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Ich habe 24 Stunden im Fitnessstudio verbracht

Eine Frau lehnt erschöpft zwischen zwei Boxsäcken

Nach einem Tag im Fitnessstudio schaffe ich den Weg zur Tramhaltestelle nicht mehr und bestelle mir einen Wagen. Als ich in mein Uber steige, dreht sich der Fahrer nach mir um und fragt: “Warst du gerade trainieren?”

“Ja”, sage ich, “24 Stunden.”

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“Warum das denn?”

Nachdem ich über Jahre nicht einmal versucht hatte, eine Sportroutine zu entwickeln, wollte ich mich nun ausnahmsweise doch der Selbstverbesserung widmen. Und zwar so sehr, dass ich für den Rest des Jahrzehnts damit abschließen kann. 24 Stunden Spiegel-Selfie-Hölle, die ich danach als Health-Bloggerin, die Yoga-Matten über Instagram vertickt, verlassen werde. Zur Vorbereitung kaufe ich mir einen Sport-BH. An der Kasse fragt mich die Verkäuferin, ob ich noch Pads möchte. Ich frage mich, ob ich 24 Stunden ohne Brüste auskomme. Ja, komme ich, und lehne ab.

Der Taxifahrer zuckt mit den Schultern. “Ich trainiere ja auch. Vier Monate schon. Fass mal an.” Er streckt mir seinen Bizeps hin. “Ist schon was, oder? Davor war das Minusbereich.” Ob er Tipps hat? “Proteinkaffee. Du darfst gerne probieren.” Er hält mir den Kaffee unter die Nase. “Klar, Ernährung ist wichtig. Ohne Witz, ohne Spaß. Am Anfang habe ich immer Döner und Ayran bestellt. Jetzt Döner-Box. Ayran kann bleiben. Weißbrot, Alter.”

All die Tipps, hätte ich sie doch 24 Stunden früher bekommen, dann würde ich jetzt nicht in diesem Taxi sitzen, sondern nach Hause joggen.

11:30 Uhr. Ich nehme die Bahn zu John Reed. Ich wollte schon immer mal in voller Sportmontur im ÖPNV fahren und anderen das Gefühl geben, dass sie unreine Haut haben. Vitalität strahlt von innen aus mir heraus. Und mit von innen meine ich den überteuerten Sport-BH. Auf dem Weg google ich, wie ich die ganze Nacht wach bleiben soll. Im Wiki-How-Artikel How to Pull an All Nighter ist als erster Punkt Keep moving aufgelistet. Das sollte ich in einem Fitnessstudio wohl hinkriegen. Weiter unten steht Watch a horror film. Herauszufinden, welche Komplexe man mit Oberschenkelmuskeln kompensieren kann, wird diesen Punkt hoffentlich erfüllen. Geheimratsecken, eine Körpergröße unter 1 Meter 80, der Gedanke, dass Blockchain vielleicht doch nicht die Zukunft ist.

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Ich schaue nickend in die Runde der Trainierenden. Ich bin jetzt eine von euch

Als ersten sportlichen Akt des Tages drücke ich die Tür auf und es liegt vor mir. Das Fitnessstudio: halb Spiegellabyrinth, in welchem mich aus jeder Ecke mein eigenes desillusioniertes Gesicht begrüßt, und halb Fleischauslage, in welcher ich Push-ups machen muss und alle sehen werden, wie sehr meine Arme zittern. Wenn ihr alle kurz mal wegschaut, mache ich vielleicht eine Liegestütze.

Annika, die Kommunikationsmanagerin, wartet auf mich am Empfang. “Ich komme dann hin und wieder vorbei, um zu schauen, ob du noch lebst”, sagt sie mir, während sie mich durch das Studio führt. Boxraum, Ladies Area, Kraft und Ausdauer. Ich schaue nickend in die Runde der Trainierenden. Ich bin jetzt eine von euch.

Ich setzte mich in den Women only-Bereich. Auch ohne Annikas Tour hätte ich den problemlos gefunden, ein Laie würde wohl behaupten, dass die Geräte in Pink gehalten sind. Aber als Frau kann ich versichern: Das sind Berry-Töne. Ich fühle mich in meiner Weiblichkeit abgeholt. Das Innenarchitektur-Konzept kombiniert Shabby-Chic, Bohemian und Frauenarzt. Im Regal, welches die Ladies Area vom Rest des Fitnessstudios trennt, stapeln sich neben Buddha-Statuen Liebesromane mit Titeln wie Ein schönes Mädchen wie ich, Venus mit Laufmasche oder Gegensätze ziehen sich aus von einer Kerstin Gier. Das bringt mich natürlich so richtig in Fitnessstimmung. Ich hoffe, irgendein Mann hier will meinen Bizeps anfassen. Starte jetzt deine Transformation!, steht auf den Screens, die im ganzen Studio verteilt sind.

