Zwei Karten, die anzeigen, wie viel Ecstasy bzw Kokain in deutschem Abwasser ist
Tin Fischer: Gute Karten: Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben | Hoffmann und Campe | mit freundlicher Genehmigung
Politik

Diese Karten zeigen, wo Deutsche am meisten ballern, rappen und nach Sex googeln

Die Deutschlandkarten von Tin Fischer sind besser als Erdkunde. Im Interview erzählt der Datenjournalist, woher er weiß, welche Drogen die Deutschen nehmen.

Eine gute Landkarte eröffnet dir einen neuen Blick auf die Welt. Legt man Norwegen und Deutschland nebeneinander, sind sie fast gleich groß. Sechs hierzulande kaum bekannte Metropolen aus China würden ausreichen, um Deutschland flächenmäßig zu füllen. Und aus der Sicht der Schweiz sind alle Deutschen Schwaben.

Rund 100 solcher Karten hat der Datenjournalist Tin Fischer unter dem Titel Gute Karten veröffentlicht, gestaltet vom Infografiker Mario Mensch. Der Bildband ist am 1. April erschienen und rückt die Welt in andere Proportionen. Im Interview mit VICE verrät Tin Fischer, was das Abwasser über Speedkonsum verrät und welche Stadt der Geburtsort des deutschen HipHop ist.

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VICE: Tin, warum packst du Dinge auf Deutschlandkarten?
Tin Fischer: Ich glaube, Karten sind das einzige Diagramm, das jeder versteht. Im Datenjournalismus gibt es die Faustregel, dass man nur Kurven- und Tortendiagramme benutzen soll. Aber ich glaube, das stimmt nicht. Selbst bei Kurvendiagrammen steigen viele aus.

Kann man mit einer Karte besser lügen oder mit einem Text?
Lügen geht mit beidem gleich gut. Du kannst einer Karte nicht blind vertrauen. Karten orientieren sich an Geografie, aber das Leben orientiert sich an Menschen. Ein großes Gebiet kann auf einer Karte wichtig aussehen, obwohl es für die meisten Menschen unwichtig ist. Es gibt diesen weirden Anspruch, dass jede Karte wissenschaftlich sein muss. Aber eine Karte kann genau wie ein Text auch poetisch oder polemisch sein.

Wie muss ich mir eine polemische Karte vorstellen?
Eine Karte aus meinem Buch zeigt, wie viele in der Kolonialzeit geraubte afrikanische Kulturgüter Deutschland bisher zurückgegeben hat. Es sind drei. Drei! Was für eine kümmerliche Zahl. Um da mal auf den Tisch zu hauen, haben wir die drei Kulturgüter ganz klein auf eine riesige Afrika-Karte gepackt.

Ist der Sex in Ostdeutschland besser?

Eine deiner Karten zeigt, in welchen Bundesländern am häufigsten nach dem Wort "Sexstellungen" gegoogelt wird. Sachsen-Anhalt gewinnt. Was lernen wir daraus?
Auch das ist eine polemische Karte. In den Google Trends zum Begriff "Sexstellungen" lässt sich ein Unterschied zwischen Ost und West erkennen. Am häufigsten wird das Wort in ostdeutsche Bundesländern gegoogelt. Am wenigsten in Hamburg.

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Also brauchen Menschen in Ostdeutschland mehr Nachhilfe beim Sex?
Das haben meine westdeutschen Freunde auch sofort gefragt. Aber das sind alles Spekulationen. Allein mit dieser Karte lässt sich das nicht beantworten. Trotzdem finde ich die Daten von Google toll. Es ist sehr schwierig, an gute Daten zum Thema Sex zu kommen. Bei Umfragen verraten viele Leute eher nicht die Wahrheit über ihr Sexleben.

