Eine Straßenschlacht, schwarz gekleidete Menschen werfen brennende Molotwcocktails, der Tod von Yvan Colonna hat auf Korsika zu heftigen Protesten geführt
FOTO: PASCAL POCHARD-CASABIANCA/AFP via Getty Images
Politik

"Vielleicht werfe ich eine Granate": Die Insel, die sich von Frankreich abwendet

Der Mord an dem korsischen Nationalisten Yvan Colonna hat ihn zu einer Art Che Guevara gemacht und heftige Proteste auf der Insel ausgelöst.

Als Arthur Solinas auf die Welt kam, saß sein Idol bereits hinter Gittern. Trotzdem erzählt er die Geschichte von Yvan Colonna, als hätte er ihn persönlich gekannt.

"Ich gehöre zu einer Generation, die mit Colonna aufgewachsen ist", sagt Solinas. "Für uns ist er ein Symbol des Widerstands, ein Symbol für die Ungerechtigkeit – und vor allem ein Symbol des korsischen Patriotismus."

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Der charismatische 19-Jährige ist Präsident von Ghjuventù Paolina, einer der größten nationalistischen Studierendenvereinigungen an der Universität Korsika Pasquale Paoli.

"Yvan war ein Symbol, jetzt ist er ein Held", sagt Solinas.

Ein junger Mann in Jeans und schwarzer Jacke vor einer Wand mit einem Graffiti au

Arthur Solinas | FOTO: Rebecca Rosman

Colonnas Beförderung vom nationalistischen Symbol zum korsischen Che Guevara geschah Anfang März, nachdem er im Gefängnis von einem Mithäftling, einem gewaltbereiten Dschihadisten, tödlich angegriffen worden war. Der Korse saß dort eine lebenslange Haftstrafe für den Mord an Claude Érignac ab. Korsikas Präfekt wurde 1998 auf offener Straße von einem Unbekannten erschossen. Nach dem Angriff auf Colonna kam es auf Korsika wiederholt zu Ausschreitungen. Nationalisten fordern Gerechtigkeit für Colonna und mehr Autonomie für Korsika oder gar die Unabhängigkeit von Frankreich. 

Seitdem sind Hunderte Menschen verletzt worden, darunter auch Dutzende Polizistinnen und Polizisten. Für den amtierenden französischen Präsidenten Emmanuel Macron kamen die Ausschreitungen angesichts der aktuellen Wahlen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

Auf dem französischen Festland war die Wahlbeteiligung mit 73,7 Prozent bereits gering, aber auf Korsika, einer Insel mit 350.000 Einwohnern, lag sie in beiden Departements unter 60 Prozent. Die meisten Stimmen bekam die rechtsextremistische Kandidatin Marine Le Pen. Viele Korsinnen und Korsen sind der Meinung, dass die Politik auf dem Festland nur von den Problemen auf der Insel ablenke.

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"Ob es Macron, Le Pen oder irgendjemand anderes wird, die sind alle gleich", sagte Solinas noch vor der Wahl.

Ein Gebäude mit gelber Hauswand, auf dem mehrere Graffiti und Stencils aufgesprüht sind

FOTO: REBECCA ROSMAN

Korsika wurde zum ersten Mal 1769 und dann wieder 1796 von Frankreich annektiert, viele Bewohner sehen Frankreich weiterhin als Besatzer. Geografisch und kulturell ist die Mittelmeerinsel Italien näher als dem französischen Festland. Auch die einheimische Sprache, Korsisch, ist eng mit dem Italienischen verwandt.

Innerhalb der Französischen Republik verfügt Korsika über einen Sonderstatus und hat ein eigenes Regionalparlament. Viele Korsinnen und Korsen fordern jedoch eine vollständige Autonomie, um mehr Kontrolle über Bildung, Wirtschaft und Gesundheitsversorgung zu haben.

Obwohl sie in Schulen gelehrt wird, ist korsisch nicht als offizielle Sprache anerkannt. Paris besteht darauf, dass Französisch die einzige Amtssprache der Insel bleibt.

Junge Menschen wie Solinas, die mit Korsisch als Muttersprache aufgewachsen sind, empfinden das als Leugnung ihrer Kultur.

"Wir sind mit korsischem Patriotismus aufgewachsen, nicht mit französischem Patriotismus", sagt er.

Seit dem Angriff auf Colonna haben nationalistische Gruppen auf Korsikas Straßen demonstriert. Ganz vorne mit dabei sind vor allem junge Menschen, die meisten unter 25.

