Irgendwie ist jede Fußball-WM gleich: Favoriten scheitern grandios, der Gastgeber gibt zu viel Kohle aus und irgendwo wird auch das ein oder andere Kaltgetränk serviert. Dass diese WM trotzdem schon für einige Überraschungen gut war, lag nicht nur an großen Egos und großen Tränen, sondern auch an einem Gastgeber-Land, das sich bemüht hat, alle Erwartungen zu unterlaufen. Zum Beispiel so:
PUTIN MACHT SICH RAR
Vor dem Eröffnungsspiel war überall nur von “Putins Spielen” die Rede. Die Süddeutsche Zeitung schrieb von einer “Pille für den starken Mann”, der Stern von einer “Propaganda-Show”. Putin wird sich inszenieren, allgegenwärtig sein, sich im weltweiten Rampenlicht sonnen, prophezeiten die meisten. Doch ausgerechnet dieser Mann, der in Russland von der Kartoffelernte über die Annexion von Halbinseln bis hin zu sexy Urlaubsbildern für alles zuständig zu sein scheint, taucht seitdem kaum in der Öffentlichkeit auf. Donde esta Putin?
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Nur beim Eröffnungsspiel ließ er sich kurz blicken, sagte ein paar fade Grußworte, wobei Putin seine sonst so beliebten Drohungen gegen Nachbarstaaten unterließ – und verschwand. Sogar den Jubel über den unerwarteten Erfolg der russischen Mannschaft, die Spanien schlug und ins Viertelfinale vorstieß, überließ Putin seinem ergebenen Adlatus, Premierminister Medwedew. Der durfte breit in die Kameras grinsen.
Der Autokrat präsentiert sich das gesamte Turnier über gar nicht, und damit als Erster, aber sich bescheiden zurückhaltender Diener seines Volkes. Nebenher nutzte er die WM übrigens, um mal eben das Rentenalter und die Mehrwertsteuer anzuheben. Kritik muss er in einem Land im kollektiven WM-Taumel nicht befürchten. Aber vor der scheint er ja auch sonst eher wenig Angst zu haben.
Doch all jene, die wiederum Putin fürchten, sollten sich nicht allzu sicher fühlen. Wie bei einem Kleinkind gilt auch bei einem Autokraten: Die größte Gefahr droht, wenn aus seinem Zimmer mal länger nichts kommt.
YELLOW-PRESS-SCHLAGZEILEN WERDEN NOCH FIESER
OK, englische Boulevard-Zeitungen waren noch nie zimperlich, aber die erste Seite von The Sun vor dem Spiel England gegen Kolumbien war schon sehr verschnupft, als dort stand: “As 3 Lions face nation that gave world Shakira, great coffee and er, other stuff, we say… Go Kane!”. Worauf das Blatt mit “anderem Zeug” anspielen könnte, errät man auch, ohne alle Staffeln von Narcos gesehen zu haben.
Auch Fox Sports in Brasilien ließ nach Deutschlands Ausscheiden alle Zurückhaltung fahren:
Doch zumindest neben dem Platz wollte Deutschland der internationalen Konkurrenz in nichts nachstehen:
Der Mauerbau hat übrigens nicht geklappt, denn:
DEUTSCHLAND KANN AUCH IN DER VORRUNDE EINER WM AUSSCHEIDEN
Das lassen wir jetzt mal so stehen – kommen damit aber zum nächsten Punkt:
FUSSBALL RETTET DEUTSCHE POLITIKER UND POLITIKERINNEN NICHT MEHR
Wer es böse meint mit den beiden Gegenspielern Merkel und Seehofer, könnte glauben, sie hätten ihren epischen Streit darum, wie sie Geflüchtete möglichst sanft und humanistisch ausbooten, extra in die WM-Zeit gelegt. Es hätte ja wie immer laufen können: Der Ball rollt – und alles andere spielt keine Rolle mehr. Hauptsache Schland und so. Doch diesmal schied die deutsche Nationalmannschaft so schnell aus, dass in den Halbzeitpausen der darauffolgenden Spiele ohne deutsche Beteiligung die meisten Leute nüchtern genug waren, um die Tagesschau zu verstehen. Irgendwie ist Fußball am Ende doch unberechenbar.
DIE FUSSBALLGÖTTER SIND TOT
Ronaldo früh raus, Messi gescheitert, Neymar weint. Aber Kopf hoch: Auch nach Michael Jacksons Tod wurden noch gute Popsongs veröffentlicht.
Und sowieso gilt:
DIE BESTEN SPIELER SIND KINDER
Es ist nicht wirklich überraschend, dass manche Fußballer eher infantil drauf sind. 19-Jährige, die Millionen verdienen und ihre Tage mit Ball und PlayStation verbringen, dürfen das vielleicht. Aber der französische WM-Shootingstar Kylian Mbappé und die Mitspieler seines Vereins Paris St. Germain treiben es auf die Spitze: Vor allem Neymar und Alves sollen Mbappé damit aufziehen, dass er so aussehe wie Donatello von den Teenage Mutant Ninja Turtles. In einem Video kann man sehen, wie Mbappé von seinen Mitspielern eine Donatello-Maske geschenkt bekommt. Da lacht er noch. Es soll aber schon zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Französische Zeitungen schreiben, dass Mbappé schwer beleidigt sei. Sogar ein Weggang des momentan begehrtesten Spielers der Welt von seinem Verein scheint möglich. Wegen Donatello. Echt jetzt.
