Tim Hetheringtons Kriegsfotos zeigen männliche Sexualität an der Front
"Doc" Kelso lacht über einen Witz während einer Feuerpause in 'Restrepo'. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juli 2008 © Tim Hetherington

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Tim Hetheringtons Kriegsfotos zeigen männliche Sexualität an der Front

Bis zu seinem Tod 2011 begleitete der mit dem World Press Photo Award ausgezeichnete und Oscar-nominierte Fotograf das Soldatenleben wie kein anderer.

20. April 2011, der libysche Bürgerkrieg tobt seit zwei Monaten. Der britische Fotojournalist Tim Hetherington ist mit Kollegen und Rebellen an der Front in der Stadt Misurata unterwegs, als eine Mörsergranate von Gaddafis Truppen neben ihnen einschlägt. Kriegsfotograf Chris Hondros wird tödlich getroffen, ein weiterer Kollege, Guy Martin, schwer verwundet. Ein Schrapnell trifft Hetherington. Wenig später stirbt auch er im Lazarett durch den massiven Blutverlust.

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Hetherington verabscheute Gewalt, aber er sah es als seine Aufgabe, den Krieg an der Front zu beobachten – Seite an Seite mit Soldaten in Liberia, Afghanistan und Libyen. Für Vanity Fair arbeitete er im afghanischen Korengal-Tal, schoss dort 2007 das spätere "World Press Photo of the Year". Zur selben Zeit begann der Fotograf, den Krieg als Zweck männlicher Sexualität zu verstehen.

Ein Soldat auf Patrouille im Korengal Tal in Afghanistan

Auf Patrouille nach Obi Nauw. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. April 2008 © Tim Hetherington

Seine Offenbarung hatte Hetherington, als er ein Foto betrachtete, das er selbst "The Garden of Eden" nannte. Es zeigt amerikanische Soldaten, die in der afghanischen Natur picknicken. Hetherington glaubte, dass ein urwüchsiges Verlangen nach Konflikt und die ständige Bedrohung den Männern die Gelegenheit gab, ihre Liebe zueinander offen, ohne Zweifel, Angst oder Urteil auszudrücken. Für ihn fand sich die wahre Abbildung von Maskulinität nicht in den heroischen, dramatischen oder anderweitig künstlerischen Kriegsdarstellungen, sondern in beiläufigen Schnappschüssen von Soldaten in ihren intimsten und verletzlichsten Augenblicken.

Stephen Mayes war langjähriger Freund und Kollege von Hetherington, jetzt leitet er den Tim Hetherington Trust. Anlässlich seines siebten Todestags hat VICE mit Mayes darüber gesprochen, wie Hetherington unser Bild vom Krieg verändert hat.

Ein Medic behandelt einen US-Soldaten, der in Afghanistan von Taliban verwundet wurde

Medic "Doc" Old behandelt Specialist Gutierrez, der bei einem Angriff von Taliban auf den 'Restrepo'-Außenposten verletzt wurde. Der Posten wurde nach dem Medic Juan Restrepo vom Second Platoon benannt, der im Juli 2007 durch Aufständische getötet worden war. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. 17. September 2007 © Tim Hetherington

VICE: Wie würdest du Tim Hetheringtons Mission beschreiben?
Stephen Mayes: Ich habe Tim kennengelernt, als er Fotojournalismus an der Cardiff University in Wales studierte. Sobald er 1997 seinen Abschluss in der Tasche hatte, ging es ihm allerdings um mehr als nur Fotografie. Die restlichen 90er Jahre hindurch wiederholte sich zwischen uns vor allem ein Thema: "Das ist alles schön und gut, aber was machst du damit?"

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Tim hat sich nie als Fotografen verstanden. Er nutzte jedes Medium, um seine Message zu verbreiten: Magazine, Ausstellungen, Multimediainstallationen, Buch, Film. Ein Foto war nie einfach nur ein Foto, es war eine Lebensaufgabe.

Ich habe Tim zum ersten Mal 2003 über Krieg und männliche Sexualität sprechen gehört. Er hatte ein paar Jahre bei den Rebellen im Busch von Liberia verbracht – ein brutales Leben. Die Bilder hatten etwas beinahe Beiläufiges. Als er zurückkam, sprach er über Dinge, die er nicht fotografiert hatte, nicht fotografieren konnte. Er wollte wissen, warum Menschen so etwas tun.

