Menschen

Eine Berliner Eckkneipe zeigt uns, wie man mit Querdenkenden umgehen muss

In der Kneipe "Zur Quelle" habe ich verstanden, dass wir offen aufeinander zugehen müssen – selbst wenn wir nach Bier und Schweiß stinken und kaum noch sprechen können.
Die Kneipe Zur Quelle in Berlin Moabit. Hier hat ein Gast kürzlich einen Querdenker argumentativ bloßgestellt.
Foto:  IMAGO / Joko

Am Anfang war sie ein Gerücht. Eine Kneipe, die 24 Stunden geöffnet ist, sieben Tage in der Woche und das ganze Jahr hindurch. Und das bei mir um die Ecke. Ich war damals ein Anfang 20-jähriger Student, der erst vor wenigen Jahren nach Berlin gezogen war und noch gar nicht begriffen hatte, wie viel Freiheit diese Stadt einem Jungen bieten konnte, der die rheinländische Provinz noch in allem spürte, was ihm in dieser Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten Angst machte. Diese Freiheit sollte ich erst verstehen können, als das Gerücht zu meiner Wirklichkeit wurde, zu einem zweiten Zuhause und zu jeder Menge Suff.

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Es war eine Freundin aus Bonn, die in einem Café um die Ecke arbeitete und mit ihren Kolleginnen und Kollegen nach der Schicht oft selbst in die Kneipe ging. "Wie kann es sein, dass du die Quelle nicht kennst, Robert?", fragte sie einmal. Ich hatte keine Antwort darauf, weil ich gerade mit meinen Mitbewohnern am angekokelten Küchentisch in Moabit saß, Billigbier trank und Loona-Songs sang, weil ich kurz vor meinem Erasmus-Jahr in Granada stand und irgendwie Spanisch lernen musste. "Vamos a la playa."

Inzwischen kennen viele Berlinerinnen und Berliner die Kneipe "Zur Quelle". Am Wochenende streamte eine Querdenkerin einen verbalen Schlagabtausch zwischen einem ihrer Gleichgesinnten und einem Besucher der Quelle. Der lehnte sich aus einem Fenster im Hinterzimmer der Kneipe und diskutierte mit den Querdenkern. Seine rhetorischen Mittel waren nicht die, die man in der Uni lernen würde. Sie waren echt, roh und überzeugender, als jeder Virologe es je sein könnte. Dieser Mann verkörperte in dem Moment alles, was die Quelle toll macht. Und was die Quelle zu einer Art real gewordener Utopie macht.


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Als einer der Querdenker behauptet, er lebe in einer Diktatur, weil seine Demo verboten wurde, erwidert der Mann in der Quelle: "Wirst du verhaftet? Gehst du in' Knast, wenn du demonstrieren gehst? In der DDR war das so, hier nicht. Also erzähl' mir hier nichts von der DDR." Als der Demonstrant dann versucht, dagegen zu argumentieren mit "Die DDR is' ja noch friedlich dagegen", deklassiert der aufrechte Trinker ihn auf der Stelle: "Ja, hör doch uff", sagt er. "Warst du Kommunist oder wat? Hast du dem System angehört da drüben? Quatsch nicht so ein Kram, weeßte. Vergleich das nicht mit der DDR, damit komm ich nicht klar."

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Peter Struck hat einmal gesagt, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Ich behaupte, die Freiheit der deutschen Bevölkerung wird in der Kneipe Zur Quelle verteidigt – und zwar von dem Mann, der den Querdenkern die Stirn bot. Dass dieser Mann gerade in der Quelle saß, ist sicher kein Zufall. Denn die Quelle ist ein Hort der Freiheit für jedermann. Ihre schweren, dunklen Möbel, die Holzvertäfelung, all das strömt eine schlichte Erhabenheit aus. Eine Erhabenheit, die ihr mühelos eine Autorität verleiht, wie sie sonst nur Gebäude haben, die Menschen beeindrucken sollen. Bundestage etwa. Oder Weiße Häuser.