Im Cardio-Bereich lege ich 100 Meter in 30 Minuten zurück und schaue den anderen dabei zu, wie sie Rorschachtests in ihre Oberteile schwitzen. Ein Mitarbeiter winkt mir zu. “Machst du schon schlapp? Du scheinst nicht in Topform zu sein.” “Na ja … Ich habe auch noch 21 Stunden vor mir.” Der Typ, der mir nichts zutraut, stellt sich als Jonathan vor. Ich bin jetzt seine ganz persönliche Herausforderung. In Squat-Position soll ich Seile schwingen. “Das treibt deine Herzfrequenz hoch.” Schön, aber ich glaube, der ging es auch da, wo sie war, ganz gut. Während er sich nicht anmerken lässt, wie unbegabt ich bin, führt er mich von einer Übung zur nächsten. Ich schwitze und er scheint vergessen zu haben, dass ich noch eine Weile wach bleiben muss.

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Meine Arme zittern. Aber das sieht niemand, weil alle zu sehr mit ihren eigenen Armen beschäftigt sind. Die zittern nämlich auch. Ich stütze mich mit den Unterarmen auf den beiden Armlehnen ab. Ich ziehe meine Beine hoch und strecke sie wieder im Takt zum schweren Atmen des Typen am Gerät neben mir.

“Schicke Hose”, sagt ein Mann zu mir im Vorbeigehen. Ich möchte direkt sauer werden, aber Recht hat er ja eigentlich. Er selbst trägt Shorts, welche seine penetranten Oberschenkelmuskeln zur Schau stellen. Ich erwidere das Kompliment nicht. Irgendwann fängt ein DJ an, ein Set zu spielen. Ein paar schnelle Beats dröhnen durch das obere Stockwerk und untermalen das Summen der Laufbänder. Es wäre fast ein wenig idyllisch, könnte ich das unter Anstrengung verzogene Gesicht des Trainierenden hinter mir nicht in der Fensterscheibe beobachten.

Um 19 Uhr beginnt Jonathans Full Body Workout. Aus den Boxen, die er mitgebracht hat, dröhnt ” Boom Boom Pow” von The Black Eyed Peas und ich freue mich ein bisschen. Nachdem meine Muskeln vorhin ziemlich unsanft aus ihrem Schlaf gerissen worden sind, scheinen Kniebeugen und Gewichteheben ihnen zu gefallen. Und das hängt gar nicht damit zusammen, dass ich mir die Peinlichkeit, vor den anderen aufzugeben, um jeden Preis ersparen möchte. Nach den Stretching-Übungen klatschen sich alle mit ihren verschwitzten Händen ab. Ich bin nicht die Einzige, die erleichtert ist, dass es vorbei ist. Heimlich hatte ich aber vielleicht ein bisschen Spaß.

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Vor mir springt ein Typ mit so viel Lebensfreude vom Laufband, dass ich mich ein bisschen angegriffen fühle

Wenn man die ganze Nacht wach bleiben will, soll man so wenig Kohlenhydrate wie möglich essen, um einen Energie-Crash zu vermeiden, heißt es in How to Pull an All-Nighter: Tips from the Special Forces. Ich esse Brokkoli und Hähnchen zwischen Deo-Schwaden.

Jonathans Schicht ist vorbei und er verspricht mir, morgen Frühstück mitzubringen, wenn seine Schicht beginnt. Bevor er nach Hause fährt, frage ich ihn, was denn das Ekligste oder Merkwürdigste sei, das er hier erlebt hat. “Manche trainieren in Jeans.”

Es ist ein bisschen nach 22 Uhr und ich muss das erste Mal gähnen. Müde mache ich ein paar Schritte auf dem Stepper. Vor mir springt ein Typ mit so viel Lebensfreude vom Laufband, dass ich mich ein bisschen angegriffen fühle. Draußen ist es jetzt dunkel. Das Logo der Tankstelle leuchtet durch die Scheiben. Im Prenzlauer Berg ist es nachts nicht weniger gruselig als in Neukölln. Ich habe schon Schiss, dass gleich ein Young Professional auf einem Lime Scooter ins Fitnessstudio rein düst und mir die N26-Karte abziehen will.

In der Nacht trainieren vereinzelt Männer mit Hanteln im unteren Stockwerk und beobachten ihre glänzenden Oberarme im Spiegel.

Oben sind nur Kalle und ich. Kalle, der Nachtwächter, der mit seiner Schicht immer zwei Stunden früher beginnt, damit er so viele Raucherpausen machen kann, wie er will. Kalle arbeitet schon 11 Jahre hier, ich erst 15 Stunden. Von den rund 100 Stammgästen, die nachts trainieren, kenne er mindestens 70 mit Namen. Er sagt mir, dass er selbst keinen Sport mache. Aber dafür macht er mir Tee (“Pfefferminze. Alle anderen Sorten sind alle.”) und wir setzen uns in die Mitarbeiterküche. Er erzählt mir, wie schlecht gelaunt alle Trainierenden sind, die vor der Arbeit Sport machen. Auf dem Tisch liegt eine Tageszeitung mit der Schlagzeile Der Anfang vom Ende. Es ist 4 Uhr.