Ein US-Soldat küsst einen anderen beim Raufen im Korengal Tal, Afghanistan

Bobby küsst Cortez beim Raufen in den Baracken des Second Platoon am Korengal Outpost. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juni 2008. © Tim Hetherington

Was hatte er über das Wesen des Krieges gelernt?
Für Tim ging es vor allem darum, wie hinter Konflikten im Wesentlichen männliche Sexualität steckt – allerdings nicht auf eine sexuelle Art. Viele Probleme von Männlichkeit drehen sich um die Unfähigkeit, Liebe auszudrücken. Wir haben diesen sehr rudimentären Blick auf männliche Sexualität als eine Art An/Aus-Schalter, aber da ist viel mehr. Weil es keine Einladung für Männer gibt, darüber nachzudenken, das zu erkunden oder irgendetwas damit anzustellen, außer sich "gefälligst zu benehmen", kommen wir nicht voran.

"In Konflikten sind Männer am menschlichsten – inmitten der unmenschlichsten Umgebung."

Konflikte sind deswegen so spannend, weil es Orte sind, an denen Männer sich ausdrücken. Dort sind Männer am menschlichsten – inmitten der unmenschlichsten Umgebung. Tim hatte den Eindruck, dass sie dort mit sich selbst und anderen eine Verbindung aufbauen konnten, wie es ihnen zu Hause niemals möglich gewesen wäre. Tim suchte nach dem, was Männer beschränkt und davon abhält, sich mehr auszudrücken.

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Ein Granatengurt von US-Soldaten in Afghanistan

Granatengurt. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. 16. September 2007 © Tim Hetherington

Was macht Konflikte überhaupt "männlich"?
In seiner letzten Unterhaltung mit mir hat Tim darüber gesprochen, warum er lieber die Frontlinien als die Flüchtlingslager fotografierte. Er fühlte sich den kämpfenden Männern viel näher und hatte das Gefühl, aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein.

Tim versuchte, selbst zu verstehen, was genau ihn dorthin zog. Es geht bei Kämpfen nicht einfach nur um Territorium, Geld oder so. Er verstand es als grundlegendes Bedürfnis, die Auseinandersetzung zu suchen. Privat war Tim allerdings ein unfassbar friedfertiger Mensch. Im Alltag suchte er nie einen Konflikt, trotzdem fühlte er sich zum Krieg hingezogen. Zum Teil spielte da auch das Gefühl von Abenteuer mit rein. Außerdem war da die Liebe. Tim empfand eine Liebe, die er nicht anders ausdrücken konnte.

Und er hat dieses Leben wirklich gelebt. Während Tim in Afghanistan mit den Soldaten auf Patrouille war, brach er sich den Knöchel. Aber er ließ sich von ihnen nicht helfen. Er wanderte zwei Tage mit gebrochenem Knöchel und schwerem Rucksack durch die afghanischen Berge, um Hilfe zu holen. Er war einer von ihnen.

Ein US-Sergeant schläft oberkörperfrei im Korengal Tal in Afghanistan

Sergeant Elliot Alcantara, Second Platoon, Battle Company, 173rd Airborne Combat Team. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juni 2008. © Tim Hetherington

Wie hat Tims Zeit in Afghanistan seine Karriere beeinflusst?
Als Tim 2011 mit seinem Dokumentarfilm Restrepo für den Oscar nominiert wurde, hatte er ein Publikum gefunden – und etwas über männliche Sexualität im Konflikt zu erzählen. Sleeping Soldiers, seine Fotoserie für Vanity Fair, war der erste Vorstoß in diese Richtung.

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Diese Arbeit ist eine Meditation. Sie ist kein Fotojournalismus, aber wird heute noch als solcher gesehen. Wenn du aufhörst zu sehen, was du zu sehen erwartest, und stattdessen darüber nachzudenken beginnst, was du gerade sehen könntest, dann verhilft dir Tims Arbeit oft zu einer anderen Perspektive.