Für mich ist die Quelle der Ort, an dem ich erwachsen wurde. Der mich zum Berliner gemacht hat. Hier habe ich Freundschaften geschlossen und gepflegt, Geburtstage gefeiert, geknutscht und geschlafen. Und ich habe verstanden, dass Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn wir einander nicht nur tolerieren, sondern offen aufeinander zugehen – selbst wenn wir nach Bier und Schweiß stinken und kaum noch sprechen können.

Es dauerte nicht lange, bis die Quelle kein Gerücht mehr war, sondern Alltag. Wir waren jedes Wochenende dort, manchmal auch unter der Woche. Hatte ich Dates, nahm ich sie mit in diese Kneipe. Denn wenn eine Frau die schmuddelige Eckkneipe nicht mochte, dann wusste ich, dass ich auch die Frau auf Dauer nicht mögen können würde. Meine Stammkneipe wurde zum Indikator für das Beziehungspotenzial meiner Dates. Und entweder wussten die Frauen das, oder sie mochten die Kneipe wirklich, denn beschwert haben sie sich nicht. Auf weitere Dates mit mir wollten sie trotzdem selten gehen.

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Dabei gibt es Dinge, über die man sich beschweren kann, gerade als Nichtraucher. Wer den Laden betritt, weiß, dass die Klamotten am nächsten Tag unbrauchbar sein werden. Wenn im Winter jemand die Eingangstür öffnet, kann man manchmal Rauchschwaden rauswabern sehen. Die Toiletten sind meistens dreckig, sie sind auch viel zu eng, und die einzige Schüssel auf dem Herrenklo ist meistens belegt. Das mag an dem abführenden Effekt von zu vielen Herrengedecken und Futschis liegen. Oder an den Drogen, die die Berliner Hipster, die hier ein- und ausgehen, darin ziehen.

Denn die Quelle ist schon lange nicht mehr die Arbeiterkneipe, als die sie einmal begann. Ich bin 2009 nach Moabit gezogen und war 2012 erstmals in der Quelle. Schon damals saßen da immer mal wieder ein paar Studis rum, auch weil nur ein paar Stockwerke über der Kneipe eine WG lebte. Die Preise zogen dementsprechend auch immer weiter an. Mittlerweile ist ein Bier hier so teuer wie in mancher Neuköllner Szene-Bar, die neben frisch gezapftem IPA auch selbst kreierten Basilikum-Supergin anbietet. Mittlerweile ist die soziale Mischung ausgewogen, halb halb. Stammgäste über 50, Studierende bis Ende 30 und alles, was mitten in der Nacht sonst keine anderen Anlaufpunkte hat, an denen man sich wegballern kann. 

Auch ich saß hier mit Fabio und David, Alex, Susi, Benelop, Laszlo und all den tollen Menschen, wegen derer ich mich in Berlin bald zu Hause fühlte. Einige Jahre später haben wir hier ein Magazin gegründet, ein wunderhübsches Ding voller Quatsch. David und ich saßen am Abend vor dem Drucktermin in der Quelle und überlegten, was aufs Cover kommen könnte. Und wie der Name lauten sollte. 

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Wir gingen ein paar schlechte Wortspiele durch, bis wir merkten, was der einzig adäquate Name für unser Projekt sein müsste: ZurQuelle Magazin. Die Fraktionen des Paulskirchenparlaments 1848/49, des ersten Demokratieversuchs auf deutschem Boden, hatten sich doch auch nach den Gasthäusern benannt, in denen sie abends berieten und becherten. ZurQuelle und Zur Quelle – zwei Horte der Demokratie also. Den Pathos hinter der Entstehungsgeschichte fanden wir toll.

Denn die soziale Durchmischung und die Gleichberechtigung aller Gäste ist es, was Spaß macht. Das Versprechen dieser Kneipe ist, dass jeder Abend dort ein grundsätzlich anderes Erlebnis wird. Mal sitzt man mit den grauhaarigen Stammgästen am Tresen und duldet die unterschwelligen Beleidigungen für das eigene Weltbild, die Kleidung oder schlicht die Jugend. Oder man sitzt im Hinterzimmer, dem Raum, in dem auch der Gast saß, der den Querdenkern ihre Argumente vor den eigenen Augen in der Luft kaputtballerte. In diesem Raum stehen zwei große Tische, an denen größere Gruppen miteinander ins Gespräch kommen müssen. Hier ist die Party, die Verbrüderung, der Spaß.

