Sabrina, Überlebende des Anschlags in Halle steht vor einer Synagoge, das Bild ist gezeichnet
Illustration: Daniela Sonnabend
Menschen

Terror in Halle: Wie Sabrina eingeschlossen in der Synagoge auf den Tod wartete

Ein Amerikaner knotete die Bettwäsche des Rabbis zu einem Seil, jemand rief seinen Babysitter an.

Als Stephan Balliet mit seiner selbstgebauten Maschinenpistole vor der Tür steht, um sie zu töten, klingelt Sabrinas Handy. Sie nimmt ab.

Es ist Johanna, eine Freundin aus Berlin, die anruft, um ihren Frust über diese eine "wirklich ätzende Bitch" im Büro abzulassen. Als Sabrina einige Minuten später auflegt, hat sie den Terroristen vor der Synagogentür nicht erwähnt; auch nicht den Knall, den sie gehört hat, den Rauch im Hauptraum, das kleine Zimmer, in dem sie sich verstecken und darauf warten, dass er sie findet – oder die Polizei.

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Es habe sich einfach nicht real angefühlt in diesem Moment, sagt Sabrina. Sie sollte gar nicht dort sein, in dem muffigen Raum in Ostdeutschland, mit den alten Russen und den jungen Berliner Hippies. Sie war nicht einmal mehr religiös, ein ganzes Jahr hatte die 23-Jährige keine Synagoge mehr betreten. Und dann das.

"Ich weiß nicht, was uns jüdisch macht”, sagt Sabrina. "Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht nicht jüdisch sein kann".

In Gesprächen mit VICE erzählt Sabrina, wie sie den Anschlag und die Zeit danach erlebt hat. Wo immer es möglich war, haben wir ihre Geschichte verifiziert.

Sabrina

Sabrina kommt aus Philadelphia, Pennsylvania. Ihre Eltern sind aus der Ukraine emigriert, die Mutter ist Jüdin, aber nicht religiös. Sabrina merkt trotzdem, was es bedeutet, jüdisch zu sein.

"Die Menschen misstrauen uns. Sogar meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, benutzt manchmal dieses russische Wort für mich, das bösartig und hinterhältig bedeutet. Ich liebe sie trotzdem, ich rufe sie für Rezepte an."


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Sabrina findet, dass es ein bisschen esoterisch klingt, aber sie habe immer so eine spirituelle Sehnsucht gehabt: nach Transzendenz. Als Kind lernt sie Psalmen aus dem Internet auswendig und betet auf Händen und Füßen auf dem Küchenboden, in der Badewanne:

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"Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn."

Sie tritt dem muslimischen Schülerclub bei, weil es keinen jüdischen gibt, bestellt im Internet ein Hijab, ein Kopftuch, und probiert es heimlich vor dem Spiegel an. Nach der Schule will Sabrina weg aus den USA. In die Bewerbung für die Al Akhawayn Universität in Marokko habe sie geschrieben: "Ich will konvertieren und in einem Land Leben, das den Ramadan achtet."

Jerusalem

Weil das Geld nicht für den Flug reicht, landet sie in Israel. Die Reise bezahlt das Kiruv ein Programm, das junge Juden aus der ganzen Welt nach Israel bringen soll. "Ich dachte, so spare ich 700 US-Dollar für den Flug nach Marokko", sagt Sabrina.

Aber Jerusalem gefällt ihr – eine ganze Stadt auf der Suche nach religiöser Erfüllung, nach Transzendenz. Alle haben ein geteiltes Ziel, eine gemeinsame Sprache, teilen ein Geheimnis.

Tagsüber geht Sabrina ins jüdische Seminar, liest, bis sie in der Exegese völlig versinkt. "Ich kann mich erinnern, dass ich einen Moment hatte, in dem ich manisch angefangen habe zu lachen. Der Rabbi fragte: Was ist los? Und ich sagte, ich könne es nicht erwarten zu sterben und bei Sara und Abraham zu sein."

