Sex

Die Geschichte von Paula, der rumänischen Sexarbeiterin

In Deutschland verdiente sie in fünf Jahren 400.000 Euro, geblieben ist ihr davon nichts.
Eine Collage von mit dem Rücken einer Frau, einem BMW und einem Bordellzimmer. Paula war aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um als Prostituierte zu arbeiten.
Symbolcollage || Zimmer: IMAGO / Petra Schneider || Auto: IMAGO / Jochen Tack || Frau: IMAGO / ingimage

Ich habe Paula nicht im Bordell kennengelernt. Ich bin tatsächlich nie in dem Bordell in Süddeutschland gewesen, wo sie fünf Jahre lang gearbeitet hat – im Alter von 23 bis 28. Sie hatte über fünftausend Kunden, irgendwann hörte sie einfach auf zu zählen. Hans, ein Ingenieur, war einer von ihnen. Sie haben geheiratet. Das ist ihre Geschichte.

Ich habe Paula  kennengelernt, weil ich für eine rumänische Zeitung einen Artikel mit dem Titel "Gute Huren" geschrieben hatte. Paula mochte ihn und schrieb mir eine E-Mail. Wir blieben in Kontakt und mit der Zeit erzählte sie mir von ihrem Leben.

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Paula stammt aus dem Schiltal im Südwesten Transsilvaniens. Die Region war früher einmal Rumäniens größtes Kohleabbaugebiet. "Der schönste Ort der Welt", sagt Paula. Trotzdem wird sie wahrscheinlich nie wieder dorthin zurückkehren. Heute lebt sie mit Hans und ihrer acht Monate alten Tochter Simona in einer deutschen Kleinstadt. Sie seien glücklich, sagt Paula.


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Paulas Mutter ist Hausfrau. Ihr Vater hatte früher für einen Bergbaubetrieb gearbeitet, wurde aber mit der Zeit zum Trinker. Er starb an einer Leberzirrhose. Paula hat noch einen älteren Bruder, Mihai, der als Lastwagenfahrer in ganz Europa arbeitet. In den fünf Jahren war ihre allergrößte Angst, dass Mihai durch die Bordelltür tritt. Es ist nie passiert.

Es hat auch fünf Jahre gedauert, bis Paula mir erlaubt hat, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Wir sprechen über Zoom, während sie ihre Tochter im Arm hält. Hans ist unterwegs.

Wie Paula Sexarbeiterin wurde

Eine Freundin von Paula lebte schon länger in Deutschland und überredete sie, auch zu kommen. Sie war Sexarbeiterin. Nach und nach erzählte sie Paula, was alles zu dem Job gehörte. Paula war nicht besonders angetan, aber die Freundin verdiente 600 Euro am Tag, 100 davon gingen an den Chef.

Paula war 23, sie hatte an einer privaten Uni Jura studiert. Die Vorstellung, sich bereits nach nur einem Jahr Arbeit eine Wohnung und ein Auto leisten zu können, gefiel ihr. Sexarbeit schien ihr wie ein Schritt in eine bessere Zukunft – in die Unabhängigkeit.

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Das Bordell, in dem Paulas Freundin und dann auch Paula arbeiteten, hieß nicht Bordell, damit sich die Frauen, die dort arbeiteten, und die Männer, die es besuchten, besser fühlen. Es hieß FKK-Saunaclub. Es war ein sehr kleiner Club und kleine Clubs sind wie Dörfer: Du schließt schnell Freundschaften und genauso schnell machst du dir Feinde.

Der Club bestand nur aus einer Lounge, einer Sauna, einer Bar und den Zimmern, in denen die Frauen Geld verdienten. Und um Geld zu verdienen, brauchst du zufriedene Kunden. "Wie in jedem Job", sagt Paula.

Paulas Freundin war gut, sehr gut. Sie nahm ihren Kolleginnen sogar deren Stammkunden ab. 500 Euro am Tag verdienen sich nicht von selbst. Man könnte denken, dass die Sexarbeiterin das meiste Geld verdient, die am meisten den allgemeinen Schönheitsvorstellungen entspricht, aber so ist es nicht.

Du musst die beste sein und du musst hart arbeiten – und Paulas Freundin habe sehr hart gearbeitet. "Wie in jedem Job", sagt Paula wieder.