"Wir sind mit dem Aufruf zum Protest aufgewachsen", sagt eine 24-Jährige, die in Korsikas Hauptstadt Ajaccio in einem Café am Hafen arbeitet.

Die Kellnerin, deren Namen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen, war sich nicht sicher, ob sie eher eine selbstgebaute Granate werfen oder einen Mülleimer in Brand setzen würde.

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"Vielleicht nehme ich die Granate", überlegte sie laut.

Gewalt sieht sie als gerechtfertigt. "Es ist notwendig. Seit Jahren stellen wir Forderungen und werden nicht gehört. Jetzt hört uns der Staat zu."

In Ajaccio und der Universitätsstadt Corte sind die Straßen voll mit Colonna-Graffiti. Es ist fast unmöglich, einen Block entlang zu laufen und nicht an Stencils mit seinem Porträt vorbeizukommen.

Daneben stehen Parolen, die sich teilweise direkt an Paris richten: "Statu Francese assasinu" – auf Deutsch etwa: Französischer Mörderstaat.

Thierry Dominici, ein Forscher an der Universität Bordeaux, der den Zusammenhang zwischen Nationalismus und der Radikalisierung der korsischen Jugend untersucht, sagt: "Sie sind von vielen Taktiken des Schwarzen Blocks inspiriert." 

Sie tragen schwarze Kleidung, vermummen sich und verstecken Stunden vor den angemeldeten Demonstrationen Wurfgeschosse an taktischen Plätzen verteilt in der ganzen Stadt, um sie bei Konfrontationen auf die Polizei zu werfen. 

Mitte März entdeckte die Polizei 350 bis 400 Molotowcocktails versteckt auf einem Parkplatz. 

Ein Mitglied der örtlichen Polizeigewerkschaft verurteilte die Gewalt, forderte Verstärkung vom Festland und sagte, man habe auf Korsika noch nie einen derartig vehementen urbanen Guerillakampf erlebt.

Wir haben ein Wochenende mit Tempelrittern verbracht

Etwa ein Dutzend junger Demonstrantinnen und Demonstranten gab gegenüber VICE zu, gewaltbereit zu sein. Eine andere Person sagte: "Würden wir es dir wirklich sagen, wenn wir die Leute wären, die die Granaten werfen?"

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Viele stellen die jungen Demonstranten als eine Gruppe Hooligans dar, die nur auf Gewalt aus sind. Ein Taxifahrer formuliert es so: "Die wissen nicht, warum sie protestieren. Die sehen nur eine Gelegenheit, die Schule zu schwänzen und Scheiße auf die Polizei zu werfen."

Diese Einschätzung sei nicht ganz fair, sagt Forscher Dominici. 

Ein Viertel der jungen Menschen auf Korsika hat Probleme, Arbeit zu finden. Die meisten sind gezwungen, Saisonarbeit für Mindestlohn zu machen. 

"Die verbreitete Jugendarbeitslosigkeit und die Umwelt bereiten ihnen Sorgen", sagt er. "Sie fühlen sich vernachlässigt." 

Korsika hat eine blutige Vergangenheit. Von den späten 1960ern bis Ende der 1990er plagte nationalistischer Extremismus die Insel. Die Gründung der Korsischen Nationalen Befreiungsfront FLNC 1976 ebnete den Weg für über 10.000 terroristische Akte und mindestens 40 Morde, inklusive dem an Érignac.

2014 legte die Organisation offiziell die Waffen nieder und die Hoffnung machte sich breit, dass die Zeit der Bombenanschläge, Morde und der extremen Gewalt vorbei sei.

Polizisten mit Helmen und Schilden unter Palmen

FOTO: PASCAL POCHARD-CASABIANCA/AFP via Getty Images

Als die nationalistischen Parteien 2017 die Mehrheit im Regionalparlament erhielten, glaubten viele, dass Paris dies endlich als Signal verstehen würde. Aber nichts passierte. 

"Es war eine echte Verweigerung von Demokratie", sagt der Nationalist Jean-Guy Talamoni, der von 2015 bis 2021 Vorsitzender des korsischen Regionalparlaments war. Diese Verweigerung, sagt er, habe zu einer neuen Welle der Frustration unter den nationalistischen Anhängern geführt. Diese habe schon vor dem Angriff auf Colonna zu brodeln begonnen. 

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Der heute 61 Jahre alte Talamoni war kaum ein Teenager, als er sich in den Siebzigern der FLNC anschloss. "Korsische Nationalisten waren damals definitiv eine Minderheit. Wenn es einen nationalistischen Protest an meiner Schule in Bastia gab, waren wir nur eine Handvoll."

