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​10 Jahre Wikileaks: Der Aufstieg und Fall einer noch immer großartigen Idee​

Es ist schwer, über Wikileaks zu schreiben und über Julian Assange zu schweigen. Antisemitische Ausfälle über den offiziellen Wikileaks-Account, fragwürdige Veröffentlichungen und sein Satz: „Ich bin Wikileaks!“; das sind nur drei Beispiele für Aussagen und Strategien des Wikileaks-Gründers, mit denen er seiner Plattform keinen Gefallen tut.

Vor zehn Jahren, am 4. Oktober 2006 hat Wikileaks seine Domain angemeldet. Die Plattform verpasste dem Anspruch der Medien, als „Vierte Gewalt” ein öffentliches Korrektiv gegen die Mächtigen zu bilden, ein gehöriges digitales Update (nicht umsonst bezeichnen sich Wikileaks-Mitarbeiter selbst als Journalisten) und sorgte in den vergangenen zehn Jahren auch in der internationalen Politik für große Unruhe.

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Das Vertrauensproblem der etablierten Medien zeigte sich selten so deutlich wie bei den Panama Papers

Die Organisation ist von Anfang an stark von Julian Assange geprägt, aber sie verkörpert eine Idee, die auch ohne ihn gilt. Legen wir also die Person Assange für einen Moment zur Seite und sprechen über das radikale Prinzip, das Wikileaks berühmt gemacht hat und das vor zehn Jahren tatsächlich nicht weniger als eine revolutionäre Neuheit in die globale Medienlandschaft brachte.

Mit Daten gegen die Mächtigen

Es ist das Prinzip, dass das Gleichgewicht der Machtverhältnisse zwischen Öffentlichkeit und dem Staat oder multinationalen Firmen nur durch die Leaks von geheimen Dokumenten gewahrt werden kann. Da Informationen und Daten längst auch Macht sind, funktioniert Demokratie im digitalen Zeitalter nur, wenn höchstens minimal redigierte Datensätze Transparenz über unethisches Verhalten schaffen, so die These—und wenn ihre Quellen als Whistleblower anonym bleiben können. Das Prinzip findet in den folgenden Jahren immer mehr Anhänger. Darunter sind auch Hacker, die den Mächtigen den Spiegel vorhalten und später von ihren Regierungen als Feinde verfolgt werden.

Mark Fenster, der als Professor an der University of Florida lehrt und sich in seinem im nächsten Jahr erscheinenden Buch „The Transparency Fix” ausführlich mit Wikileaks auseinandersetzt, betont im Telefongespräch mit Motherboard die Bedeutung der Idee hinter Wikileaks: „Das Modell von Wikileaks ist nicht verschwunden. Es ist genauso brauchbar wie vor zehn Jahren.” Suelette Dreyfus, die schon 1997 zusammen mit Assange das Buch „Underground” veröffentlichte, schreibt in einer Neuauflage über Wikileaks : „Der Website ist der frühe Hacker-Ethos anzusehen.” Dieser Ethos lässt sich anhand zweier Sätze erzählen, die beide über Jahrzehnte hinweg eine Bewegung definiert haben—die Bewegung der Hacker.

Sie lauten:

Information wants to be free.
Information should be free.

Der erste Satz ist die bekanntere Version, ein Hacker-Leitmotiv mit einem eigenen Wikipedia-Eintrag. Der zweite Satz ist der, den Chelsea (damals: Bradley) Manning in einem Online-Chat als Begründung für ihren Leak zitiert und der aus dem „Hackers”-Buch von Steven Levy stammt. Es gibt gute Gründe dafür, beide Sätze in Frage zu stellen.

Informationen wollen frei sein: Mit diesem Satz lässt sich das von Wikileaks veröffentlichte „Collateral Murder”-Video erklären, ebenso die Irak- und Afghanistan-Tagebücher und die Botschaftsdepeschen. Es ist der Glaube daran, dass derartige Veröffentlichungen die Öffentlichkeit, erstens, mit Wissen ausstatten, also das Schweigen brechen. Zweitens, als direkte Folge davon, sollen autoritäre Tendenzen einer Regierung kritisiert und effektiv geschwächt werden.