Effizienz ist alles

An ihrem ersten Tag brauchte Paula ein paar Stunden, um sich daran zu gewöhnen, dass sie alle nackt waren. Es war verboten, seinen Intimbereich zu verdecken. Die Frauen durften zwar Dessous tragen, die wichtigen Stellen mussten aber frei bleiben.

In einem kleinen Club lernst du die Kunden schnell kennen. Dienstagmorgens kam Klaus, der immer sein eigenes Handtuch mitbrachte. Mittwochs war der Arzt mit dem Leberfleck dran. Donnerstags kam der Verrückte, der wollte, dass Paula grellen Lippenstift trägt. Er brachte schwarzen Lippenstift mit, den sie für ihn tragen sollte. Das waren die Morgenmänner. Sie kamen, hatten Sex, zahlten und gingen wieder. Paula lernte viel über Fetische und Stellungen, von denen sie noch nie gehört hatte.

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Andere Kunden blieben den ganzen Nachmittag. Sie waren eher träge und hatten komische Berufe. Wieder andere kamen abends nach dem Pokerspielen. Sie alle waren unterschiedlich gelaunt und mussten entsprechend behandelt werden. Im Club lernte Paula die Grundlagen der Psychologie und wie man sie zu Geld macht.

Eine halbe Stunde kostete 50 Euro. Wenn du deine Kunden gut unterhältst, bleiben sie natürlich länger. Und wie in jedem anderen Job kommen zufriedene Kunden wieder. Paula erzählt das alles mit einer distanzierten Gelassenheit, als würde sie über jemand anderen sprechen – eine Buchhalterin zum Beispiel.

In ihren fünf Jahren hat Paula einige Beobachtungen über Männer gemacht, die zu Sexarbeiterinnen gehen.

Die erste war, dass nur die wenigsten immer eine andere Frau wollen. Man würde es nicht erwarten, aber in diesen Clubs gibt es eine gewisse Treue, fast wie in der Ehe. "Pinguine", nennt Paula die besonders treuen Männer. Pinguine haben sehr gut bezahlt.

Touristen besuchten den Club nicht. Er lag versteckt im Industriegebiet eines kleinen Ortes – nebenan war eine Holzfabrik, gegenüber eine große Lagerhalle. Nur wer von seiner Existenz wusste, fuhr hier von der Autobahn ab.

Auch Paula arbeitete hart und verdiente bald 500 Euro am Tag. Sie führte Buch und notierte sich auch die Namen der Kunden, die mehr als 50 Euro bezahlt hatten.

Das war nämlich eine weitere Eigenheit, die Paula aufgefallen war: Fast alle kommen wieder. Es war extrem frustrierend für sie, wenn sie jemanden, der einen Monat zuvor gut bezahlt hatte, nicht wiedererkannte. Sie lernte, aufmerksam zu sein. Paula wollte keinen Kunden verlieren

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Sie hatte bereits viel verloren: ihren Vater, ihre Heimat und auch eine Schwangerschaft. Sie wollte nur eins: Geld – Geld, um frei zu sein.

400.000 Euro

In ihrer Freizeit lernte Paula Deutsch. Den Kunden gefiel es, dass sie die Sprache spricht.

Den Kunden stellte Paula sich als Roxy vor. Sie ließ sich berühren und wenn sie die richtigen Sachen sagte, konnte sie fünf Minuten später ein Metalldreieck holen. Das hängte sie an die Tür ihres Zimmers, wie ein Bitte-nicht-stören-Schild im Hotel.

Nach 45 Minuten kam sie wieder raus mit 100 Euro und 20 Euro Trinkgeld. So lief das an guten Tagen: Da hatte sie um 13 Uhr, eine Stunde nach Ladenöffnung, schon ihr Eintrittsgeld für den Club wieder reingeholt. Jede Frau musste 100 Euro an den Betreiber zahlen –  alles, was sie danach verdienten, gehörte ihnen.

Manchmal hatte Paula sogar Orgasmen. Es gab Kunden, die so gut vögelten, dass sie fast das Gefühl hatte, ihnen ein Trinkgeld zu schulden. Die waren aber sehr, sehr selten. Die meisten wollten einfach nur von jemandem akzeptiert werden. Sie bezahlten eine Frau und suchten Zuflucht zwischen ihren Beinen, als würde das ihr Leben etwas erträglicher machen.

