Menschen

So erkennst du, ob du sexualisierte Gewalt erlebt hast – oder nur einen Flirt

Sara Hassan hat einen Ratgeber geschrieben, sie sagt: Es gibt keine Grauzonen.
Zeichnung zeigt eine Person, die einen Kaffee trinkt, daneben im Bett liegt eine weitere Person
Bild: imago images | Ikon Images

Der bekannteste Vergewaltiger der Welt sitzt für 23 Jahre im Knast und die Queen hat ihm seinen Ritterorden aberkannt. Harvey Weinstein ist aus dem Verkehr gezogen – damit ist die #MeToo-Debatte irgendwie versandet. Und mit ihr die Frage: Was ist mit den alltäglichen #MeToo-Momenten – dem Rückentätscheln vom Kollegen, der Anmache vom Kumpel, dem Date, das dich zum Sex gedrängt hat?

Ist das jetzt offiziell alles sexualisierte Gewalt – oder doch nicht? Die Aktivistinnen Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert haben einen Ratgeber für genau diese Fälle veröffentlicht. "Grauzonen gibt es nicht" soll helfen, Muster sexueller Belästigung mit dem sogenannten Red-Flag-System zu erkennen. Mit Übungen, Tipps und Praxisbeispielen kannst du jede Job-Mail und jedes Tinder-Date nach #MeToo-Indizien untersuchen.

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Kann das funktionieren? VICE hat mit Sara gesprochen. 

VICE: Im neuen Borat-Film gibt es eine Szene, in der der Trump-Anwalt Rudolph Giuliani einer Reporterin – die eigentlich Schauspielerin ist – nach einem Interview in ihr Hotelzimmer folgt, dort ihren Oberschenkel berührt und in seine Hose fasst. Ist das sexualisierte Gewalt?
Sara Hassan: Meine erste Assoziation ist, dass das an die klassische Weinstein-Geschichte erinnert. Man wird auf ein Privatzimmer eingeladen und dort passiert dann sowas.

Aber sie hatte ihn auf ihr Zimmer eingeladen und Drinks vorgeschlagen. Er sagt, er wollte nur sein Mikro aus der Hose holen. Angenommen, er dachte wirklich, die Journalistin flirtet mit ihm. Ist das dann nicht eine Grauzone?
Das macht es verwirrender und spielt natürlich mit der Weinstein-Geschichte. Die Rollen sind verkehrt – aber auch nicht ganz, denn sie ist immer noch die Person, die im Zweifelsfall am kürzeren Hebel sitzt und weniger Macht hat. 

Aber auch wenn die Umgebung ein Flirt ist, greift man sich nicht einfach in die Hose. Und die ganze Borat-Falle wäre nicht aufgegangen, wenn er gefragt hätte: Willst du mit mir schlafen? Ich glaube, das ist der Schlüssel. 

Du bleibst also dabei: Es gibt keine Grauzonen?
Das ist natürlich ein provokanter Titel, der ist meiner Kollegin Anna Horak bei der Übersetzung eingefallen, um auf eine Schieflage hinzuweisen. Es spielt darauf an, dass oft nur die Täterinnen- oder Täterperspektive wiedergegeben wird. Dann ist von einem Missverständnis oder einem Scherz die Rede. Die Idee dahinter ist: Dem Flirt ist der Übergriff inhärent. Man muss also eine Grenze überschreiten, um flirten zu dürfen. Eine Grauzone ist es aber nur, wenn man die Betroffenenperspektive außer Acht lässt.

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Dazu kommt, dass so wenig angezeigt wird – und noch weniger verurteilt. Damit wird die Vorstellung der rechtlichen "Grauzone" bekräftigt. Unser Red-Flag-System soll helfen, solche Situationen genauer einzuschätzen.

Wie funktioniert das?
Wir haben das System aus den Erfahrungen mit Betroffenen abgeleitet. Die Idee ist, dass man Machtmissbrauch früh erkennen kann, wenn man vier Red Flags erkennt. Die erste ist das Umfeld: Gibt es Abhängigkeitsverhältnisse und Hierarchien? Gibt es eine Schweigekultur? In so einem Umfeld ist ein Flirt nie nur ein Flirt. 

Dazu kommen die Komplizen, die die Täterin oder die Täter als netten Kerl kennen, den man gern hat oder der bewundert wird: Der tolle Filmemacher, der allseits beliebte Pfadfinder-Fähnleinführer oder die großartige Künstlerin. Reflexartig werden dann Vorwürfe weggewischt.

Das waren zwei rote Flaggen. Und die anderen?
Wir müssen auf die eigenen Reaktionen achten. Betroffene, die gegen ihren Willen berührt wurden, berichten oft von einem brennenden oder juckenden Gefühl. Oder einem Handabdruck, der auf der Haut zurückbleibt. Wenn du jemandem die Erlaubnis gibst, dich zu berühren, ist das nicht der Fall. Auch Erstarren oder ein übles Bauchgefühl sind Indikationen, dass du nicht in einer normalen Situation bist. 

Ein viertes Indiz ist, dass du anfängst, mit dir selbst zu "verhandeln". Du sagst dir: Das war alles nicht so gemeint oder ein Scherz. Auch das ist ein Indikator, dass etwas schon gehörig schief geht.

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Das ist doch individuell. Kann es nicht einfach sein, dass man sich im Unternehmen unter Kollegen gern umarmt? Dass der neue Kollege damit nicht OK ist, kann man ja nicht wissen. 
Klar, es gibt die Argumentation: Ich bin nicht absichtlich in der Grauzone. Ich weiß einfach nicht genau, wo die Grenze ist und treffe deshalb Annahmen, die leider falsch sind. Aber der entscheidende Punkt ist, dass man die Möglichkeit hat, einfach zu fragen. Vor allem wenn es nicht Friends sind, sondern am Arbeitsplatz passiert.

