir erzählt wird, scheint es so, als habe es in der ukrainischen LGBTQ-Szene einige Fortschritte gegeben. In den vergangenen Jahren wurden zum Beispiel immer mehr Partys organisiert. Und die Leute haben keine Angst mehr, ihre sexuelle Identität offen zu zeigen.

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Natürlich hat es sich im Vergleich zu Russland schon immer so angefühlt, als ob die Ukraine einen Schritt weiter ist. Aber wenn der Krieg jetzt weitergeht und Russland die Ukraine komplett einnimmt, dann wird es schrecklich. Dann werden die Rechte queerer Menschen noch mehr beschnitten. 

In Russland können sich Menschen aus der LGBTQ-Community nicht frei ausdrücken, zudem gibt es dort nur sehr wenige Safe Spaces. Du kannst gegenüber deiner Familie und deinen Freunden nicht offen zu deiner Identität stehen, weil du immer in Angst lebst und einen Teil von dir unterdrückst.

Eine junge Frau mit Wollmütze, rötlichen Haaren und dicker Jacke ist in eine Ukraine-Flagge gehüllt und hält einen Strauß Blumen in der Hand

Maria Tsyupko, 18: "Wenn die russischen Truppen weiter vorrücken, wird es viel mehr Homofeindlichkeit geben"

Als queere Ukrainerin habe ich nicht nur wegen meiner sexuellen Identität, sondern auch wegen der ganzen Situation Angst. Ich werde aber von allen Seiten unterstützt. Viele Leute aus meinem Umfeld haben mir geschrieben, dass ich in jedem Fall auf ihre Hilfe zählen könne. Das macht mich stolz und gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Gleichzeitig schäme ich mich total, dass ich gerade nicht in der Ukraine sein und helfen kann.

Ich habe viel mit meinen queeren Freundinnen und Freunden dort gesprochen. Im Moment sind sie in Sicherheit, aber wenn die russischen Truppen weiter vorrücken, wird es viel mehr Homofeindlichkeit geben. Die Ukraine – und vor allem Kiew – ist ziemlich fortschrittlich und meiner Meinung nach auch relativ tolerant. Aber jetzt befürchten wir, dass Russland mit seiner Anti-LGBTQ-Mentalität uns allen in der Ukraine schaden wird.

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