Ihre kurzgeschorenen Haare lässt sie wachsen, sie trägt lange Röcke, an den Wochenenden geht sie auf religiöse Dates in Jerusalemer Hotellobbys, vermittelt von einem Rabbi. Sie sucht einen Shidduch, einen Ehemann. "Aber als Feministin war das echt hart, jemanden zu finden."

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Berlin

"Meinetwegen, aber erst machst du die Uni fertig", sagt ihre Mutter. Der Rabbi will, dass sie bleibt. "Hier hast du eine vielversprechende Zukunft als Ehefrau und Mutter vieler Kinder", sagt er zu Sabrina. Aber sie zieht zum Studieren nach Berlin.

Es dauert ein paar Monate, dann fragt sie sich nicht mehr so oft: Kann ich am Schabbat diesen Beutel tragen, diesen Lichtschalter drücken? Sie sortiert die langen Röcke aus, rasiert sich die Schläfen und färbt die Haare pink. "Eines Tages aß ich Schweinefleisch. In Jeans. An der Bushaltestelle vor der Synagoge. Am Schabbat. Und ich dachte: Das war’s. Ich bin frei." 

Durch den Zuzug junger Israelis ist das jüdische Leben in Berlin quicklebendig. Es gibt queere jüdische Lesekreise und junge Aktivistinnengruppen. Das Leben ohne Transzendenz kommt Sabrina so grau vor. Sie lernt ein junges Rabbiner-Paar kennen, trifft sich zum Schabbat-Essen und lässt sich schließlich überreden, Jom Kippur in einer Synagoge zu feiern.

Im Rest von Deutschland ist das jüdische Leben anders. "Verwittert", sagt Sabrina. "Höchstens an Feiertagen sind die Synagogen besucht, und dann sind sie voller alter Menschen.

Also hat das junge Rabbiner-Paar eine Reisegruppe nach Halle an der Saale organisiert, wo gemeinsam mit der ostdeutschen Gemeinde gefeiert werden soll. 

Der Ausflug ist beliebt und die Plätze schnell vergeben. Sabrina zögert lange, bevor sie zusagt. "Aber nur, wenn ich Hosen anziehen und wie eine Lesbe aussehen darf." Sie fährt mit.

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Jom Kippur

Am Tag, bevor Stephan Balliet mit einer selbstgebauten Maschinenpistole Sabrina töten will, hat sie Liebeskummer. Gleich doppelt. Mit einem Typen Schluss gemacht und mit einem anderen etwas Loses angefangen. 

Es ist der 8. Oktober 2019, es regnet und Extinction Rebellion legen Berlin lahm. Sabrina steht an der Siegessäule, blockiert die Straße und brüllt Parolen für das Klima. Sie ärgert sich, dass sie zugesagt hat, später nach Ostdeutschland zu fahren. 

Sie verpasst den Bus. "Ich glaube nicht, dass es eine höhere Macht war, die mich davon abhalten wollte. Ich weiß eigentlich, wo der Flixbusbahnhof ist." Als sie im nächsten Bus sitzt, tippt sie lange, emotionale WhatsApp-Nachrichten an ihre Affäre: "Ich brauche meinen Freiraum, du klammerst zu sehr." Sie ist nicht in Feierstimmung.

Gegen halb acht steigt Sabrina in Halle aus dem Bus, da ist es bereits dunkel und nieselt. "Das ist ein schlechtes Zeichen, denn der jüdische Tag startet am Abend. Das bedeutete also, dass Jom Kippur schon begonnen und ich den ersten Teil verpasst hatte. Wäre ich noch religiös gewesen, hätte ich eine Scheißangst gehabt." 

Jom Kippur bedeutet, dass die Himmelstore weit offen stehen. Sabrina steht kurz davor, Gott zu treffen, der ihr Vater ist und noch dazu der Richter des kompletten Universums. Sie sollte fasten, nichts mit sich tragen und an nichts Irdisches denken. 

