Eine Couch steht nicht in der Kölner Praxis von Daniel Wagner. Der 34-jährige Psychotherapeut sitzt seinen “Klienten”, wie er sagt (“Ich möchte die Leute nicht kränker machen, als sie sind”) in seinen Therapiestunden halbschräg gegenüber. “So bin ich zugewandt, lasse den Klienten aber auch genug Raum, um meinem Blick auch mal auszuweichen.” Ausweichen, das können sie ihm auch, falls er ihnen zufällig privat über den Weg läuft. Dafür hat er eine klare Regel: Er grüßt nie von sich aus. “Sie sollen nicht in die Verlegenheit kommen zu erklären, wer ich bin. Wenn sie grüßen, grüße ich zurück.”
Auch Medikamentenschränke oder Rezeptblöcke stehen nicht in seinem Arbeitszimmer. Denn: Psychotherapeuten dürfen keine Medikamente verschreiben, sondern nur Psychiater, mit denen sie zusammenarbeiten. Ihr gemeinsames Ziel: psychische Störungen heilen. Und davon gibt es in Deutschland viele. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie schätzt, dass jedes Jahr mehr als jeder vierte deutsche Erwachsene an einer psychischen Erkrankung leidet – knapp 18 Millionen Menschen. Die häufigsten Erkrankungen sind Angststörungen (15 Prozent), gefolgt von affektiven Störungen wie Depressionen (10 Prozent) und Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (knapp 6 Prozent). Das Problem: Wer krank ist, muss oft lange auf einen Therapieplatz warten – oft Monate, bis ein Erstgespräch möglich ist – und ein Erstgespräch ist noch kein Therapiebeginn.
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Unseren Interviewtermin haben wir schneller bekommen. Wir haben Fragen.
VICE: Wollen sich alle Psychologen in Wahrheit nur selber therapieren?
Daniel Wagner: An dem Klischee mag was dran sein [lacht]. Ich kenne Kollegen, bei denen ich schon den Eindruck habe, dass da was im Argen ist. Auf der anderen Seite: Wer kann schon von sich behaupten, “normal” zu sein? Ich nicht. Für mich ist es normal und auch spannend, dass wir alle in gewisser Hinsicht schräg drauf sind. Durch meinen Job ist mir klar geworden: Es gibt keine strikte Trennung zwischen gesund und krank. Jeder hat irgendwelche Marotten oder schwierige Kindheitserfahrungen gemacht. Zum Problem werden Verhaltensmuster und Gewohnheiten, wenn sie Leidensdruck verursachen.
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Was sind deine schlimmsten Kindheitserfahrungen?
Ich hatte sicher keine ausgesprochen schwierige Kindheit. Aber wenn man sich viel mit sich beschäftigt, und das tut man in der Ausbildung zum Psychotherapeuten, reflektiert man auch die eigene Kindheit. Bei mir war es so, dass ich ein Harmonisierer war. Wenn es Konflikte zwischen meinem Bruder und meinen Eltern gab, wollte ich das befrieden. So etwas kann zu einer Strategie fürs Leben werden: Konflikte schlichten und mehr auf das Wohl anderer zu achten als auf sich selbst. Heute weiß ich, dass es wichtig ist, fürsorglich zu mir selbst zu sein.
Stichwort Mimimi: Wie oft bist du genervt vom Gejammer deiner Patienten?
Wenn jemand die Hürde nimmt und zum Psychotherapeuten geht, ist meistens auch etwas los. Das macht niemand, um sich nur auszuheulen. Deshalb finde ich nicht, dass meine Klienten jammern. Was für andere Wohlstandsgejammer sein mag, ist meistens der Ausdruck eines tieferliegenden Problems.
Du bist an die Schweigepflicht gebunden. Aber mal ehrlich, wie oft erzählst du richtig gute Geschichten weiter?
Es gibt tatsächlich Klientengeschichten, bei denen es reizvoll wäre, mit Freunden darüber zu sprechen. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Die Schweigepflicht ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für meinen Beruf. Zu mir kommen auch Politiker, Schauspieler, bekannte Unternehmer. Da ist es für eine vertrauensvolle Beziehung unerlässlich, dass ich Dinge für mich behalten kann. Auch wenn es manchmal schon um krasse Themen geht. Zum Beispiel um Wirtschaftskriminalität oder andere Dinge am Rande der Legalität. Manchmal weiß ich schon, dass eine Bombe platzen wird, bevor die Tagesschau darüber berichtet.