Aber ist es fair, das gleich als sexuelle Belästigung zu bezeichnen?
Nein, aber es überschreitet eine Grenze. Und es ist ein Schneeball-System. Wenn ich das durchgehen lasse, kann es erschweren, üblere Übergriffe als solche zu sehen. Das soll das Red-Flag-System zeigen: Die langsame Anbahnung, die Überschreitung von Grenzen in aufeinanderfolgenden Eskalationsstufen. Die Kollegin, die gerne umarmt möchte vielleicht nicht belästigen. Aber wenn es in diesem Umfeld Täterinnen oder Täter gibt, nutzen sie das aus.

Die starten nämlich gern einen Testballon. Sie schauen, ob sie mit einem Witz oder Kommentar durchkommen, ohne gestoppt zu werden. Wenn das Umfeld nicht reagiert, machen sie weiter. Denkt man: Diese Person hat nicht gefragt ob ich umarmt werden will, ist ja nicht so schlimm – kann das schlimmere Übergriffe ermöglichen. 

"Testballon" klingt, als würden Täter ganz bewusst und hinterlistig handeln, ihre Opfer groomen. Teil der #MeToo-Debatte war aber auch, dass viele Männer gar nicht merken, wie sie Grenzen überschreiten.
Ich finde die Trennung von Absicht und Auswirkung problematisch. Wir haben einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber Täterinnen oder Tätern: Das kann diese Person unmöglich so gemeint haben!

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Ein Chef von mir wollte einer Kollegin mal ein Kompliment für ihre wirklich sehr coole Latzhose machen. Überhaupt nicht sexualisiert. Hätte er das auf eine Art tun können, die nicht übergriffig ist?
Ich glaube nicht. Wenn die Hose wirklich cool ist, ist das natürlich hart. 

Er hat sofort reflektiert, dass das vermutlich nicht okay war. Aber ich dachte: Wie schade, dass man ein unschuldiges Kompliment nicht mehr machen darf. 
Aber die Frage ist: Hätte sie ihm rückmelden können, dass das nicht OK ist und sie nicht möchte, dass ihre physische Erscheinung am Arbeitsplatz ein Thema ist? Sie konnte sicher nicht viel anderes sagen als: Danke.

Hättest du, als gleichgestellte Kollegin, das Kompliment gemacht, dann hätte sie anders reagieren können. Sie hätte vielleicht gesagt: Ich will nicht, dass du meinen Körper kommentierst. Es wäre unangenehm für beide gewesen, aber nicht unmöglich.

Wenn wir so weitermachen, kommen wir vielleicht irgendwann an einen Punkt, an dem das Arbeitsumfeld so aufgeklärt ist, dass man das ganz klar auch einem Chef sagen kann. Dann kann man auch Komplimente machen, aber heute ist das utopisch. 

Viele Beispiele bei euch im Buch sind eher eindeutig: Der Professor fasst sich in den Schritt, der Chef füllt die neue Mitarbeiterin ab, der Zahnarzt sagt: Ich dachte, Frauen wie du mögen es hart. 
Ja. Oft sind Situationen natürlich komplexer. Wir erzählen auch von einer queeren Person, die auf dem Sofa eines Freundes schläft. Da ist das Machtverhältnis viel subtiler. Das System soll aber auf jede Situation angewendet werden können. 

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Wann immer man ein schlechtes Bauchgefühl hat, aber nicht sicher ist. Das ist nicht einfach, ich übe das auch jeden Tag. 

Hast du ein Beispiel?
Jemand hatte mir eine professionelle Mail geschrieben – vor Covid – und plötzlich bestand er darauf, unbedingt zu skypen. Ich dachte: OK, weird. Warum willst du mich unbedingt sehen, warum telefonieren wir nicht? 

Ich mache dann eine Mental Note. Dann warte ich ab und schaue, was passiert. Es geht nicht darum, direkt zu wissen: Ist das ein Übergriff oder nicht? Sondern, dass man ein Verständnis der Systematik im Hinterkopf hat und dann navigieren kann. Am Ende hat sich die Bitte um ein Skype-Gespräch geklärt, das war eine normale Situation. Aber es kann auch sein, dass ich später noch mehr Red Flags erkenne.

Dass es keine Grauzonen gibt, heißt doch dann aber, dass jede Situation, die jemand als übergriffig empfindet auch einer ist.
Es geht nicht darum, dass es überall Tribunale gibt, die entscheiden: Du bist Täterin oder Täter und du nicht. Es ist nur leider so, dass viele juristischen Systeme, mit denen wir operieren, Fälle nicht als das erkennen, was sie sind. Das Recht operiert ja auch binär: War das der krasseste aller Übergriffe – oder gar keiner. 

Es ist wichtig, die Mechanismen davor zu verstehen. Oft sind die Opfer zum Zeitpunkt eines juristisch klaren Falls schon so am Ende und aus der Bahn geworfen, dass sie ihn gar nicht mehr irgendwo hintragen und melden können. 

Was ist, wenn Betroffene sagen: Für mich war das ein blöder Spruch. Darf ich dann antworten: Nein, ich habe da drei Red Flags gesehen – das war ein Übergriff?
Das würde ich mir nie anmaßen, das wäre paternalistisch. Aber wenn ich Menschen zuhöre, die sowas beiseite wischen, merke ich, dass es einen hohen Grad der Normalisierung gibt.

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