Auf den Screens vor meinem Stepper machen ein paar Männer Parkour und skaten eine steile Straße hinunter. Auch nach 16 Stunden mit denselben Clips verziehe ich immer noch das Gesicht, wenn es den einen Skater auf die Fresse haut.

Ich wundere mich über die leeren Laufband-Reihen. In dieser Nachbarschaft, Prenzlauer Berg, wird doch der ein oder andere Elternteil um drei Uhr morgens geweckt, weil der kleine Norman wieder schreit. Und dann ist man wach, geht kurz auf Toilette, sieht sich selbst im Spiegel und merkt, dass die Vollkorn-Toast-Scheiben mit Leerdammer (hauchdünn!) etwas angesetzt haben. Zum Glück ist da John Reed um die Ecke, denken sie vielleicht, tun aber offensichtlich nichts, denn ich bin nach wie vor allein.

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In der Umkleide entscheide ich mich dazu, endlich den ersten Kaffee zu trinken. Ich setze mich auf einen Sessel, ziehe die Beine an und rede mir ein, die ersten Schlucke schon zu spüren, damit meine Augen nicht zufallen. Dann erinnere ich mich an meine Lektüre. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich starte das Laufband. Schritttempo. Vor dem Fenster wird es heller und die Gerätereihen neben mir füllen sich wieder mit fragwürdigen Outfits. Nike-Snapback, Nike-Shorts, Nike-Sneaker, allesamt in Rot. Oder kurze Shorts, Muskelshirt, türkises Beanie, man will ja nicht frieren.

Zurück auf dem Laufband, eine Frauenstimme verkündet den “Wake-up Call!” aus den Lautsprechern. Demonstrativ stelle ich die Geschwindigkeit ein paar Stufen höher

Es ist nach 9 Uhr und ich frage mich, wie ich die letzten drei Stunden überleben soll. Ich lasse meine welken Gliedmaßen in das Polster des Sofas am Eingang sinken. Meine Augenringe fühlen sich wohl. Die der Leute, die einchecken, auch. Bevor mein Körper zu tief in das Polster sinkt, mache ich mich auf den Weg in die Umkleide zu meinem Cold Brew. Die Müdigkeit und die zwei Workouts mit Jonathan machen sich in meinen Muskeln bemerkbar. Meine Beinen zittern, als ich die Treppenstufen runtersteige. Trotzdem bereue ich meine Entscheidung, den Weg in die Umkleide auf mich zu genommen zu haben, kein Stück. Denn irgendwie war man auch nicht wirklich im Fitnessstudio, wenn nicht eine Ex-GNTM-Kandidatin in die Umkleide stürmt und viel zu laut ein Sprachmemo aufnimmt.

Zurück auf dem Laufband, eine Frauenstimme verkündet den “Wake-up Call!” aus den Lautsprechern. Demonstrativ stelle ich die Geschwindigkeit ein paar Stufen höher. Ich höre L’amour toujours von Gigi D’Agostino und laufe in die Unendlichkeit. “Bin gerade etwas überrascht, dass ich dich hier antreffe.” Es ist kurz vor 11 und Annika will nochmal nach mir sehen. Sie ist beruhigt, dass ich noch stehen, ja sogar laufen kann. Dass ich es für sehr möglich halte, dass ich direkt tot umfalle, sobald ich das Laufband ausmache, sage ich nicht. Dramatisch, ich weiß, aber nachdem ich innerhalb von 24 Stunden mehr Sport gemacht habe als in den letzten drei Jahren, auch irgendwie angemessen.

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Ich hole meine Sachen aus dem Spind. Während ich meine Jacke anziehe, frage ich mich, wie viel von der Vitalität von gestern noch übrig ist.

Am Empfang sagt die Studioleiterin: “Ein Typ hat mich gerade gefragt, ob wir die Fenster öffnen können. Dann habe ich gesagt: ‘Die sind doch schon offen.’ Dann er so: ‘Die müsst ihr mehr öffnen. Hier muss Luft rein. Ich habe Angst vor Corona.’” Mit dieser Anekdote werde ich in die reale Welt entlassen.

Hier existiert der Ernst des Alltags in einem Vakuum. Das ist gut so. Ich muss nur an meine Wasserflasche denken und an “Bitte! Immer mit Handtuch trainieren!”. Auch mein desillusioniertes Gesicht spielt eine kleinere Rolle, als ich dachte. So klein sogar, dass ich lüge, wenn ich sagen würde, dass ich nicht das eine oder andere Spiegel-Selfie gemacht hätte.

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