Einmal ging ich mit einigen Freunden gegen Mitternacht in die Quelle, schlief dort nach ein paar Stunden ein und saß, als ich aufwachte und den schmerzenden Kopf hob, inmitten einer Gruppe komplett anderer Menschen. Mit denen trank ich dann bis mittags und knutschte sogar mit der schönen Finnin mit den grünen Haaren, die dazukam, als es langsam hell wurde.

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Es gab aber auch diesen Typ, der jedes zweite Wochenende dort war. Er stand meistens in der Nähe der Jukebox und begann dann, Menschen zu beschimpfen, die sich Lieder aussuchten. Nur war er keiner von diesen Leuten, die wirken, als suchten sie zwanghaft Streit. Keiner von denen, die man ignorieren kann. Er schaffte es bei allen, genau die Dinge zu sagen, die schließlich zu einem Kampf führen mussten. Nur gab es auch Sabine, die Frau, die am Wochenende bediente. Sie unterband alle Ansätze von Gewalt.

Sabine war etwa Ende 40 und die tollste Bedienung der Welt. Sie schickte Leute nach Hause, wenn sie zu betrunken waren, nahm sie aber vorher in den Arm, wenn sie spürte, dass es ihnen nicht gut ging. Sie hatte alles im Blick, vergaß keine Bestellung und fand für alle die richtigen Worte. Sie arbeitete fast ausschließlich am Wochenende, wenn die Quelle rappelvoll war, weil sie dieses Rappeln nicht nur ertrug, sondern brauchte. Sie sagte selbst, dass sie den Job nicht machen könnte, wenn sie nur alle paar Minuten ein Bier zapfen müsste. Sabine war immer in Bewegung, und jede Bewegung saß. 

Sie war die ordnungspolitische Macht im Raum. Ihr entging nichts, und wenn sich ein Gast nicht an die Regeln hielt, dann wies sie ihn zurecht und warf ihn notfalls raus. Dafür brauchte sie keine Security, ihre natürliche Autorität reichte. Die demonstrierte sie durch eine Ruhe und Freundlichkeit, hinter der man den Ernst spüren konnte, mit dem jede freundliche Geste gemeint war. Mit Sabine diskutierte man nicht. Man flirtete mit ihr, machte ein Witzchen oder beschwerte sich über andere. Aber man diskutierte nicht. 

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Einmal hatten offensichtlich Neonazis ihre Sticker auf dem Herrenklo verklebt. Als ich das Sabine sagte, ließ sie sofort alles liegen, nahm sich Putzlappen und Spachtel und kratzte sie weg. "So einen Scheiß will ich hier nicht haben", sagte sie. Und ich hatte sie ungeheuer lieb für alles, was sie war, weil ich sehr betrunken war.

In der Quelle hat die Freiheit des Einzelnen fast keine Grenzen. Jeder könne hier nach seiner Fasson selig werden, hätte Friedrich der Große gesagt, wenn er nicht lieber in Potsdam rumgehangen hätte. Einmal war ich mit einigen Freunden in der Quelle, um uns auf die Party vorzubereiten, auf die wir anschließend gehen wollten. Wir hatten kein Kleingeld, also warfen wir gleich zehn Euro in die Jukebox. Wir begannen, die Lieder auszuwählen, als die anderen plötzlich los wollten. Also machten wir es uns leicht und programmierten für den Rest des Geldes Roland Kaisers "Santa Maria" ein. Dann brachen wir auf gen Party, langweilten uns dort bald und saßen zwei Stunden später wieder in der Quelle. Als wir ankamen, lief immer noch Roland Kaiser, und niemand beschwerte sich. Hier kann jeder glücklich werden, bis Sabine meint, dass die Freiheit eines anderen eingeschränkt wird. Und wenn sie das meint, dann hat sie recht, weil sie Sabine ist.

Jahrzehntelang war die Quelle nie geschlossen worden. Als dann im März 2020 die Polizei kam, um die Kellnerin zu bitten, jetzt zuzumachen, wusste die gar nicht, wie das geht. Sie musste erst mal den Schlüssel suchen. