24 poetische Stunden mit einem französischen Naturwein-Hersteller

Es war einmal Beaujolais, ein 19.000 Hektar großes Weinanbaugebiet nördlich von Lyon. Dort lebten 3.000 Weinproduzenten in Harmonie zusammen – egal ob sie herkömmliche, Bio- oder Naturweine herstellen. Einer von ihnen war Sylvère Trichard. Als junger Winzer war er überzeugt, exzellenten Naturwein herstellen zu können. Bald trat dieses Ziel aber in den Hintergrund.

Im Moment schläft Sylvère. Sein Kopf liegt auf dem Tisch. Zwischen den fast leeren Gläsern und Weinflaschen beginnt seine Nacht. Es ist ein Uhr. Mathilde, seine Lebensgefährtin, ist mit dieser Szene bestens vertraut. Sanft weckt sie ihren Freund. Sylvère hebt seinen Kopf, begrüßt uns mit halboffenen Augen und schleppt sich aufs Sofa in der Küche. Die Gläser werden wieder gefüllt und der Winzer träumt in seinem verschlafenen, aber wachen Zustand vor sich hin.

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Sylvère Trichard in einem nachdenklichen Moment

Inzwischen ist es neun Uhr morgens und der wortkarge Winzer hat sich in einen gastfreundlichen jungen Mann verwandelt. Er steht am Herd. Die bereitliegenden Karotten und Fleischstücke lassen erahnen, dass es gleich Bœuf bourguignon gibt. Ein blonder Wuschelkopf betritt die Küche. Sylvères Sohn, Léon, ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie schläft im Nebenzimmer.

Das Bœuf bourguignon
Mathilde und Léon

Im Haus der Trichards riecht es nach Glück und Kantine. In meinem Kopf höre ich Beethovens Neunte Sinfonie. Plötzlich platzt es aus Sylvère heraus: “Scheiße, ich habe geträumt, dass wir mit dem Schnitt nicht fertig geworden sind.” Da hat mich die Realität wieder. Im Familienleben der Trichards dreht sich alles um Wein und Vinifikation.

Gestern hat Sylvère nicht geschlafen. Seine Gedanken kreisten nur um seine Weine, die bereits erledigte Arbeit und die Aufgaben, die noch vor ihm liegen. Anfang April hat man die Weinreben gerade erst beschnitten. Dieser Schritt sowie die Auswahl der Knospen sind essentiell. Das alles bestimmt den Ernteertrag und die Qualität der Trauben.

Schon von klein auf steht Sylvère mit beiden Beinen im Weingeschäft. Eingeführt haben ihn sein Großvater und sein Onkel, beide selbst Winzer. Was der junge Sylvère damals aber nicht lernte: Naturisme – oder die Kunst des Naturweins. Dabei wird der Wein während des gesamten Herstellungsprozesses geradezu verhätschelt und der Geschmack nie verändert.

Sylvère erinnert sich: “Meine ersten Naturweine habe ich bei Jean-Claude Lapalu getrunken. Er sprach von Dingen, die für mich fremd waren – etwa natürliche Hefe oder Verzicht auf Schwefelzusätze.” So tauchte Sylvère in die Welt der Naturweine ein und hat diesen Schritt laut eigener Aussage nie bereut.

Für ein Jahr kehrte Sylvère seiner Heimat Beaujolais den Rücken, um in Savoie bei Dominique Belluard zu lernen. Dort hätte er alles über die Grundlagen der biologisch-dynamischen Landwirtschaft erfahren können. Bei dieser Form des Anbaus achtet man genau darauf, welchen Einfluss der Mond und die Sonne auf die Entwicklung der Pflanzen und ihre natürlichen Abwehrsysteme haben. Sylvère passte aber nicht auf – oder zumindest nicht ordentlich: “Ich schwebte über den Wolken. Erst meine eigene Herstellung von Naturwein brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen.”

2012 stieg Sylvère mit 32 – und der “Überheblichkeit eines vermeintlich Allwissenden” – voll ins Naturwein-Geschäft ein. Nach zwei fehlgeschlagenen Ernten schwanden aber seine Hoffnung und sein Kontostand. “Wir gingen fast bankrott”, gibt er zu. Dann kam unerwartete Hilfe: Seine Winzerkollegen aus Beaujolais unterstützten Sylvère und gaben ihm wertvolle Tipps. Dieses Mal passte der Weinmacher ganz genau auf und konnte so seine magere Ernte retten.

Springen wir wieder in die Gegenwart. Es ist Zeit, zum Markt zu fahren. Während der Fahrt erinnert sich Sylvère an die Jahre vor Mathilde: “Ich war wie ein Troll, so richtig mit Truck, Hund und Werkzeug.” Dann kam Mathilde. Seine Stimme und seine Augen verraten, wie sehr Sylvère diese Frau bewundert.

Auch später zu Tisch ist Sylvères verliebtes Lächeln noch da. Jetzt gilt es neben Mathilde aber auch seinem Sohn Léon. Es gibt tausende Arten, seine Liebe zu zeigen. Winzer machen das oft mit ihrem Wein. 2013 war Sylvère zwar finanziell arm, aber reich an Liebe. Also kreierte er seinen “I Only Have Eyes For You”-Wein, um Mathildes Herz zu gewinnen. Dieses Jahr geht es mit der “Little Heart”-Sorte ähnlich weiter. Es ist Mathildes Spitzname.

Nur eine andere Frau hatte schon dasselbe Privileg. Einer von Sylvères besten Weinen ist nach seiner Großmutter Giselle alias “Gisous” benannt. Und das hat sie sich verdient. Denn gerade in den schwersten Zeiten war sie es, die ihn immer unterstützte. Und dann gibt es seit 2016 noch die Sorte “Léon”, mit der Sylvère die Geburt seines Sohns feierte. Winzer sind eben richtige Romantiker.

Draußen wird es langsam dunkel. Es ist später Nachmittag, das Wetter feucht und kalt. Die riesige Käseplatte bleibt majestätisch auf dem Tisch stehen, als wir uns auf den Weg nach draußen machen. Sylvère hat noch tausend Dinge zu tun – zum Beispiel muss er seine Flaschen etikettieren. Trotzdem nimmt er sich die Zeit, sich mit seiner Familie kurz die Beine zu vertreten.

Vor uns erstreckt sich eine apokalyptisch anmutende Landschaft. Ich fühle mich fast wie auf dem Mond. Die Weinreben verschwinden fast inmitten dieser Kargheit, frei von allem Grün. Umso präsenter ist ein orangefarbenes, fast schon übernatürlich wirkendes Kraut.

In Sylvères Anbaugebiet dagegen ist alles grün. Und die Erde hängt an den Schuhen wie ein Geliebter an seiner Geliebten. Daher auch der Name “Terre amoureuse”: ein tonartiger Boden, der nach Regen total klebt. Und keine Frage, Sylvère gibt diese vermeintliche Liebe zu 100 Prozent zurück.

Sylvère lässt die Erde durch seine Finger rieseln und wird ganz stolz, als er über das Potenzial von Beaujolais spricht: “Unser Wein spiegelt eine Region wider – meine Heimatstadt zum Beispiel. Meine Erzeugnisse sind der Ausdruck dessen, was und wer ich bin. Aber mehr noch stehen sie für das Anbaugebiet.”

Zwar passt Sylvère gut auf seine Weinreben auf, aber trotzdem hält er sich nicht mehr streng an die Vorgaben der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Anfangs begeisterte er sich noch für diese Art des Anbaus, aber dann öffneten ihm die Fehlernten die Augen.


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“Das Wichtigste für mich ist, Wein herzustellen. Wenn möglich, ganz natürlich”, erklärt er jetzt. Aus den Anfangstagen ist lediglich der Name des Weins übrig geblieben: “Séléné”, eine Anspielung auf die Göttin des Mondes.

Wir haben viel getrödelt. Es wäre fast schon wieder Zeit für einen kleinen Umtrunk. Aber Sylvère verfällt wieder in seinen angespannten Modus. Es muss noch viel etikettiert werden. Jeder hilft mit. Die Etikettier-Maschine läuft auf Hochtouren. Jérome Balmet stößt zu uns, ein befreundeter Winzer. Wir machen eine Pause und betreten den Keller, in dem sich “Gisous” befindet – der Wein, nicht die Großmutter.

Sylvère öffnet den Hahn eines Fasses und der rote Tropfen fließt in die Gläser. Die aktuelle Kreation des Winzers ist eine Mischung der zwei Weinlesen, die den beiden Frauen in seinem Leben gewidmet sind. Der Wein ist vollmundig und lecker. Kurz darauf hören wir wieder das inzwischen vertraute Geräusch der Etikettier-Maschine. Sylvère muss sich fortgeschlichen haben, um seine Tagesaufgabe zu erledigen.

Inzwischen ist es 22 Uhr. Das Abendessen wird angerichtet. Am Tisch diskutieren alle Anwesenden fröhlich darüber, ob nun Jéromes oder Sylvères Wein besser ist. Beide sind Gamay-Erzeugnisse, die einzigartige rote Rebsorte von Beaujolais. Beide stammen aus der gleichen Erde. Und trotzdem haben beide unterschiedliche Geschmacksnoten – quasi die Handschrift der jeweiligen Winzer.

Die wahllos mit “Trichard” oder “Balmet” gefüllten Gläser knallen. Schon bald sind einige Flaschen geleert. Sylvères Kopf wird wieder schwer, die Augen müde. Und so beginnt für ihn eine weitere Nacht, satt und umringt von geliebten Menschen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei MUNCHIES Frankreich.

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