Maja sieht nicht aus, wie ein verwahrlostes Kind, das mit mindestens zwanzig anderen in einer windschiefen Hütte haust. Und doch haben manche vielleicht diese Bilder im Kopf, wenn Maja von ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Die 19-Jährige ist in Heimen aufgewachsen, genauer gesagt: in Wohngruppen, so heißt das heute. Aber anders als in Horrorszenarien aus dem 20. Jahrhundert hatte sie immer ein Einzelzimmer, saubere Klamotten und wurde glücklicherweise nie von einem Betreuer geschlagen oder missbraucht. Das passiert leider auch heute noch in manchen Einrichtungen.
Majas Mutter ist alkoholkrank, ihr Vater war lange Zeit obdachlos und ist durch eine Lungenerkrankung mittlerweile ein Pflegefall. Mit neun Monaten kam Maja in ihre erste Pflegefamilie. Seitdem ist sie immer zwischen ihrer Mutter, zwei Pflegefamilien und drei Wohngruppen gependelt. “Ich wusste immer, dass sie wieder mit dem Trinken angefangen hat, wenn ich ihre Ringe gegen die Flasche klimpern hörte”, sagt Maja. Ihre Brüder, 20 und 21, wurden immer gemeinsam vermittelt, wenn sie mal wieder von der Mutter weg mussten. So wie den Geschwistern erging es allein im Jahr 2016 etwa 53.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Jugendämter haben sie in Heimen untergebracht.
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Heute wohnt Maja in der sogenannten Verselbständigung. Sie lebt in einer Wohnung, die zum Träger ihrer ehemaligen Wohngruppe gehört. Hier arbeitet sie darauf hin, irgendwann in einer “richtigen” Wohnung zu leben. Ihr Ziel ist es, in Zukunft selbst als Erzieherin in einer Wohngruppe zu arbeiten, um die Hilfe zurückzugeben, die sie dort erfahren hat. Bis heute, sagt sie, wisse sie nicht genau was größer ist, “der Hass oder die Liebe, die ich für meine Mutter empfinde”. Maja sagt, sie hatte es alles andere als leicht. Jede Pflegefamilie und Wohngruppe haben ihre Spuren hinterlassen, aber genau das hat sie stark gemacht.
Wir haben Fragen.
VICE: Hätte dich niemand sonst aus deiner Familie aufnehmen können?
Maja: Meine Tante wollte mich aufnehmen. Das haben meine Mutter und das Jugendamt nicht zugelassen. Die genaue Begründung weiß ich nicht mehr. Mehr Familie habe ich nicht. 2011 bin ich für eineinhalb Jahre mit meinen beiden Brüdern zu meiner großen Schwester gezogen, sie ist heute 29. Sie hatte die Polizei gerufen, weil meine Mutter wieder mit dem Trinken angefangen hatte. Der Abend war sehr prägend. Vor unserem Haus standen mehrer Mannschaftswagen der Polizei. Alle meine Kindheitsfreunde waren vor der Tür und haben gesehen, was bei uns los ist. Meine Mutter hat völlig besoffen rumgeschrien: “Meine Kinder, lasst meine Kinder in Ruhe!” Ich kam gerade von einer Freundin. Die Polizei hat mich mit in unsere Wohnung genommen und da musste ich mich vor einem Dutzend Beamten bis auf den Schlüpfer ausziehen. Sie wollten sehen, ob meine Mutter mich misshandelt hatte. Sie hat mich aber nie geschlagen.
Was mich aber wirklich geschockt hat war, dass die “Tomatenpflanzen” meiner Mutter gar keine waren. Sie hatte Gras angebaut. Danach kamen meine Brüder und ich erstmal wieder in den Kindernotdienst. Zwei Tage später zogen wir zu meiner Schwester, ihren zwei Katzen, ihrem Hund, Mann und dem Baby im Bauch. Auch wenn es dort super eng war, ging es eineinhalb Jahre irgendwie gut.
Mit 13 wurde ich in die Wohngruppe nach Brandenburg geschickt. Ohne meine Brüder. In dieser Zeit habe ich meine erste Depression bekommen. Ich habe alle Fenster abgedunkelt und bin kaum noch aus meinem Zimmer gegangen.
Welche Erfahrung würdest du am liebsten vergessen?
Wie ich mit 13 in die Wohngruppe nach Brandenburg geschickt wurde. Das Jugendamt wollte nicht mehr, dass meine Brüder und ich bei meiner Schwester wohnen. Die beiden durften – mal wieder – zusammenbleiben und ich wurde zwei Stunden weit weg geschickt. Das Telefon brauchten die Betreuer tagsüber ständig, deshalb hatte ich wenig Kontakt zu meinen Freunden oder meiner Familie. Um zur Schule zu kommen, musste ich morgens im Dunkeln 20 Minuten zur Bushaltestation laufen. Das war gruselig. In dieser Zeit habe ich meine erste Depression bekommen. Ich habe alle Fenster abgedunkelt und bin kaum noch aus meinem Zimmer gegangen.
