Menschen

10 Fragen an eine Telefonseelsorgerin, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Welche Anrufe nerven dich? Wie oft kannst du Anrufern nicht helfen? Was war dein bislang schlimmster Anruf?
Auf dem Fotos sieht man die Seelsorgerin am Telefon. Es ist ihr Job, Menschen telefonisch bei akuten Problemen zu helfen.
Fotos: Rebecca Rütten

Elisabeth ist 22 und möchte Pastorin werden. Ihr Theologiestudium ist sehr theoretisch und eigentlich möchte Elisabeth direkt Menschen helfen. Genau deswegen hat sie im vergangenen Jahr eine Ausbildung zur Telefonseelsorgerin abgeschlossen. Seitdem hilft sie ehrenamtlich Menschen in akuten Notsituationen am Telefon. In ihrem Team ist sie mit großen Abstand die jüngste Seelsorgerin.

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Damit Elisabeths Bekannte und Freunde, die nichts von ihrem Ehrenamt wissen, weiterhin ohne Scheu bei der Telefonseelsorge anrufen können, haben wir ihren Namen geändert. Im Gespräch mit Elisabeth geht es unter anderem um Suizid. Wenn dieses Thema für dich schwierig ist, solltest du dieses Interview lieber nicht lesen.

Wir haben Fragen.

VICE: Was war dein bislang schlimmster Anruf?
Elisabeth:
Der kam von einem jugendlichen Mädchen, das in Tränen aufgelöst war und Suizidgedanken hatte. Das war nur schwer zu ertragen. 

Wie kümmerst du dich um einen suizidalen Menschen?
Wir tasten uns ganz vorsichtig vor und fragen nach, wie akut die Gedanken sind. Gab es schon Versuche? Oft sagen Leute zwar, dass sie Suizidgedanken haben, dem ist dann aber gar nicht so. Manche Anrufer haben Angst, dass wir sofort wieder auflegen, wenn sie kein vermeintliches Riesenproblem haben. Meistens hört man dann schnell heraus, dass die Person einfach nur einsam ist. Wenn wir aber merken, dass es wirklich eine Absicht gibt und dass die Person schon an einer Brücke steht und gleich springen möchte, dann können wir anbieten, Hilfe zu rufen. Falls die Person uns sagt, wo sie ist und dass sie Hilfe benötigt, rufen wir über ein zweites Telefon die Polizei oder einen Rettungswagen. Sollte uns die Person nicht sagen, wo sie gerade ist, können wir tatsächlich nichts weiter machen. Dann bleiben wir am Telefon, solange die Person das möchte. 

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Wie gehst du mit depressiven Menschen um?
Depressionen sind das häufigste Thema. Die Anrufenden sagen in den meisten Fällen nicht "Ich bin depressiv" sondern "Ich bin einsam". Beides gehört oft zusammen. Menschen, die depressiv sind haben oft einfach niemanden zum Reden. Teilweise rufen Menschen über Jahre hinweg immer wieder an. Mich macht das wach dafür, was Depressionen überhaupt bedeuten. Wenn ich von Kollegen höre, dass da Menschen über 20 Jahre hinweg anrufen und es ihnen nicht besser geht. Es kommt mir komisch vor, wenn Depressionen als Modekrankheit bezeichnet werden. Damit redet man sie klein und das ist schlimm. Wenn jemand anruft und sagt "ich konnte heute wieder nicht aufstehen und nichts machen" ist das traurig und man darf mit diesen Leuten nicht ungeduldig werden. Klar, manchmal passiert das, wenn man schon eine halbe Stunde mit der Person spricht und nichts davon ankommt. Das ist frustrierend. Aber wie frustrierend muss es sein, wenn man sich selbst so fühlt? Die Menschen finden nichts, das hilft. Jahrelang. 

Wie oft musst du akzeptieren, dass du jemandem nicht helfen kannst?
Relativ oft. Gerade bei einsamen, depressiven Menschen. Ich spreche dann zwar kurz mit ihnen, nach dem Anruf sind sie aber wieder allein und einsam. Daran kann ich nichts ändern. Wir sind aber auch kein Telefon mit Lösungen, sondern eins mit offenen Ohren. Wir müssen uns auch freimachen von dem Gedanken, dass wir allen helfen können. Das können wir nicht leisten. Was wir können, ist für jeden da sein. 

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Tut es manchmal gut zu sehen, dass es anderen Menschen schlechter geht als dir?
Manchmal, wenn ich einen ganz miesen Tag hatte, gehe ich ans Telefon und denke direkt: Ja, OK, mir gehts super. Man wird dankbarer für die eigenen – leichteren – Probleme und für das, was bei einem selbst gut läuft. 

Man sieht eine Frau in einer offenen Eingangstür die über die Schulter blickt. Man kann das Gesicht der Frau nicht erkennen.