Deswegen sei er auch besonders stolz auf das, was in den vergangenen Wochen auf den Straßen stattfindet. "Wenn es jetzt einen Streik an meiner alten Schule gibt, machen alle mit, die ganze Schule ist blockiert. Und das verdanken wir der Arbeit der FLNC. Der Kulturkampf wurde offensichtlich gewonnen."

Zwei Wochen nach dem Beginn der Proteste schickte Präsident Macron seinen Innenminister Gérald Darmanin nach Korsika. Während seines zweitägigen Besuchs gab er bekannt, dass Paris bereit sei, sich zum ersten Mal in der modernen französischen Geschichte mit einer möglichen Autonomie zu befassen – vorausgesetzt die Insel komme wieder zur Ruhe.

"Wir sind bereit, bis zu einer Autonomie zu gehen. Da haben Sie es, das Wort ist gefallen", sagte Darmanin der Regionalzeitung Corse Matin

Macrons politische Rivalen warteten nicht lange mit ihrer Kritik. Sie warfen ihm vor, den Eindruck zu vermitteln, dass taktisch eingesetzte Gewalt erfolgreich sei. 

"Erst wird ein Präfekt ermordet, dann die Autonomie versprochen: Könnte es eine katastrophalere Botschaft geben?", sagte die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, die gegen Macron in der Stichwahl antreten wird. "Ich lehne es ab, dass die zynische Vetternwirtschaft Emmanuel Macrons die territoriale Integrität Frankreichs zerstört: Korsika muss französisch bleiben." 

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In Korsikas Regionalparlament wurde eine Schweigeminute zu Ehren von Colonna abgehalten. Der 61-Jährige war drei Wochen nach dem Angriff im Gefängnis seinen Verletzungen erlegen.

Colonna polarisiert das Land schon lange. Für die Menschen auf dem französischen Festland war seine Verhaftung ein Zeichen der Gerechtigkeit. Für die Korsen aber wurde er zum Märtyrer für die nationalistische Sache.

Der Schüler Antonio Calisti, 16, sagt: "Er war ein großartiger Kämpfer für Korsika." Er habe durch seine Eltern und Lehrer von Colonna erfahren. "Er soll den Präfekten Érignac getötet haben, aber der Staat hat keine Beweise."

Eine Menschengruppe um einen Sarg, auf dem eine schwarz-weiße Flagge liegt, einige halten die korsische Flagge mit dem Maurenkopf auf weißem Grund hoch

Colonnas Beerdigung im März | FOTO: PASCAL POCHARD-CASABIANCA/AFP via Getty Images

Tatsächlich haben Fragen nach Colonnas Schuld den Fall lange begleitet.

Im Februar 1998 war Érignac auf dem Weg zu einem Klassikkonzert, als er von einem unbekannten Mann erschossen wurde.

1999 wurde Colonna schließlich zu einem der Hauptverdächtigen, nachdem mehrere Männer ihn in Verhören als Schützen genannt hatten. Später zogen sie allerdings ihre Aussagen mit der Bemerkung wieder zurück, sie seien unter Druck entstanden.

Nichtsdestotrotz erklärte man Colonna zum Staatsfeind Nummer eins. Nach mehreren Jahren auf der Flucht wurde er schließlich 2003 in einem Bauernhaus in den korsischen Bergen gefasst, wo er als Schäfer lebte. 2007 fiel das Urteil: lebenslange Haft. Den Großteil seiner Strafe musste er in Arles auf dem französischen Festland absitzen. Seine Anhänger forderten, ihn in ein Gefängnis auf Korsika zu verlegen. 

Inzwischen ist er eine Legende, die korsische Jugend von heute ist mit seiner Geschichte aufgewachsen. "Es gibt diese Machtumkehr. Jetzt sind es die jungen Menschen, die den Politikern sagen, wie sie reagieren sollen", sagt Thierry Dominici von der Universität Bordeaux. "Die ältere Generation sieht, dass die Hoffnung der jungen Menschen profitabler sein könnte – und sogar effektiver, wie manche meinen."

Auf die Frage, ob die neuste Protestwelle den Weg für eine neue, positivere Partnerschaft zwischen Korsika und dem Festland ebne, schüttelt FLNC-Veteran Talamoni den Kopf.

"Versöhnung kann es nur mit Gerechtigkeit geben", sagt er. "Auf die warten wir immer noch."

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