Gegen welche Verbote hast du im Heim verstoßen?
Drogen und Alkohol. Der größte Kick war es, in der Wohngruppe zu trinken. Einmal haben sie mich erwischt und mir den Alkohol abgenommen. Aber ich hatte noch eine zweite Flasche Schnaps. Wenn wir feiern gehen wollten, haben wir uns immer im Erdgeschoss aus dem Fenster geschlichen. Wir haben um 23 Uhr unsere Betten so präpariert, dass es aussah, als würde jemand darin schlafen. Man musste aber aufpassen, wem in der Gruppe man das erzählt hat. Manche haben dich bei den Betreuern verpetzt. Trotzdem mochten wir uns alle. Wir haben alle mehr oder weniger das gleiche erlebt. Das schweißt zusammen. Wir sind Familie füreinander.
Nutzt du deinen Status als ehemaliges Heimkind zu deinem Vorteil aus?
Nicht zu meinem Vorteil, eher als Erklärung dafür, warum ich keine Beziehung führen kann und möchte. Ich könnte es aktuell einfach noch nicht ertragen, wenn man mir das Herz brechen würde. Das ist mein Selbstschutz. Ich bin gerade noch so mit meinen Problemen beschäftigt, dass ich nicht dazu in der Lage wäre, eine Beziehung zu führen. Ich will einfach niemanden so nah an mich ran lassen. Lieber habe ich keine Beziehung, als eine die richtig fürn Arsch ist, weil ich aus Angst und Unsicherheit zum Kontrollfreak werde. Das würde mich irre machen.
Wie fühlt es sich an, wenn einen die eigenen Eltern weggegeben haben?
Ich hatte deshalb lange Zeit ein sehr geringes Selbstbewusstsein und mich gefragt, ob ich überhaupt geliebt werde. Meine Mutter hat mir jedes Mal wieder meine Hoffnung auf ein schönes gemeinsames Leben zerstört, indem sie wieder rückfällig wurde. Wenn ich hörte, dass ich schon wieder weg muss, brach immer alles zusammen. Ich frage mich heute noch, wie es sein kann, dass eine Mutter ihre Kinder nicht so sehr liebt, dass sie ihre Krankheit besiegt. Ich verstehe, dass es schwer ist und das Alkoholsucht eine ernstzunehmende Krankheit ist. Aber das ist für mich keine Entschuldigung, dass sie keine gute Mutter ist. Das kann ich ihr nicht verzeihen. Die ganzen Psychospiele, die Beleidigungen wie “Du bist nicht mein Kind, dich habe ich beim Betten machen gefunden”, “Du bist fett und hässlich”. Am schlimmsten war der Begriff “Du Lutschpuppe” für mich. Ich verstehe das Wort bis heute nicht.
Wenn ich hörte, dass ich schon wieder weg muss, brach immer alles zusammen. Ich frage mich heute noch, wie es sein kann, dass eine Mutter ihre Kinder nicht so sehr liebt, dass sie ihre Krankheit besiegt.
Viele Heimkinder verfallen irgendwann in das Muster ihrer Eltern. Ich weiß, was es mit mir gemacht hat und deshalb wird mir das nicht passieren, allein schon, weil ich das für meine Kindern nicht will.
Hast du psychische Schäden aus der Zeit davongetragen?
Ich hatte über die Zeit immer wieder mit Depressionen zu kämpfen. Die erste hatte ich mit 13 Jahren in der Wohngruppe in Brandenburg. Die nächste mit 16 und die letzte vor einem Jahr mit 18. Was mir in diesen Zeiten immer geholfen hat war, richtig laut zu weinen oder, wenn es sehr schlimm wurde, eiskalt zu duschen. Und der Kontakt zu meinen Freunden. Dadurch wusste ich, dass ich nicht so alleine bin wie ich mich fühle. Selbst verletzt habe ich mich nie. In meiner letzten Depression wurde es allerdings irgendwann so schlimm, dass ich eine Sozialphobie entwickelt habe. Als ich meine Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen wollte und Panikattacken dazu kamen, habe ich mir Hilfe in einer Tagesklinik gesucht. Das hat mir sehr geholfen.
Mittlerweile sehe ich mich nicht mehr als Fehler. Auch wenn es harte Arbeit ist, aber ich gebe mir große Mühe!
Hast du im Heim Gewalt erlebt?