Wie oft ertappst du Patienten beim Lügen?
Natürlich kommt es vor, dass Patienten mir nicht die Wahrheit sagen. Zum Beispiel beim Thema Erektionsstörungen. Viele Männer erzählen das nicht in der ersten Sitzung, manche verhalten sich sogar besonders männlich, um einen guten Eindruck zu machen. Erst wenn ein Vertrauensverhältnis entstanden ist, erzählen sie von ihrem Problem. Das ist aber völlig OK. Es ist gar nicht meine Aufgabe, jemanden zu demaskieren. Ich bin ja kein Polizist oder Jurist, sondern Therapeut, und arbeite für und nicht gegen meine Klienten.
Fürchtest du dich manchmal vor deinen Patienten?
Es gibt Situationen, in denen eine Anspannung herrscht, in denen ein Klient auch mal aggressiv reagieren kann. Angst davor, dass jemand mich körperlich angreift, hatte ich aber noch nie. Manchmal sorge ich mich darum, dass durch die Handlung meines Klienten etwas passieren könnte, wofür ich als Therapeut auch eine Verantwortung trage. Ich arbeite beispielsweise auch mit pädophilen Klienten zusammen. Klar befürchte ich da, dass der Klient Gedanken oder Impulse umsetzt und etwas Schlimmes tut.
Hat sich von deinen Patienten schon jemand umgebracht?
Bisher zum Glück nicht. Ich weiß aber auch: Es ist hochwahrscheinlich, dass das noch kommen wird. Es kommt aber vor, dass mir ein Klient sagt, dass er sich umbringen will. Dann ist es meine Verantwortung zu prüfen: Schafft er es bis zur nächsten Sitzung oder muss ich ihn vor sich selbst schützen und einweisen – notfalls auch gegen seinen Willen. Zwangseinweisungen sind aber sehr selten, die Klienten sind meistens einsichtig.
Kannst du jeden zum Weinen bringen, wenn du willst?
[Überlegt eine Weile] Ich glaube nicht. [Überlegt nochmal] Nein. Die Antwort ist: Nein. Wenn ich jemanden sehr gut kenne, wüsste ich schon, was ihn sehr treffen könnte. Aber warum sollte ich ihn da triggern? Und in der Therapie muss ich das gar nicht. Grob geschätzt liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Klient während einer Sitzung weint, bei 50 Prozent. Die Tränen kommen von alleine.
Wie oft verlieben sich Patienten in dich?
Das kommt schon vor – bei Männern und Frauen. Manche sprechen das ganz direkt an, häufiger kommt aber die Frage, ob wir nicht mal privat etwas unternehmen wollen. Als Therapeut bin ich derjenige, der dir uneingeschränkt zuhört. Der alle Aufmerksamkeit auf dich richtet. Ich bin die Person, die sich deine Befindlichkeiten anhört, die dich ernst nimmt und dir dabei zur Seite steht – natürlich ist das hochattraktiv. Ich sage meinen Klienten dann, dass ich mich geehrt fühle und schildere, warum das so ist. Ich fange grundsätzlich nie mit meinen Klienten etwas an. Das ist mir auch aus gutem Grund verboten. Bis zehn Jahre über das Therapieende hinaus darf ich keine privaten oder auch geschäftlichen Beziehungen mit Klienten eingehen. Denn es gäbe immer dieses Gefälle. Da vertraut sich mir jemand an, möglicherweise mit hochbrisanten Infos, die ich immer auch gegen ihn nutzen könnte.
Wie anstrengend ist es, mit einem Psychotherapeuten zusammen zu sein?
Ich glaube, das ist super [lacht]. Ist es nicht das Beste, was einem passieren kann [lacht lauter]? Wo findet man denn einen gefühlvollen Mann, der weiß, wie man mit Emotionen umgehen kann? Der überhaupt weiß, dass es Emotionen gibt? Der auch mal zuhören kann. Das ist doch toll.