Signal Intelligence > Human Intelligence: Dokumente > Menschen

In diesen Sätzen steckt auch der Glaube daran, dass Dokumente wichtiger sein können als Menschen, die die gleichen Informationen weiterleiten. Assange bezeichnet das Veröffentlichungskonzept von Wikileaks einmal, etwas verwirrend, als „wissenschaftlichen Journalismus”, den er so erklärte: „(Er) erlaubt es dir, eine Nachricht zu lesen und dann das Original-Dokument anzuschauen, auf dem sie basiert.”

Dieses Veröffentlichungsgebot, das den Lesern eine Möglichkeit der Überprüfung von Dokumenten und Quellen bietet, ist inzwischen längst in großen Medienhäusern angekommen und vor allem bei größeren Recherchen entweder Standard oder zumindest als journalistisches Ideal allgemein akzeptiert. Das haben erst in diesem Jahr die Panama Papers eindrucksvoll gezeigt, die zuerst von der SZ und internationalen Partnermedien mit einigen Dokumentenausschnitten veröffentlicht wurden und schließlich als große, durchsuchbare Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

In anderen Worten: Wenn heute sämtliche großen investigativen Recherchen mit den Original-Zeugnissen versehen werden, wenn wir gleichzeitig über öffentliche Datenbanken verfügen, die voll sind mit Dokumenten, die geheim bleiben sollten (seien es nun die der NSA oder die von Offshore-Firmen), dann ist das nichts anderes als die Etablierung eines zentrales Wikileaks-Prinzips. „Es ist nur fair zu sagen, dass Wikileaks die erste Organisation gewesen ist, die das erfolgreich umgesetzt hat und dafür Anerkennung verdient”, erklärt Fenster gegenüber Motherboard.

Das technische a priori der Informationsfreiheit

Doch schauen wir uns das erste zentrale Prinzip noch einmal genauer an: „Informationen wollen frei sein”. Es ist ein Satz, der nur aufgrund technischer Voraussetzungen funktionieren kann: Verschlüsselungstechnik zum Schutz der Whistleblower, und Kommunikationsmittel zur massenhaften, kostenlosen Verbreitung der Dokumente—das sind die beiden zentralen technischen Grundlagen, auf denen das Prinzip Wikileaks beruht und die sie mit ihrem anonymisierten Briefkasten und ihrer Website umsetzen.

Demonstranten protestieren vor der ecuadorianischen Botschaft anlässlich des Wikileaks-Geburtstags für Julian Assange. Bild: Imago

Trotzdem bleibt die naheliegende Frage: Wollen Informationen in einer Demokratie wirklich immer frei sein? In seiner Autobiografie schrieb der berühmte Investigativjournalist Daniel Ellsberg, Mr. Pentagon Papers, dass es ein irreführender Gemeinplatz sei zu behaupten, dass man in einer Demokratie kein Geheimnis für sich behalten könne. „Solche Plattitüden sind falsch”, kritisiert Ellsberg. „Fakt ist, dass der größte Teil aller Geheimnisse der amerikanischen Bevölkerung nicht geleakt werden.”

Mit dieser Aussage dürfte er Recht haben. Das Überwachungsprogramm der NSA blieb jahrelang geheim. Fast 100 Jahre lang waren Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg geheim, in denen von Geheimtinte aus Deutschland die Rede ist. Barack Obama hat zwar angekündigt, für eine transparente Exekutive zu sorgen. Tatsächlich geht er aber so aggressiv gegen Whistleblower vor wie kein US-Präsident vor ihm. Sogar Michael Hayden, einstiger Chef von CIA und NSA, regt sich regelmäßig darüber auf, dass die US-Regierung zu viel geheim hält.

Technik führt eben nicht automatisch zu gesellschaftlichem Wandel

Kann man deshalb wirklich sagen, dass Informationen per se frei sein wollen? Die Existenz von Wikileaks scheint bereits Antwort genug zu sein. Würde Information frei sein wollen, gäbe es schließlich gar keinen Bedarf für die Plattform. Davon, dass Informationen schon von sich aus frei sein wollen, kann keine Rede sein—sie müssen in den meisten Fällen schon gezwungen werden.