In meiner ersten Pflegefamilie, in die ich mit neun Monaten kam, wurde ich geschlagen, wenn ich keinen Mittagsschlaf machen wollte oder weinte, weil ich meine Mutter vermisst habe. Bewusst wahrgenommen habe ich das mit eineinhalb Jahren. Mit zwei Jahren, als ich das Sprechen gelernt habe, konnte ich das endlich sagen und wurde aus der Familie geholt. Außerdem haben sie mich gezwungen, rohe Kartoffeln zu essen.
In den Wohngruppen boxen Kinder schon mal aus Wut gegen Wände oder kloppen sich miteinander. Das finde ich aber verständlich. Krasser waren zwei Erlebnisse in meiner letzten Wohngruppe. Ein Mädchen hat sich regelmäßig geritzt und mit den blutigen Armen an den Tisch setzte. Sie wurde in eine Klinik eingewiesen.
Mittlerweile sehe ich mich nicht mehr als Fehler. Auch wenn es harte Arbeit ist, aber ich gebe mir große Mühe!
Bei einem anderen Mädchen aus einer Pflegefamilie ist der Drogenkonsum in der Wohngruppe komplett eskaliert. Sie hat sich eine Drogenbombe mit Koks, Speed, Ecstasy und Halluzinogenen geschmissen. Am nächsten Morgen wurde sie nur gefunden, weil eine Mitbewohnerin immer wieder zu unserem Betreuer gegangen ist und ihm sagte, dass sie ein Stöhnen aus dem Zimmer hören würde. Unser Betreuer ist nicht sofort reingegangen, weil er dachte, sie hätte vielleicht Sex. Das ist zwar verboten, aber kommt natürlich trotzdem vor. Sie lag vollgekotzt im Bett, aus ihrem Mund lief Blut. Sie war komplett drauf und hat immer wieder creepy gelacht. Als der Krankenwagen drei Minuten später ankam, hatte sie gerade einen Herzstillstand. Es war eine Sache von Sekunden, sonst wäre sie wahrscheinlich gestorben. Das war ein echter Schock. Sie hatte nur Einsen auf dem Zeugnis und sah immer glücklich aus. Drei Tage lag sie im Koma, das war die stillste Zeit, die ich in meiner Wohngruppe jemals erlebt habe.
Gab es in deinen Wohngruppen sexuelle Übergriffe?
In meiner Wohngruppe in Brandenburg hat eine Mitbewohnerin ein anderes Kind gezwungen, sich auszuziehen und sie anzufassen. Sie war selbst ein Opfer von sexuellem Missbrauch. Opfer werden leider oft selber zu Tätern. Vor zwei Jahren war in den Nachrichten, dass ein 16-Jähriger eine Neunjährige vergewaltigt hat. Das ist in meinem alten Wohnhaus passiert. Das hat mir richtig weh getan. Das war für eine Zeit lang mein Zuhause. Ich kann so etwas nicht verstehen. Deshalb halte ich mich so gut es geht fern von älteren Männern und achte sehr darauf, dass ich nie “flirty” mit ihnen rede. Ich habe zu große Angst, dass mir so etwas auch passieren könnte. In meinem Freundeskreis ist das leider schon vorgekommen.
Bist du wütend auf deine Familie?
Ja und Nein. Wir haben uns das alle nicht ausgesucht. Weder meine Mutter ihre Alkohol- und Drogensucht, noch mein Vater die Obdachlosigkeit und seine Lungenerkrankung.
Auf meine Brüder bin ich schon ein bisschen sauer, weil sie Emotionen nicht so an sich ran lassen. Dadurch fühle ich mich damit ein bisschen allein gelassen. Meine große Schwester kann das zwar besser nachempfinden, aber sie macht sich nicht mehr so große Gedanken zu dem Thema. Für mich ist das alles noch schwieriger. Für meinen Vater habe ich immer nur Liebe empfunden. Bis auf die Zeit, als er im Obdachlosenheim gewohnt hat. Als ich ihn dort besucht habe, habe ich mich vor ihm geekelt. Er hat gestunken, alles war dreckig.
Fühlst du dich im Nachteil gegenüber Gleichaltrigen mit intakten Familien?
Ich bin traurig, dass ich es selber nicht hatte. Das gemeinsame Abendessen, oder eine Mutter die dich anmeckert, weil dein Zimmer nicht aufgeräumt ist. Ich musste lernen, schneller erwachsen zu werden als andere, und ich habe Bindungsprobleme. Jede Pflegefamilie, jedes Heim hat etwas bei mir hinterlassen. Aber ich sehe es mittlerweile positiv. Wäre das alles nicht passiert, hätte ich immer bei meiner Mutter gelebt und wäre niemals in meine letzte Wohngruppe gekommen. Ich wurde dort aufgefangen und man hat sich um mich gekümmert, mich gefragt, wie es mir wirklich geht. Ich weiß, dass ich auf einem guten Weg bin. Ich habe meine Schule abgeschlossen, eine Ausbildung gemacht und lerne mit meinen Problemen umzugehen.
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