Was lehrt uns die Karte über das Sexleben der Deutschen?
Ich sehe die Karte als Anlass, um über die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland nachzudenken. In der Wissenschaft wird oft darüber diskutiert, ob Ostdeutsche gegenüber Sex eher aufgeschlossener sind als Westdeutsche. Es gibt das berühmte Buch Why Women Have Better Sex Under Socialism. Die These ist, dass Frauen im Sozialismus ein besseres Sexleben hatten, weil sie unabhängiger waren.

Die Sex-Karte funktioniert durch den Farbkontrast. Wie stark darf man da als Datenjournalist den Kontrast hochschrauben?
Mein Grafiker und ich haben da tatsächlich ein bisschen den Kontrast verstärkt. Bei Google Trends ist der Unterschied zwischen Ost und West auch sichtbar, aber weniger deutlich. Ich finde, das ist erlaubt, um eine Grafik zu polemisieren.

Saarbrücken hat am meisten Pepps

Drogen im Abwasser, Tin Fischer, Gute Karten

Drogen im Abwasser | Tin Fischer: Gute Karten: Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben | Hoffmann und Campe | mit freundlicher Genehmigung

Eine deiner Karten zeigt, welche Drogen in welchen Städten geballert werden. Die Koks-Hauptstadt ist Dortmund. Berlin ist MDMA-Hauptstadt. Woher weißt du das?
Die Grundlage sind wissenschaftliche Studien der europäischen Drogenüberwachung, die seit Jahren Rückstände von Drogen im Abwasser messen. Es hat mich geflasht und fasziniert, dass Abwasser eine Datenquelle für Drogenkonsum sein kann. Abwasser ist der letzte Ort, an dem ich sinnvolle Informationen über unsere Gesellschaft erwartet hätte.

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Auf der Karte sieht es so aus, als würde in Dörfern und kleinen Städten niemand was einwerfen. Das stimmt doch nicht.
Es wurde nur in größeren Städten gemessen. Ob es in Deutschland eine drogenfreie Stadt gibt, das weiß man nicht.

In Chemnitz kommen täglich 241 mg Crystal auf 1.000 Personen. In Berlin 50 mg MDMA. Ist das viel oder wenig?
Das ist eine ethische Frage. Also ich konsumiere keine Drogen und finde, das ist wahnsinnig viel. Aber das ist subjektiv.

Wie gut kann man im Abwasser überhaupt die Konzentration von Drogen messen?
Das habe ich mich auch gefragt und mit den Forschenden telefoniert. Wie immer beim Thema Statistik musst du ständig und wiederholt messen, um ein besseres Gefühl für die Fehlerspannen zu kriegen. Genau das passiert bei der Abwassermessung. Die entscheidende Frage bei Statistik ist aber weniger: Wie zuverlässig sind die Daten? Sondern: Ist es die beste Messung, die ich kriegen kann? Bei einer Umfrage zu Drogen würden womöglich viele Leute nicht ehrlich sein.

Auf 1.000 Menschen in Saarbrücken kommen täglich 242 mg Speed. Wenn ich mit einer Dosis von 10 mg rechne, käme ich auf 2,4 Prozent Speed-Konsumierende in der Bevölkerung. Ist das eine seriöse Rechnung?
Da muss man aufpassen. Einwohner ist nicht gleich Abwasser. Bei Städten wie Berlin kann man schon davon ausgehen, dass viele Partytouristen die Statistik beeinflussen. Außerdem weiß man nicht, ob wenige Leute besonders hohe Dosen konsumieren oder viele Leute besonders niedrige.

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Oder ob ein Dealer mal eine Ladung im Klo runtergespült hat, als die Polizei geklingelt hat.
Genau. Ich ziehe aus der Karte andere Beobachtungen. Zum Beispiel fällt ins Auge, dass Crystal aus Tschechien nach Ostdeutschland schwappt. Tschechien gilt als Hochburg für Crystal.