Stattdessen isst Sabrina am Bahnhof noch ein Halloumi-Sandwich, stapft mit ihrem Rucksack zum Hotel, vertieft in den WhatsApp-Chat mit der Affäre. Endlich an der Synagoge angekommen, ist die Haupttür zu.  

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"Ich dachte nur: Fucking hell!"

Ein Sicherheitsmitarbeiter, wie sie viele Synagogen in Deutschland haben, lässt sie rein. Sabrina ist viel zu spät und muss sich ganz nach hinten setzen. Alle tragen weiß zu Ehren von Jom Kippur. Eine spanische Wand trennt Männer und Frauen. Sabrina trägt weiße Cargo-Hosen und einen lila Undercut, alle Blicke liegen auf ihr. "Es gibt in der jüdischen Gemeinde diese Vorsicht vor Fremden. Vielleicht liegt es am Holocaust. Wenn du reinkommst, musst du zeigen, dass du dazugehörst."

Aber Sabrina weiß, was zu tun ist, sie greift nach der richtigen Siddur, dem Gebetsbuch, nimmt die korrekte Haltung ein, sagt Hallo zu ihren Berliner Bekannten, aber nicht zu laut, schlägt das Buch auf der richtigen Seite auf. Nur denkt sie dabei: "Was mache ich hier? Hänge mit alten Russen hinter einem Vorhang rum."

Die Freundin neben ihr singt sehr laut. Sie flüstert Sabrina zu, dass sie als einzige neben dem Kantor den Text kenne. Aber nach dem Prinzip Kol Isha dürfen religiöse Männer beim Beten keine Frauenstimme im Ohr haben. Also wird der Kantor ständig lauter. Die Freundin und der Kantor brüllen sich an, einige Männer stimmen mit ein, dann die Frauen. 

"Und am Ende war da dieser super laute Chor, der ein sehr repetitives Lied sang. Ich war so glücklich. Da war dieses religiöse Gefühl wieder. Es war, wie nach Hause zu kommen."

Auf dem Rückweg ins Hotel sind die Berliner Jüdinnen aufgekratzt vom Singen und Fasten. Sabrina erzählt ihrer Freundin von der Trennung und der nervigen Affäre. Sie weiß nicht, ob er geantwortet hat, denn auf ihr Handy darf sie nicht mehr schauen, schließlich ist Jom Kippur. Sabrina ist beseelt und glücklich.

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Stephan

Am Morgen des Anschlags überlegen Sabrina und ihre Freundin noch, wie daneben es wäre, trotz Fastenzeit im Hotel zu frühstücken. "Dann dachten wir: OK, wir ziehen das jetzt durch."

Nach dem Abend haben die alten Russen die seltsamen jungen Berliner akzeptiert, denn sie hatten sich benommen und Leben in die Gemeinde gebracht. "Vielleicht war es das Wettsingen?", überlegt Sabrina. "Es gibt nichts schlimmeres als eine trockene, melancholische Synagoge."

Im Hauptraum der Synagoge tanzen sie mit der Mechitza, der spanischen Wand, die Männer von Frauen trennt. "Wir schieben sie auf, die schließen sie. Wir schieben sie wieder auf, die schieben sie zu", sagt Sabrina. Es ist nicht zu leer, aber auch nicht überfüllt. Die alten Russen, die Jungen aus Berlin: Es ist eine bunte Gruppe, die ohne Jom Kippur nie zusammengekommen wäre.

Dann ist es Zeit zu singen. Sabrina und ihre Freundin zeigen sich in der heiligen Schrift gegenseitig schöne Sätze. Die anderen beten, dabei wiegen sie vor und zurück oder kreisen mit dem Oberkörper. Wer die Bücher auswendig kann, schließt die Augen. Manche sind auch weggedöst oder tippen heimlich auf dem Handy.

Gegen Mittag soll es eine Pause geben. Die Gläubigen gehen normalerweise nach Hause und halten einen kleinen Mittagsschlaf. Aber es kommt anders.