Die Infantilität befällt im Fußball übrigens nicht nur 19-Jährige. Cristiano Ronaldo, Weltfußballer und immerhin 33 Jahre alt, gab während der WM seinen Wechsel von Real Madrid zu Juventus Turin bekannt. Für 105 Millionen Euro. Dass es genau 105 sind, soll damit zusammenhängen, dass Ronaldo teurer sein wollte als sein ehemaliger Mitspieler Gareth Bale, als der für 101 Millionen Euro zu Real Madrid gewechselt war. Damals war Ronaldo so außer sich, einen “teureren” Mitspieler zu haben, dass er sofort mit seinem Weggang drohte. Nun hat er Bale also doch noch geschlagen. Glückwunsch, Großer!
BEIM DFB ARBEITEN NUR LAPPEN
Mesut Özil soll also für das deutsche WM-Aus verantwortlich sein? Alleine? Echt jetzt? Sowohl der Präsident des Deutschen Fußballbundes, Reinhard Grindel, als auch DFB-Manager Oliver Bierhoff gaben nach dem WM-Aus Interviews, die genau das suggerieren. Beide haben natürlich anschließend gesagt, dass alles nicht so gemeint war. Am Ende waren es klassische Ich-will-ja-auf-keinen-Fall-Hitler-Vergleiche-anstellen-aber-das-alles-erinnert-mich-stark-an-Adolf-den-Nazi-Aussagen.
Die gemeinsamen Fotos, für die Mesut Özil und İlkay Gündoğan vor der WM mit dem türkischen Präsidenten-Despoten Erdoğan posiert hatten, waren natürlich nicht clever. Aber die anschließende Kritik an den beiden bot auch all jenen Rassisten eine Steilvorlage, die Spieler mit Migrationshintergrund sowieso nicht als richtige Deutsche betrachten. All das kritisiert beim DFB öffentlich niemand. Bundestrainer Jogi Löw schweigt seit dem Turnier-Aus. Die anderen Spieler posten schon fleißig Urlaubsfotos.
RUSSISCHE HOOLIGANS KÖNNEN AUCH NICHT ZUSCHLAGEN
Noch größer als die Angst vor einem Präsidenten, der eigenhändig Bären erlegt und die Weltherrschaft an sich reißen will, war vor dem Turnier nur die Angst vor russischen Hooligans. Dafür hatten die Brutalos selbst gesorgt, als sie bei der EM 2016 halb Marseille zerlegt und viele Menschen verletzt haben.
Das Netz lief heiß vor dem Turnier: Russische Hools hätten sich mit argentinischen verbrüdert, um die Engländer fertig zu machen, war da beispielsweise zu lesen. Passiert ist stattdessen: nichts. Tatsächlich scheinen die harten Maßnahmen, mit denen russische Sicherheitsorgane gegen die heimischen Hooligans vorgegangen waren, gewirkt zu haben. Bei den wichtigsten Schlägern sollen Polizei und Geheimdienst im Vorfeld Hausbesuche gemacht haben, um ihnen klarzumachen, dass sie ihres Lebens nicht mehr froh werden würden, wenn sie während des Turniers auffallen sollten.
So gesehen: Es ist gut, dass der russische Staat Hooligan-Randale verhindert. Aber es ist auch beängstigend, wenn er dabei so überzeugend ist, dass selbst notorische Gewalttäter sich einschüchtern lassen.
MULTIKULTI IN SCHWARZ, ROT UND GOLD FUNKTIONIERT TROTZDEM
Während Deutschland an den heterogenen Identitäten seiner Kicker verzweifelt und Markus Söder von Asyltourismus faselt, spielt das belgische Multikulti-Team begeisternd auf. Spieler mit kongolesischen und marokkanischen Wurzeln schossen Belgien ins Halbfinale. Erst dort war gegen Frankreich Endstation, auch so ein Team, das nicht nur aus Bio-Ur-Franzosen in siebter Generation besteht.
Der Fußball ist ja oft der beste Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Und da muss man leider feststellen: Da Jogi Löw und Markus Söder noch in ihren Ämtern sind, ist der Tiefpunkt für Deutschland noch nicht erreicht.
RUSSISCHE FRAUEN LASSEN SICH NICHT KLEINHALTEN
Die bizarrste Debatte der WM wurde im Gastgeberland geführt. Es ging um die Frage, ob russische Frauen allzu fröhlich mit männlichen WM-Gästen feiern. Die russischen Schlagzeilen reichten von “Zeit der Luder” über “Eine Generation von Nutten” bis hin zu ganz üblen Wortkeulen wie “Rassenschande”. Und die Russinnen? Feiern einfach weiter. So kommt mit der chauvinistischen Kommerz-Kirmes Fußball-WM sogar eine Debatte über verstaubte Rollenbilder in Gang. Einsteigen, bitte.