"In der Geschichte des HipHop siehst du die deutsche Geschichte"

Eine Hochburg für Rap ist Berlin. Das zeigt deine Karte über Deutschlands Rap-Metropolen. Welche Rapper durften auf die Karte?
Die Datenbasis kommt vom Bayerischen Rundfunk. Die Kollegen haben im Jahr 2014 ein Periodensystem des Deutschrap entwickelt. Mit wahnsinnig viel Kleinarbeit haben sie versucht, die deutsche Raplandschaft darzustellen, aufgeteilt nach Genres. Ich wollte auf diese großartige Arbeit aufbauen. Also habe ich den Blick auf einen Bereich geworfen, der bei dem Periodensystem zu kurz kam: die Wirkstätten der Rapper.

Warum ist es wichtig, wo ein deutscher Rapper lebt?
Auf der Karte siehst du, wie sich der Rap seit den 90ern verändert hat. In den 90ern war HipHop vor allem ein westdeutsches Ding. Die meisten Rapper kamen aus Hamburg. Und heute hat Berlin alles übernommen. Das ging auch mit einer stilistischen Veränderung einher. Heute dominiert Straßenrap die Musiklandschaft. In der Geschichte des HipHop siehst du auch die deutsche Geschichte.

Auf der Karte fehlt Apache 207 aus Ludwigshafen. Den gab es noch nicht, als die Daten gesammelt wurden. Tut dir das weh, wenn eine Grafik veraltet?
Natürlich! Am liebsten will man immer die Daten von gestern haben, oder besser von morgen. Aber oft ist es ein irrer Aufwand, Daten zu erheben. Das kannst du nicht jedes Jahr wiederholen. Deswegen musst du manchmal mit älteren Daten arbeiten, einfach, weil es die besten sind. Jede Karte ist selbst ein Stück Geschichte.

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"Deutschland sollte begreifen, wie einflussreich es eigentlich ist"

Wenn du jetzt an Deutschland denkst, was sieht du vor dir?
Ich sehe ein Land, das auf der Weltkarte wahnsinnig klein wirkt. Ein Mini-Staat in Mitteleuropa. Aber ökonomisch betrachtet ist Deutschland ein gigantischer und wahnsinnig mächtiger Staat. Vergleiche mal Regionen der Welt miteinander, die dasselbe Bruttoinlandsprodukt wie Deutschland haben. Das wäre zum Beispiel komplett Südamerika.

Patrioten hören das sicher gern.
Ich ziehe daraus keinen Patriotismus. Als Schweizer habe ich Deutschland sowieso immer als groß empfunden. Ich finde aber, Deutschland sollte begreifen, wie einflussreich es eigentlich ist. Mit meinem Buch möchte ich auch zeigen, wo Deutschland global steht. Daraus leite ich eine globale Verantwortung ab, zum Beispiel beim Thema Klimapolitik. Wenn Deutschland sich bewegt, dann bewegt sich die Welt mit. Wenn Deutschland die Klimawende gelingt, kann auch der Rest der Welt nachfolgen.

Gebiete mit dem BIP von Deutschland, Tin Fischer, Gute Karten

Eingekreist sind Gebiete mit Deutschlands BIP | Tin Fischer: Gute Karten: Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben | Hoffmann und Campe | mit freundlicher Genehmigung

So mancher Rechtspopulist würde daraus eine Erzählung über die Überlegenheit Deutschlands stricken.
Ich finde das Wort Überlegenheit seltsam. Die wirtschaftliche Überlegenheit von Deutschland bedeutet ja auch globale, soziale Ungleichheit. Man kann aus einer rechten oder liberalen Perspektive auf Deutschland und sagen: Krass, so gut macht Deutschland seinen Job. Man kann aber auch aus einer linken Perspektive draufschauen und sagen: Krass, so ungleich sind Ressourcen verteilt. Genau das wird auch das Thema meines nächsten Buches. Statistiken, die komplett anders ausschauen, wenn man aus einer anderen politischen Perspektive draufschaut. Aber daran arbeite ich gerade noch.

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