Sabrina erinnert sich:

"Da war ein Knall." Sie hat erst keine Angst, denn einmal hatte jemand an Jom Kippur auf der anderen Seite der Mechitza einen Krampfanfall. "Genau so war das Geräusch." Einige der Berliner sehen erschrocken aus. Jemand schiebt sich unter eine der Bänke. 

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Dann ruft eine Frau: Oh, da ist Rauch. Sabrina steht und wundert sich. Niemand weint, niemand rennt zur Tür, wie sie es aus Erzählungen von Terrorangriffen in Flughäfen oder Schulen kennt. Es ist Bewegung im Raum, aber kein Chaos.

Als sich mehr Menschen, auch ihre Freundin mit der schönen Stimme, unter die Bänke ducken, lässt sich Sabrina zu Boden fallen. "Ich erinnere mich nicht an die Geräusche, nur an dieses Gefühl: Jetzt trifft es uns."

Sabina weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Dann kommt der Sicherheitsmitarbeiter, der sie am Abend zuvor in die Synagoge gelassen hatte, spricht mit einigen der Männer. Der Attentäter war nicht durch die schwere Tür gekommen.

"Irgendwann, und das fühlte sich viel zu spät an, drehte sich der Kantor um und rief auf Englisch oder Russisch oder vielleicht Deutsch: Rennt!"

Johanna

Die Gruppe soll sich in einem Nebenraum verstecken. "Ich erinnere mich, dass ich in dem Moment dachte, wir sollten ruhig bleiben und die alten Leute vorgehen lassen, damit es nicht wie beim Black Friday bei Best Buy ist."

Der Raum ist ein Gästezimmer des Rabbis. Es steht eine Pritsche darin. Sabrina sieht, wie ein Amerikaner anfängt, aus der Bettwäsche des Rabbis ein Seil zu knüpfen, damit sie aus dem Fenster entkommen können. Ein Paar versucht, seine Babysitterin anzurufen, die mit dem Kind auf dem Weg zur Synagoge ist. Aber sie geht nicht ans Telefon. Jemand hat ein Gerücht gehört: Es seien nur Kinder draußen mit Feuerwerk.

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Sabrina beginnt ein Gespräch mit einer jungen Frau:

"Was machst du in Deutschland?"

"Ich mache einen Doktor in Naturwissenschaften."

Total cool, so als Frau, habe sie gedacht. Der Rabbi erteilt die Erlaubnis, die Handys zu benutzen. Alle lesen die Nachrichten, langsam tröpfeln Informationen und Gerüchte in den Raum. Ein Schütze, nein drei. Ist er noch draußen? Ist die Polizei unterwegs?

In diesem Moment klingelt Sabrinas Handy. Ihre Eltern lesen kein Twitter, die können es nicht sein, habe sie gedacht. Dann spricht sie mit Johanna.

Fastenbrechen

Sie warten. Es heißt, die Polizei sei angekommen.

Irgendwann fällt jemandem ein, dass Minhah ist: Zeit für das Nachmittagsgebet. Fast alle 51 Jüdinnen und Juden stellten sich nach Osten und beginnen das Gebet. 

"Wir waren glücklich, haben richtig gesungen und getanzt. Und diese alte russische Frau hat gesagt: Das ist es, was uns Juden immer wieder überleben lässt."

Als die Polizei das OK gibt, die Synagoge zu verlassen, habe eine ältere Frau gefragt, ob sie heimgehen kann, um Mittagessen zu kochen. "Die kennen den Antisemitismus aus der Sowjetunion, die müssen gedacht haben: OK, dann wollte uns eben wieder ein Irrer erschießen, trotzdem habe ich Gäste", sagt Sabrina.

Die 51 Jüdinnen und Juden wurden in einen Bus gesteckt, sagt Sabrina. Aus dem Fenster sieht sie Schaulustige und Journalisten, die fotografieren und starren. Mit ihnen im Bus sitzen zwei Sozialarbeiter mit besorgten Gesichtern – und eine schweigende Nonne.

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Jemand beginnt wieder zu singen.

