Die Deutsche Bahn ist das mallorquinische Touristenlokal unter den Fernverkehrsmitteln. Nur, dass sie nicht das Besteck zum Essen extra berechnet, sondern den Sitzplatz für die 160-Euro-Fahrt. Das beschissene Preis-Leistungsverhältnis bleibt allerdings gleich.
Heiko, der eigentlich anders heißt, arbeitet seit mehr als 20 Jahren für die Deutsche Bahn. Er ist Lokführer. An fünf bis sechs Tagen die Woche fährt er Güterzüge von A nach B. Offiziell arbeite er zehn Stunden am Tag, sagt er. Die Bahn habe allerdings eine eigene Definition von Arbeit, deswegen würde die oft mehrstündige Anfahrt zwar bezahlt, aber nicht angerechnet werden. “Nach so einer Zugfahrt bin ich natürlich trotzdem geschlaucht. Das kennt ja jeder, der in den Urlaub fährt”, erzählt der Mann Anfang 40.
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Obwohl die Lokführer der DB laut GDL-Chef Claus Weselsky gemeinsam rund drei Millionen angesammelte Überstunden haben, sagt Heiko, dass er seinen Job gerne macht. “Aber das Unternehmen gefällt mir nicht mehr”, fügt er hinzu.
Wir haben Fragen.
VICE: Bist du schon mal betrunken Zug gefahren?
Heiko: Nein. Übermüdet und krank, ja. Aber nie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Merken würde das aber höchstens der Kollege, der mich ablöst. Alkoholismus ist stark verbreitet unter Schichtarbeitern. Wir sind zwar noch nicht so schlimm wie Piloten, aber ich habe schon mehrfach Kollegen mit Fahne abgelöst. Im Kühlschrank vom Führerstand finde ich manchmal eine Schnapsflasche. Einmal habe ich einem Kollegen gesagt, dass er sich jetzt entweder krank meldet oder ich die Bullen rufe. Ich glaube, zum Chef würde ich aber nie gehen. Ich könnte das zwar anonym melden, aber Kameradenschweine sind wir alle nicht.
Was hasst du an der Deutschen Bahn?
Die Strukturen. Die ganze Planung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Von 20 Schichten fahre ich 19 nicht so wie geplant. Manchmal gibt es den Zug, den ich fahren soll, gar nicht. Einmal im Monat komme ich zur Arbeit und meine Schicht fällt aus. Im Güterverkehr haben Züge manchmal drei Tage Verspätung. Wir haben keine Leute mehr. Die Bahn hat jahrelang niemanden ausgebildet oder eingestellt. Privatunternehmen zahlen teilweise doppelt so viel. Laut Tarif arbeiten wir 38 Stunden, aber unter 50 Stunden kommt keiner raus. Abbauen können wir die Überstunden auch nicht. Selbst bei einem familiären Notfall bekomme ich nicht frei. Das regelt man dann halt mit seinem Hausarzt und gut ist. Das Problem in unserer Firma ist leider, dass man das so eskalieren lässt. Ich glaube, kein Unternehmen in Deutschland kommt so billig an Überstunden wie die Deutsche Bahn.
Hat die Bahn wirklich so viele Störungen oder ist das ein Codewort?
Wenn es um Fahrzeug-Störungen geht, stimmen die Durchsagen. “Störungen im Betriebsablauf” können aber alles sein. Es gibt ein Programm, in dem uns der Verspätungsgrund angezeigt wird: Da steht einmal die interne Begründung und einmal das, was wir extern weitergeben. Die Diskrepanz dazwischen ist relativ witzig. Einmal hat mir ein türkischstämmiger Lokführer erzählt, dass die Polizei ihn verhaftet hat. ICE-Fahrer müssen ihre Dienstkleidung mittlerweile nicht mehr zwingend tragen und fahren oft in Jeans. Der Kollege hat gesagt, dass er vorne in den ICE gestiegen ist und losfahren wollte. Die Passagiere haben gedacht, er sei ein Terrorist. Dann haben sie die Polizei gerufen. Die hat am Fenster geklopft und gefragt, was er da mache. Er hat erklärt, dass er den Zug fährt, aber die Polizistin meinte: “Seit wann fahren Islamisten denn Züge?” Zur Klärung musste er mit auf die Dienststelle und der Zug stand mit mehreren Hundert Reisenden am Bahnsteig. Ich hab die Geschichte nie überprüft, aber so hat er es mir erzählt.
Hast du schon mal jemanden überfahren?
Ja. Für mich war das die krasseste Erfahrung meines Lebens. Ich war selber erschrocken, wie emotional ich darauf reagiert habe. Ich dachte immer, wenn es knallt, knallt es halt. Aber das ist dann doch nicht so, wenn du wirklich die Klamotten fliegen siehst. Diese Machtlosigkeit, wenn du auf jemanden zu rast, aber nichts machen kannst, war das Schlimmste. Laut meiner Psychologin wollen Menschen, die sich vor Züge werfen, beim Sterben Aufmerksamkeit. Keiner springt nachts um eins vor den Zug. Das passiert meistens in der Hauptverkehrszeit. Die Menschen gucken dir in dem Moment genau in die Augen. Ganz krank ist das.