Fotos: Rebecca Rütten

Was war die schlimmste Straftat, von der dir jemand am Telefon erzählt hat?
Ich habe von Kollegen gehört, denen Straftaten gemeldet wurden. Ich hatte nur eine Anruferin, die erzählte, dass sie vorhat jemandem wehzutun. Ich habe nachgefragt, ob sie das ernst meint und was sie genau vorhat. Die Frau sagte dann, "nein, nein, das sage ich doch nur so". Selbst wenn uns jemand von einer schweren Straftat erzählt, gibt er uns ja keinen Namen dazu. Wir können dann nichts machen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich mehr Informationen bekommen würde, würde ich erst einmal die Chefetage informieren. Ich würde die Schweigepflicht also nicht auf eigene Faust brechen. Oft muss man sich auch fragen: Ist das wirklich wahr, was ich da gerade höre? Einiges, was mir erzählt wird, ist ausgedacht.

Nerven dich Anrufer, die gar keine richtigen Probleme haben?
Das Thema kommt bei uns intern immer wieder auf. Viele Menschen rufen uns immer wieder an. Teilweise über Jahre und im Prinzip ist da keine Entwicklung zu merken. Das kann schon frustrieren. Es gibt auch einen Anrufer, der immer Witze erzählt. Das ist eine Abwechslung, aber wir sind ein Nottelefon. Er blockiert dann die Leitung für andere. Wir müssen abwägen wieviel Zeit wir Anrufenden geben wollen, die nicht in großer Not stecken. Ich denke aber, zehn Minuten kann man jedem geben. Hinter den meisten Anrufenden steckt wie gesagt ein einsamer Mensch, der sonst niemanden hat, dem er – wie in diesem Fall – diese Witze erzählen kann. Deswegen schenken wir dem Witzeerzähler auch seine Zeit und hören, wenn auch nur kurz, zu. Es kann wirklich sein, dass diese zehn Minuten dann für diese Menschen der schönste Teil ihres Tages sind. 

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Wäre für viele Hilfesuchenden eine Psychotherapie nicht hilfreicher?
Wir sind ein niederschwelliges Angebot, jeder kann anrufen, 24 Stunden lang. Der Weg zum Therapeuten ist viel schwieriger zu bewältigen und man muss manchmal monatelang auf einen Termin warten. In vielen Fällen brauchen die Leute, die bei uns anrufen, auch nicht unbedingt eine Therapie, sondern nur jemanden, der in diesem akuten Moment zuhört. 

Wie wütend machen dich Menschen, die dich für einen Telefonstreich anrufen?
Ich denke vor allem, dass sie zu viel Langeweile haben. Das kann ich nicht nachvollziehen. Oft sind das Jugendliche die sagen "Ah, ich glaube ich bin homosexuell". Ich merke direkt, wenn es kein richtiger Anruf ist: Man hört es an der Stimme und im Hintergrund lachen meist noch andere. Ich versuche dann, ernst zu bleiben und zu fragen: "Warum ist das ein Problem und wie fühlst du dich?" Meistens legen die dann ganz schnell wieder auf. Es ist einfach nervig und Zeitverschwendung. Noch nerviger sind nur Menschen, die mich am Telefon beleidigen, oder Wutbürger, die mit mir übers Impfen sprechen wollen oder fordern, dass ich mich gegen die derzeitige politische Situation positioniere. Denen muss ich dann sagen, dass die Telefonseelsorge dafür nicht der richtige Ansprechpartner ist. 

Wie sehr belastet dich deine Arbeit nach Feierabend?
Das war ein Hauptteil meiner Ausbildung: Wie grenze ich mich ab? Wie merke ich, welche Themen für mich selbst schwierig sind? Wo sind meine blinden Flecken? Wenn ich gerade durch eine schwere Trennung gehe, ist es schwierig für mich, Trennungsgeschichten am Telefon zu hören. Das muss ich vorher wissen. Dann kann ich zu den Anrufenden sagen: "Rufen Sie bitte noch einmal ran, dann landen Sie bei einer Kollegin oder einem Kollegen, der für das Thema besser geeignet ist. Jeder hat bei uns seine eigene Methode, die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Eine Kollegin macht sich während der Telefonate Notizen und schmeißt sie nach dem Gespräch weg. Sie zerreißt die Zettel nach der Schicht und dann ist das für sie erledigt. So ungefähr mache ich das jetzt auch. Ich schreibe alles in ein Buch, weil ich die Geschichten trotzdem noch bei mir behalten möchte. Das Buch liegt bei mir zu Hause sicher in einer Schublade, auf die nur ich Zugriff habe. Ich finde es wertvoll, von anderen Menschen etwas so Intimes zu erfahren. Aber wenn ich das Buch zuklappe, ist es für den Tag auch gut und ich beschäftige mich nicht weiter mit den Themen. Wenn etwas ganz Schlimmes passiert,  das ich alleine nicht wegbekomme, kann ich mich immer an Kollegen wenden. Die helfen mir bei der Bewältigung. Einmal im Monat haben wir eine Supervisionsgruppe, in der wir schwierige Erlebnisse besprechen können. Wir werden auch generell oft bei der Arbeit gefragt, ob es uns gut geht. Wir müssen dann eben nur was sagen, wenn es etwas zu besprechen gibt. 

Hast du schon einmal an Suizid gedacht oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? In Deutschland erhältst du Hilfe unter der Nummer 0800 111 0 111 oder im Chat. Trauernde Angehörige finden bei Organisationen wie Agus Hilfe. Menschen aus der Schweiz erhalten Hilfe unter 143 oder im Seelsorgechat. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Auch hier gibt es einen Seelsorgechat. Trauernde Angehörige finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe. 

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