Der Bus setzt sich in Bewegung zum Krankenhaus. Es heißt, sie sollen in der Cafeteria warten. Immer wieder bietet jemand Bananen an. Nein danke, habe Sabrina gesagt, aber könnten wir an einem Ort warten, der nicht nach Currywurst riecht? Da bleibe nur die Kapelle – und die sei voller Kreuze. 

Dann ist Neïlah. Ausgerechnet derjenige unter ihnen mit der kreischendsten Stimme ist der einzige, der die Gebetstexte kennt. Er beginnt zu singen, die anderen, vor allem die Berliner, stimmen ein. "Aus dem tiefsten Herzen haben wir gebetet. Es war die Art von Gebet, bei der du deine physische Existenz vergisst."

Einige der alten Russen bitten die jungen Leute, bitte etwas leiser zu sein. Dann ist Jom Kippur vorbei, jemand hat koschere Sandwiches und Hummus aus der Synagoge mitgebracht. 

Sabrina ist zu diesem Zeitpunkt auf Autopilot. Sie müsse zum Bus, habe sie gesagt. Die Gruppe protestiert, aber sie geht. An der Tram-Haltestelle beschwert sich jemand über die ausgefallene Bahn.

Am Busbahnhof ruft Sabrina die Affäre an, um den Streit über Grenzen und Freiraum fortzusetzen. Den Anschlag erwähnt sie nicht. Der Bus fährt ohne sie, Sabrina nimmt den Zug. Zu Hause schläft sie sofort ein.

Danach

Am Tag nach dem Anschlag geht Sabrina zur Arbeit. Eine Woche nach dem Anschlag treffen sie sich zum Schabbat-Essen in Berlin. Sabrina geht vor dem Hauptgang, ihr ist das alles zu viel.

Sechs Wochen nach dem Anschlag gibt sie ihre Bachelorarbeit ab, das Thema: "Die Seele in Ibn Rushds Interpretation von Aristoteles". Sie sagt Johanna nicht, dass ein Neonazi sie ermorden wollte, als sie telefonierten.

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Heute hat Sabrina manchmal Momente, in denen ihr Kopf neblig wird. "Vielleicht liegt es am B12, am Berliner Herbst oder am veganen Essen", denkt sie dann. Als sie wegen des Kopfnebels einige Tage freinehmen muss, fühlt sich das falsch an.

"Ich dachte: Was ist mir schon passiert? Zwei Menschen sind tot. Ich war nur in einer Synagoge eingesperrt." Einige Monate später reist Sabrina nach Israel. Eine Freundin fragt sie: "Wer waren diese schamlosen Juden, die nach dem Anschlag in Halle fröhlich gesungen haben, obwohl jemand gestorben war?"

Jemand aus der Gruppe der 51 veranstaltet ein spezielles Schabbat-Abendessen, das nur geben darf, wer wie durch ein Wunder etwas überlebt hat. "Nur wenige Menschen bekommen im Leben diese Gelegenheit", sagt Sabrina. Zwei deutsche Mädchen sind eingeladen, sie weinen. "Warum weint ihr?", habe Sabrina wütend gefragt. "Warum ihr?"

Es gibt noch einige dieser Abendessen und eine Gruppentherapie, von der Sabrina nicht viel hält. Viele Überlebende aus der Synagoge treten im Prozess als Nebenklägerinnen auf. Nicht alle, der Amerikaner mit dem Bettlaken-Seil fehlt. Er sei wohl zurück in die USA gegangen, hat jemand gehört.

Als sie ihre Familie in Philadelphia besucht, erzählt sie es ihrem Stiefvater im Auto auf dem Weg zum Einkaufszentrum. "'Ich war übrigens bei einem Anschlag in einer Synagoge, jetzt muss ich zum Prozess', habe ich ihm gesagt. Er antwortete: 'Damn, Sweetie!'" Dann gehen sie Winterschuhe kaufen.

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Der Prozess

Erst als sie im Juli 2020 in Magdeburg im Gerichtssaal sitzt, kommt Sabrina zu sich, schaltet den Autopiloten aus und versteht zum ersten Mal, was passiert ist.

