Drogen

Wie die Türkei zum Drehkreuz des Kokainhandels wurde

Auch die Regierungspartei AKP von Recep Tayyip Erdoğan soll für die aktuelle Situation mitverantwortlich sein.
Max Daly
London, GB
Ein Polizist mit Drogenspürhund vor einem Stapel Bananenkisten auf einem Hafengelände. Die Türkei ist zu einem wichtigen Transitland im weltweiten Kokaingeschäft geworden.
Türkische Beamte bei der Beschlagnahmung von 615 Kilo Kokain, das im Hafen von Mersin in Bananenkisten versteckt war | Foto: Mustafa Gungor/Anadolu Agency/Getty Images

In der Welt des internationalen Drogenhandels war die Türkei bislang vor allem als Drehscheibe für Heroin von Afghanistan nach Europa bekannt. Eine aktuelle Recherche von InSight Crime, einer gemeinnützigen Investigativ-Organisation, zeigt, dass kriminelle Gangs in der Türkei jetzt auch zunehmend am Kokainhandel beteiligt sind. Aufgrund der vielen Beschlagnahmungen in Westeuropa seien südamerikanische Kokainproduzenten auf der Suche nach einer neuen Ost-Route gewesen, heißt es in dem Bericht.

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Die türkischen Gangs hatten wiederum ihre Gründe, ins Kokaingeschäft einzusteigen: Wegen fallender Preise sind die Einnahmen aus dem Heroinhandel zurückgegangen, während in Osteuropa und dem Nahen Osten die Kokainnachfrage steigt. Außerdem pflegen türkische Kriminelle – auch die nationalistischen Grauen Wölfen – enge Kontakte zu südamerikanischen Kartellen.


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Inzwischen würden türkische Banden eine wichtige Rolle beim Kokainschmuggel in noch wenig erschlossene Drogenmärkte wie Russland, den Balkan und den Persischen Golf spielen, heißt es in der Recherche. 

Die Menge des in der Türkei oder auf dem Weg dorthin beschlagnahmten Kokains ist in den vergangenen Jahren merklich gestiegen. Zwischen 2017 und 2021 hat sich das Gewicht des sichergestellten Kokains in der Türkei von 1,4 auf 2,8 Tonnen verdoppelt. Knapp fünf Tonnen wurden auf dem Weg vom kolumbianischen Hafen Buenaventura in die Türkei entdeckt. 

Weitestgehend ausgeschlossen vom Kokainhandel in Westeuropa, den italienische und albanische Verbrechensorganisationen dominieren, befinden sich die türkischen Schmuggler günstig zwischen Europa und dem Nahen Osten. Laut den von InSight Crime interviewten Experten schicken sie rund 60 bis 70 Prozent ihrer Ware an den Persischen Golf, 30 Prozent gehen in Balkanländer, den Kaukasus und vor allem nach Russland. In diesen Ländern sind bislang vor allem günstigere synthetische Substanzen verbreitet wie Mephedron, Speed und Captagon.

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Weitere Funde zeigen, dass die Droge auch in den Norden der Türkei durch Rumänien, Moldawien, Georgien und Armenien geschmuggelt wird.

Laut den von InSight Crime interviewten Experten ist der mit Abstand profitabelste Kokainmarkt allerdings der Persische Golf – insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Obwohl dort im Vergleich zum Westen wenig konsumiert wird, macht die Seltenheit Kokain in diesen Ländern zu einer teuren Droge, die erfolgreichen Schmugglern hohe Gewinne einbringt. In Saudi-Arabien kostet ein Gramm Koks 500 US-Dollar, also ungefähr 500 Euro. Zum Vergleich: In Deutschland kostet ein Gramm 70 bis 100 Euro.

Ein Teil der Drogen kommt über den See- oder Luftweg aus der Türkei an den Persischen Golf, der Rest über eine neue Schmuggelroute: von der Türkei per Lastwagen durch den Irak und die Große Arabische Wüste, die sich über weite Teile Saudi-Arabiens erstreckt. Laut InSight Crime hatten syrische Drogenschmuggler, die vom Bürgerkrieg im eigenen Land vertrieben worden waren, die Route aufgebaut. Sie übernahmen dann den Bananenhandel in der südtürkischen Hafenstadt Mersin, um kiloweise Kokain in Lebensmittellieferungen zu verstecken. 

Wie InSight Crime berichtet, hat auch die Regierungspartei AKP von Recep Tayyip Erdoğan die aktuelle Situation maßgeblich begünstigt. 2013 gab es in der Türkei einen großen Korruptionsskandal, an dem rund 50 AKP-Mitglieder beteiligt gewesen sein sollen, darunter auch drei Söhne von Kabinettsmitgliedern. Als Reaktion auf die Anschuldigungen entließ Erdoğan Hunderte Polizisten, inklusive der Leiter der Abteilungen zur Bekämpfung von organisiertem Verbrechen, Schmuggel und Wirtschaftskriminalität.

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"Fast alle aus der Drogenbekämpfungseinheit – etwa 8.000 Polizeibeamte – verloren ihre Jobs … über 95 Prozent des Personals", wird der Experte Mahmut Cengiz in der InSight Crime-Recherche zitiert. Die Regierung habe auf diese Weise das institutionelle Gedächtnis zerstört, sagte er. 

Der Putschversuch 2016 habe die Entwicklung weiter begünstigt, in dessen Folge weitere Mitarbeiter von Strafverfolgungsbehörden entlassen wurden, so Cengiz weiter. "Nach 2016 beteiligten sich immer mehr Staatsanwälte, Richter, Militär und Polizeibeamte am Kokainhandel."

2021 veröffentlichte der verurteilte türkische Kriminelle Sedat Peker von seinem Wohnsitz in Dubai aus mehrere Videos, in denen er AKP-Mitglieder beschuldigt, mit Kokain zu handeln und Morde zu begehen. Die Anschuldigungen schlugen in der Türkei große Wellen. Einen Monat später stellten Beamte im Hafen von Mersin 1,3 Tonnen Kokain sicher, die größte je in der Türkei beschlagnahmte Menge. Laut InSight Crime zweifeln allerdings zahlreiche Beobachter an, dass es sich hier um einen Zufallsfund gehandelt habe.

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