Allein die technische Möglichkeit, dass radikale Transparenz auf Bit-Ebene möglich ist, heißt im Umkehrschluss eben nicht, dass die Daten auch frei sein werden, dass die technischen Möglichkeiten eben auch genutzt werden. Schließlich braucht es den Auftritt einer Instanz, des Whistleblowers, der sich gegen gegen Druck von innen und von außen dafür entscheidet, Informationen aus ihrem Kontext zu reißen. Offensichtlich leben wir nicht in einer Gesellschaft, die darauf angelegt ist, dass Informationen frei sein wollen.

Wie Edward Snowden das „sollte” gleichzeitig bestätigt und widerlegt

Bleibt der zweite Satz, Informationen sollten frei sein. Spätestens jetzt müssen wir zurück zu Assange. Schließlich ist die Art, wie Wikileaks Rohdaten veröffentlicht, ein Grund dafür, warum sich die Organisation nach all den Jahren zunehmend ins Abseits manövriert und sogar Kritik von dem prominentesten Whistleblower der vergangenen Jahre, Edward Snowden, auf sich zog. Dass nur die weitgehend kompromisslose Veröffentlichung von Rohdaten die von Assange gewünschte Transparenz bringt, ist dennoch eine Überzeugung, die er seit Jahren unbeirrt vertritt.

Assange soll sich bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Protokolle dagegen entschieden haben, Namen von Zivilisten zu schwärzen, die als Informanten dienten. Seine Begründung lautete nach Angaben des britischen Journalisten Nick Davies: „Falls ein afghanischer Zivilist den Einheiten der Koalition hilft, verdient er es, zu sterben.” Insgesamt wurden 100 Namen publik (nach allem, was bekannt ist, ist keine dieser Personen gestorben). Doch die Frage nach dem „sollte” dürfte damit beantwortet sein.

Das Modell der kuratierten Leaks

Zumindest größere Datensätze und Dokumente werden außerhalb von Wikileaks derzeit in aller Regel nur in „kuratierter” Form veröffentlicht. Im Fall der Panama Papers hat sich ein Team aus rund 400 Journalisten durch Datensätze gewühlt und anhand des „öffentlichen Informationsinteresses” entschieden, was publik werden soll. Das ist ein Prinzip, gegen das sich Assange stellt. Immer wieder hat Assange jedoch auch bei einzelnen Enthüllungen mit Zeitungen für maximale Reichweite des Leaks kooperiert. In einem Fall ließ man sogar das Pentagon über die New York Times anschreiben; die US-Behörde reagierte jedoch nicht und gab später Wikileaks für angeblich fehlende Schwärzungen die Schuld. Der Fall zeigt eindrücklich, wie sich eine staatliche Stelle hartnäckig weigert Wikileaks beim Redigieren der Dokumente zu helfen.

Das Prinzip der Daten-Lecks hat sich in den vergangenen zehn Jahren ausdifferenziert. Längst haben auch die großen Tageszeitungen mit eigenen Einreichungsplattformen nachgezogen (auch VICE Media besitzt einen solchen anonymen Online-Briefkasten), es gibt viele verschiedene Formen, wie Dokumente an die Öffentlichkeit kommen können und inzwischen ist klar: Jedes Leak braucht seinen passenden Veröffentlichungskanal. Sollten Informationen also frei sein? Nach zehn Jahren lässt sich wohl sagen: Das kommt ganz auf die Informationen und die Art der Enthüllung an—starr an dem Paradigma der Informationsfreiheit festzuhalten ist aber nicht immer die beste Entscheidung.

Und schließlich wäre da noch das Beispiel Edward Snowden: Der NSA-Whistleblower überließ sein Material renommierten Journalisten zur Veröffentlichung und wählte einen Weg, der Anti-Wikileaks ist. Snowden entschied sich dafür, dass Informationen nicht per se frei sein sollten. Zumindest nicht alle.