“Keiner fragt einen Feuerwehrmann, wie viele tote Kinder er schon aus einem Autowrack geschnitten hat.”
Wenn man jemandem erzählt, dass man Lokführer ist, lautet die erste Frage immer, ob man schon mal jemanden überfahren hat. Das ist so pervers. Die ganze Welt regt sich über Leute auf, die an einem Unfall vorbeifahren und ihr Handy zücken, aber diese Frage ist im Prinzip nichts anderes. Man ergötzt sich an einer Leidensgeschichte. Ich finde, man kann dieses Thema bewusst totschweigen. Keiner fragt einen Feuerwehrmann, wie viele tote Kinder er schon aus einem Autowrack geschnitten hat. Oder einen Gynäkologen, wie viele Totgeburten er schon auf die Welt gebracht hat. Ich wusste, dass dieser Teil zu meinem Beruf gehört. Aber ich krieg keinen Orden dafür. Man ist nicht erst ein richtiger Lokführer, wenn einem sowas passiert ist.
Schon mal was am Zoll vorbei geschmuggelt?
Nein, aber ich musste mich mal für den Zoll ausziehen. Ich war als Fahrgast im ICE und die Beamten hatten einen Hund dabei. Der hat irgendwas gerochen und gekläfft. Also stand ich da in Uniform und musste mitgehen. Im Kinderabteil wurden meine Taschen durchgeguckt. Obwohl nichts gefunden wurde, hat der Hund keine Ruhe gegeben. Also musste ich mich ausziehen. Ich hatte zwar nichts dabei, aber es war mir schon peinlich, in Dienstkleidung abgeführt zu werden. Güterzüge werden eigentlich nie kontrolliert. Theoretisch könnte ich also Drogen schmuggeln.
Wie viele Tote hast du schon an Bahngleisen gesehen?
Bestimmt schon 100 Stück. Wer jemanden überfährt, darf nicht weiterfahren. Die Ablöse muss vor der Weiterfahrt die Maschine untersuchen. Dabei fällt dir auch schon mal das ein oder andere Leichenteil in die Hände. Eigentlich wird die Strecke erst wieder freigeben, wenn alle Teile eingesammelt sind. Manchmal wird leider nicht alles gefunden. In der Werkstatt kommt der erste, der da drunter geht, manchmal kotzend wieder hoch, weil er den Kopf in der Hand hält. Wer beim Kontrollieren Leichenteile findet, bekommt 50 Euro. Erschwerniszuschlag.
Wenn ein Lokführer im Schnitt drei Menschen überfährt, warum wird man dann Lokführer?
Man kennt solche Statistiken zwar, aber man vergisst sie. Es gibt Kollegen, die schon zehn Menschen totgefahren haben. Da glaubt man, dass man vielleicht Glück hätte. Aber irgendwann erwischt es dann doch jeden.
Hasst du Menschen oder warum fährst du nur Güterzüge?
Ich hasse Menschen [lacht]. Es ist einfach ruhiger im Güterzug. Im Personenverkehr hast du immer die Uhr im Nacken und musst dich für jede Minute Verspätung vor den Passagieren rechtfertigen. Bei mir ist das egal. Wenn ich dringend pinkeln muss, halte ich den Zug einfach an. Ein Kollege hat sich im ICE mal eine Cola rausgeholt und wurde daraufhin von einem Passagier angeschwärzt, dass er nicht nach vorne gucken würde. Da hätte ich gar keinen Bock drauf.
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Wie gut fühlst du dich auf einen terroristischen Anschlag vorbereitet?
Gar nicht. Mit dem Thema geht die Bahn sehr lapidar um. Eine Bombe im Hauptbahnhof wäre natürlich doof. Aber in Deutschland kann jeder einfach in einen Güterbahnhof gehen. In anderen Ländern werden stehende Züge rundum abgeriegelt. Du glaubst nicht, was bei uns alles geklaut wird. Manchmal werden auf einem Autozug alle Navis und Airbags aus den Autos geklaut. Oder ein kompletter Güterwagen voller Kippen.
Was machst du während der Fahrt, wovon dein Chef lieber nicht wissen sollte?
Rauchen, Musik oder Podcasts hören und telefonieren. Und ich schreibe mir manchmal mehr Stunden auf, als ich wirklich mache. Wir müssen unsere Arbeitszeit selber festhalten. Gerade wenn die Schicht vom Plan abweicht, kann man schon tricksen. Manchmal liege ich schon seit zwei Stunden auf der Couch und werde trotzdem noch bezahlt. Im Jahr erschleiche ich mir so 50 Stunden.
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