Nachdem sie den Bogen raus hatte, bediente sie im Schnitt fünf Kunden pro Tag. Nach den ersten drei Monaten, als sie ihre ersten Stammkunden hatte, verdiente sie rund 550 Euro am Tag. Wenn es richtig gut lief, waren es auch mal 1.300 Euro. Aber es gab auch Tage, an denen sie nur 100 Euro verdiente. An diesen Tagen war sie furchtbar frustriert.

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Sie arbeitete hart, bis sie nach fünf Jahren 400.000 Euro verdient hatte. Davon ist ihr allerdings kaum etwas geblieben, bis auf eine teure Wohnung in Petroșani, einer Stadt im Schiltal. Die vermietete sie zwischenzeitlich an eine Frau, die als Webcam-Model arbeitet.

Paulina will nie wieder Sexarbeit machen. Sie hat jetzt Hans und Tochter Simona.

Aber wo ist das ganze Geld geblieben, das sie verdient hat? Sie hatte zu Hause in Rumänien versucht, mit einer Freundin ein Geschäft aufzubauen. 

Paula hat keine unternehmerische Ausbildung. Beide verschuldeten sich, um das Unternehmen aufzubauen. Weil es anfangs gut lief, waren sie davon ausgegangen, das geliehene Geld problemlos zurückzahlen zu können. Aber das Geschäft scheiterte.

Paula fuhr damals mit einem BMW zu Besuchen in ihre alte Heimat. Sie sagte dort allen, dass sie als Juristin für eine Firma in Bukarest arbeiten würde, dass sie sehr gut bezahlt werde. Sie müsse aber auch viel arbeiten und habe deswegen kaum Zeit, nach Hause zu kommen. Ihre Mutter war mit der Geschichte zufrieden, die Wahrheit hat sie nie erfahren.

Victoria

Alle Frauen im Club arbeiteten mit falschen Namen: Eva, Rudy, Nina. Aber dann war da Vicky, die auch in echt Victoria heißt. An ihrem ersten Tag im Club war sie vor allem überfordert.

In Rumänien war Vicky Geschichtslehrerin. Sie hatte eine Familie und hohe Schulden bei der Bank. Seit ihr Vater krank geworden war, konnte sie die nicht mehr abbezahlen. Jemand hatte ihr den Tipp gegeben, dass sie in Deutschland in der Qualitätskontrolle einer Konservenfabrik 15 Euro die Stunde verdienen könne. Sie fand eine Person, die mit dem Auto nach Deutschland fuhr, auf der Fahrt kamen sie ins Gespräch. Wie sich herausstellte, machte die andere Person Sexarbeit. Eins kam zum anderen.

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Victorias Motivation war ähnlich wie die von Paula. Sie hoffte, ihr Haus behalten zu können. Niemand hatte ihr gesagt, dass sie die ganze Zeit nackt sein musste. Es war ein Schock für sie. "Welchen Spitznamen möchtest du benutzen?", frage Misha, der Bulgare, der den Club betrieb und so tat, als sei er deutsch. "Vicky", sagte sie hastig und so war es geschehen.

Paula mochte Vicky, weil sie nicht so tough war. Das machte sie menschlicher. Vicky war damals 36. Sie lernten sich besser kennen, als der Chef ein paar Frauen aussuchte, um sie zu einer Party in einem anderen Club mitzunehmen, der ihm ebenfalls gehörte. In der Stunde, die sie gemeinsam im Auto saßen, unterhielten sich die beiden Frauen und Paula merkte, dass Vicky Angst hatte.

Also gab sie ihr ein paar Ratschläge. "Du musst einen Weg finden, dass es dir auch Spaß macht. Tu nicht einfach nur so als ob. Die Kunden finden selten Frauen, denen ihr Job wirklich Spaß macht."

Nach der Party übernachtete sie mit Paula und ihrer Freundin im Club und die drei wurden gute Freundinnen. Auch Victoria fing an, 500 Euro am Tag zu machen. Manchmal schnappte sie Paula sogar Kunden weg, aber Paula war stolz auf sie.

"Ich habe mich nicht über sie geärgert, sie hat mich inspiriert!"