Dass sich Stephan Balliet, 28, mit einer Pistole, jeweils zwei selbstgebauten Schrotflinten und zwei Maschinenpistolen mit Teilen aus dem 3D-Drucker nach Halle aufmachte, um am höchsten jüdischen Feiertag einen Massenmord an Juden zu begehen. Dass er stattdessen die Passantin Jana Lange erschoss, weil sie ihm widersprach, und Kevin Schwarze, weil er in einem Dönerimbiss stand.

Am zweiten Prozesstag wird Stephan Balliets Helmkamera-Stream gezeigt. Er sagt auf Englisch: "Feminismus ist die Ursache für den Rückgang der Geburtenrate im Westen, die als Sündenbock für die Massenimmigration dient." Feministinnen, Migranten, Juden, darauf hatte er es abgesehen. "Auf mich", denkt Sabrina.

Jeden Abend nach dem Prozess kommt der Nebel zurück, schlimmer als vorher. Trotzdem kommt Sabrina zwei Wochen lang zum Prozess.

Sabrina will kein Opfer sein. Das Magdeburger Landgericht räumt den Betroffenen ungewöhnlich viel Redezeit ein. Sabrina bereitet sich akribisch vor, liest Bücher und recherchiert. Im Gerichtssaal spricht sie dann über strukturelle Diskriminierung.

Dass Synagogen nicht sicher seien, solange Moscheen und Shishabars nicht sicher sind. "Es hat sich angefühlt, als müssten wir Nebenkläger dem Gericht zeigen, was wichtig ist. Dass das kein Einzelfall ist, sondern ein Muster, und dass Rechtsterror weitergehen wird."

Einmal darf Sabrina eine Frage stellen, an den Schwager von Stephan Balliet. "Was machen Sie, damit Ihre Kinder keine Nazis werden?", habe sie gefragt. Er habe gesagt, das wisse er nicht. Er frage sich das selbst jeden Abend. "Und ich dachte: Was für ein Bullshit. Das ist ja nun wirklich nicht so schwer."

Sabrina nennt den Täter beim Vornamen, als würden sie sich kennen: Stephan. Einmal, als Stephan im Prozess über Klassen spricht, wie unfair es sei, dass die Armen ärmer werden und die Reichen reicher, da habe sie zustimmen wollen. Sabrina hält nichts von Gefängnissen. "Es ist schwer, jemanden angekettet zu sehen, auch wenn er versucht hat, dich zu töten."

Ein anderes Mal habe sie Erdnüsse gegessen und dabei Stephan Balliet angestarrt. Er schaute zurück, also habe sie gezwinkert und ihm von der anderen Seite des Raums aus eine Handvoll Nüsse angeboten. Sabrina ahmt sein erschrockenes Gesicht nach und lacht dabei so sehr, dass sie vom Stuhl gleitet und ihr Gesicht aus dem Ausschnitt der Webcam rutscht. 

Am Ende, sagt sie, gehe es gar nicht darum, wie lange Stephan ins Gefängnis kommt oder welche Waffe er benutzt hat. "Es geht darum, was jeder da im Saal macht, damit unsere Kinder keine Nazis werden."

Sabrina lebt noch in Berlin. Sie macht jetzt eine Ausbildung zur Tänzerin. "Seit das passiert ist, will ich eigentlich nur weit weg und mich an einen Strand legen. Aber weil ich dabei war, kann ich vielleicht etwas tun."

Einmal begegnet ihr in der U-Bahn an der Station Schönleinstraße ein Typ. Sie sehen sich in die Augen, lächeln und grüßen. "Woher kenne ich den?", denkt Sabrina. Erst als sie aussteigt, fällt es ihr ein: aus Halle. Es ist der Amerikaner, der das Seil geknüpft hat.

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Update 20. August 2020, 19.02 Uhr: Sabrina hat dem Schwager, nicht dem Bruder von Balliet im Gerichtssaal eine Frage gestellt. Wir haben das korrigiert.