Ein US-Soldat schläft zugedeckt im Korengal Tal in Afghanistan

FCO Ross Murphy, Second Platoon, Battle Company, 173rd Airborne Combat Team. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juli 2008. © Tim Hetherington

Tim hatte bereits monatelang in dem Armee-Camp geschlafen und abgesehen von den Explosionen passierte nicht viel. Niemand war überrascht, als er Fotos von den Soldaten beim Rumalbern machte. Als er allerdings die Kamera in die Hand nahm, umherschlich und sie im Schlaf fotografierte, waren viele verwirrt.

"Die Männer halbnackt und schlafend inmitten einer extrem umkämpften Region Afghanistan zu fotografieren, erinnert Menschen an die Verletzlichkeit und Aggression."

Ohne ihre Uniformen waren diese Männer anders. Tim erklärte, dass der amerikanische Soldat wie Coca-Cola sei: eine internationale Marke mit Wiedererkennungswert. Die Soldaten sind aber nur eine Marke, bis sie ihre Uniformen ausziehen. Die Männer halbnackt und schlafend inmitten einer extrem umkämpften Region Afghanistan zu fotografieren, erinnert Menschen an die Verletzlichkeit und Aggression.

Ein US-Soldat schläft oberkörperfrei im Korengal Tal in Afghanistan

Specialist Steve Kim, Second Platoon, Battle Company, 173rd Airborne Combat Team. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juni 2008. © Tim Hetherington

Was war der Wendepunkt in Tims Karriere?
Ich erinnere mich gut daran, wie er in mein New Yorker Büro kam. Er sagte kein Wort, sondern legte mir nur Kontaktbögen auf den Tisch. Er hatte die Fotos in Afghanistan gemacht. Dann fragte er, was ich davon halte. Was ich da vor mir hatte, ging weit über konventionelle Kriegsfotografie hinaus: spielende Männer, die sich gegenseitig in die Brustwarzen zwicken, oberkörperfrei und viel Hautkontakt. Es war weder sexuell noch erotisch, aber gleichzeitig hatten sie hier die Freiheit, sich auszudrücken.

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Mit Sleeping Soldiers hatte Tim die erwartete Geschichte aus jeder erdenklichen Perspektive erzählt. Er gewann in jenem Jahr den World Press Photo of the Year Award, weil es nicht mehr zu sagen gab. Tim hatte erkannt, dass er sich nur noch wiederholen konnte.

Deswegen wurde dieses "Garden of Eden"-Foto sein ausschlaggebendes Bild. Er wusste das nicht, als er es machte. Er erkannte es erst, als er es sich anschaute. Nicht das Kämpfen war den Soldaten am wichtigsten, sondern gemeinsam an einem sonnigen Tag in der Natur Zeit miteinander zu verbringen.

Soldaten füllen Sandsäcke für die Bunkerverstärkung in Afghanistan

Männer vom Second Platoon schaufeln Erde für Sandsäcke, um Teile des 'Restrepo'-Bunkers zu verstärken. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. Juni 2008. © Tim Hetherington

Wie können uns Tims Arbeiten helfen, den gesellschaftlichen Stellenwert männlicher Sexualität einzuordnen?
Seine Bilder decken die Wahrheit auf. Und die Wahrheit lautet nicht, dass Männer Waffen tragen. Die Wahrheit liegt tiefer. Tim wollte das thematisieren, ohne jemanden anzugreifen. Auf Konfrontationen bekommen wir von Männern nur die übliche Reaktion. Für ihn geht es darum, die Männer von innen heraus zu erreichen: durch Verständnis.


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Tim spürte etwas und wollte wissen, warum Menschen das nicht erkannten. Und natürlich spüren wir das auch, aber wir reden einfach nicht darüber oder lenken davon ab. Das wollte er umgehen. Er hat nicht versucht, Menschen vor den Kopf zu stoßen. Es war das genaue Gegenteil. Tim wollte, dass sich die Menschen wohl in ihrer Lebenswirklichkeit fühlen.

Ein Soldat ruht sich nach Kämpfen in Afghanistan aus. Das Foto wurde ausgezeichnet mit dem World Press Photo Award.

Ein Soldat vom Second Platoon ruht sich nach einem Tag schwerer Kämpfe im 'Restrepo'-Außenposten aus. Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan. 16. September 2007 © Tim Hetherington

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