Ihrem Mann sagte Vicky, dass sie in der Konservenfabrik Doppelschichten arbeite. Eines Tages meinte Misha zu ihnen, dass ihre Dienstleistungen "zu gut" für diesen Club seien. So gut, dass die Kunden beim Empfang anriefen, um sich nach ihnen zu erkundigen.  

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Die Desillusion

Es ist krank. Die ganze Sache ist wie eine Krankheit. So sieht Paula das heute. Unter den Kunden sagen sie über die Frauen: "Sie sagen immer, dass sie aufhören werden, aber sie kommen immer zurück." Und das ist wahr. Viele wollen aufhören, nur ein paar von ihnen tun es wirklich.

Paula sagt, alle Frauen würden die Arbeit mindestens fünf oder sechs Jahre machen. "Wenn sie aus dem Geschäft aussteigen, wollen sie wahrscheinlich nie wieder von Sex auch nur hören. Sie sind traumatisiert wie Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren." Von dieser Front hören wir in Rumänien allerdings kaum etwas. Paula sagt, dass es Zehntausende wie sie gebe. Laut Statistischem Bundesamt sind etwa 12.000 bis 13.000 Rumäninnen in Deutschland als Sexarbeiterinnen registriert. Viele von ihnen sagen, sie würden Doppelschichten arbeiten – und schützen diese Lüge mit anderen Lügen.

Gibt es etwas, das diese Frauen vereint? Vielleicht ist es die Hartnäckigkeit der Illusion – der Illusion von einer zukünftigen Freiheit, einem zukünftigem Glück. Die Frauen haben das Gefühl, immer kurz vor der Erfüllung zu stehen.

Die Erinnerung

Heute kann Paula nicht glauben, was es sie gekostet hat, nach ihrer Insolvenz alle Schulden abzubezahlen. In den vergangenen Jahren hat Paula nur gearbeitet, um Schulden zu begleichen.

Und jetzt zitiert mir Paula aus der Bibel, genauer gesagt aus dem Buch Prediger: Du kannst nicht zählen, was nicht existiert. Ich frage sie, ob sie an Gott glaubt. Nein. Das habe sie mal, aber jetzt nicht mehr.

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Hans ist zurück und Paula will nicht länger auf Zoom sprechen. "Kannst du mir noch eine Erinnerung aufschreiben?", frage ich sie.

Sie schickt mir Folgendes:

Es ist Mitternacht und ich habe 450 Euro verdient, nachdem ich in acht Zimmern gearbeitet habe. Wir fragen uns nie, wie viele Kunden wir hatten, sondern wie viele Zimmer. Da ist ein junger Mann, der gerade in die Lobby gekommen ist. Die anderen Frauen sind erschöpft. Das ist meine Gelegenheit, mein Geld aufzurunden. Mein Knie schmerzt und meine Haut quietscht von zu vielen Duschen. Ich hatte keine Zeit, mich einzucremen. Der junge Mann kommt aus der Dusche und legt sich auf einen der großen Stühle in der Lounge.

Ich setze mich neben ihn, Cleo sagt leise zu mir: "Der war bereits im Zimmer." Ich ignoriere das. Ich stelle mich ihm vor und er scheint eine Wärme zu spüren. Er fühlt sich wohl. Wir rauchen gemeinsam eine Zigarette nach dem Sex, obwohl wir beide Sex mit anderen hatten. Dann trinken wir einen Softdrink aus dem Spender. Ich stehe kurz auf, um etwas aus der Tasche zu holen, und wir haben auf der Stelle Sex auf dem Bett.

Um 1 Uhr rufen sie Feierabend, die Schicht ist vorbei. Es soll noch ein ganzes Jahr dauern, bis Misha eine schönere Lösung findet: Er spielt am Ende des Tages "My Way" von Sinatra. "And now, the end is near …" Wir dürfen erst aufstehen und gehen, wenn wir dieses Lied hören. Auf unseren 20-Zentimeter-Absätzen trotten wir dann los und träumen von Pommes mit Reibekäse oder von Halva.

Die 400.000 Euro, von denen ich erzählt habe? Die sind mir egal. Das Schlimmste ist, dass ich meine Zeit verschwendet habe. Ich habe meine Jugend verloren.

Einige der Namen in diesem Artikel wurden geändert.

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