Menschen

Wie spießiges Spazieren zum absolut Besten wurde, das du gerade tun kannst

Meine Schrittzählerapp und das Versprechen eines baldigen Impfstoffs wirken gerade etwa gleich beruhigend.
Die Autorin am Handy in der Natur neben einem Fußabdruck in der Erde; Wie mich Corona zur Spaziergängerin gemacht hat
In dieser Serie berichten wir über das Lockdown-Leben: Über Stimmungen und Hoffnungen und über alles, was wir vermissen.

Es ist nie zu früh, sich an die klassischen Hobbys fürs Rentenalter heranzutasten. Der Lockdown scheint wie die perfekte Zeit dafür. Ich gehe spazieren und manchmal verschränke ich sogar meine Arme hinter dem Rücken. Auf dem Nachhauseweg mache ich kurz Pause auf dem Platz in der Nähe meiner Wohnung. Dann sitze ich da, mir gegenüber eine Gruppe alter Männer, die ihre Hände desinfizieren, um sich dann beim Verabschieden zu highfiven. 

Anzeige

Die Antwort "Mach doch eine Runde um den Block" ist in meiner WG erst während Corona zur Standardantwort geworden auf die Aussage "Ich bin schon wieder schlecht gelaunt." Spazieren gehen ist unser Allheilmittel.

Nicht weit entfernt von meiner Wohnung ist eine Firma, die sich Safety Company nennt. Draußen gibt es einen Zähler, über dem steht "wir arbeiten unfallfrei seit". 594 Tage sind es mittlerweile. Wenn ich spaziere, gehe ich daran vorbei, um mir zu beweisen, dass die Zeit vergeht. Der Lockdown ist ein einziger Sumpf aus ewigen Tagen, schlechter Laune und Maskenpickeln. In dieser Eintönigkeit fühle ich mich manchmal nicht mehr wie ich selbst. Als hätte jemand die Welt ausgetauscht und dabei vergessen, mich auch auszutauschen.

Die Welt scheint sich angepasst zu haben an dieses neue Leben. Ich nicht ganz. Die Leere überfordert mich oft. Ich denke an den Mann mit Hund, den ich früher oft auf meinem Schulweg gesehen hatte. Als ich während des ersten Lockdowns für eine Woche zu meinen Eltern flüchtete, begegnete ich nach dem Einkaufen auf dem Weg nach Hause diesem Mann. Den Hund scheint es aber jetzt nicht mehr zu geben. Der Mann sah nicht mehr ganz aus, so wie er ohne Hund an unserem Quartierladen vorbei ging. Ich frage mich, ob ich auch nicht mehr ganz aussehe, ohne Orte, die mein Ziel sein könnten und Dinge, die ich zu tun haben könnte.

Anzeige

Auch bei VICE: Die krassesten WG-Storys von Berlinern


Mit Spazierengehen halte ich gegen dieses Gefühl. Ich will während des zweiten Lockdowns ohne schlechtes Gewissen planlos sein. Nun ist es nämlich auch für die Leute, die den ersten Lockdown im Zeichen der Selbstverbesserung gelebt haben, an der Zeit, den zweiten Lockdown richtig zu verbringen: Wenn alle Orte, die man als Ziel haben könnte, geschlossen sind, dann ist es nur richtig, etwas Sinnbefreites zu tun. Spazierengehen ist die ultimative Form der Akzeptanz. Ich finde mich damit ab, dass gewisse Aktivitäten meines Alltags keinen Grund brauchen. Denn manchmal geht es mir in der Lockdown-Monotonie nur darum, den Tag hinter mich zu bringen. Spazieren, beim Finanzamt anrufen und feststellen, dass die Warteschleifenmusik besser ist als bei Check24, darüber nachdenken, Crunches zu machen und sich dagegen entscheiden. 

Manchmal rufe ich beim Spazieren meine Großmutter an und sie erzählt mir, was sie heute gekocht hat. Dann frage ich sie, welche Zutaten in die Kekse reinkommen, die sie mir geschickt hat. Sie erklärt mir, wie man Pistazien-Sablés zubereitet und ich vergesse es direkt wieder. 

YouTube-InPostBanner-Schnitzel.jpg

In dieser Situation, gegen die man nichts tun kann, außer die eigenen Freunde nur noch anzurufen, statt zu treffen, ist Spazieren das Einzige, was mir das Gefühl gibt, dass ich mich zurecht finde, dass ich noch unter Kontrolle bin. 10.000 Schritte gegen das Ohnmachtsgefühl. Wenn die Infektionszahlen nach einer kurzen Senkung wieder nach oben schießen, bin ich froh, dass es noch Zahlen gibt, die ich kontrollieren kann. Meine Schrittzählerapp und das Versprechen eines baldigen Impfstoffs wirken gerade etwa gleich beruhigend.

Wenn es dunkel ist, dann gehe ich durch mein Viertel und schaue mir die Häuser mit Balkons an, durch deren Fenster man tagsüber den Stuck sehen kann. Und wenn da das Licht aus ist, rege ich mich über die Bewohner auf, die in einem so schönen Haus wohnen und dann trotzdem die Dreistigkeit besitzen, nicht zu Hause zu sein. Jetzt ist die Luft in Berlin nachts so kalt, dass ich mir die Maske wieder über die Nase ziehen muss. Spazieren mit Maske ist super. Weil es keiner sehen kann, lipsynce ich darunter zu Whole Again von Atomic Kitten.

Folge Anna auf Instagram und VICE auf Facebook, InstagramYouTube und Snapchat.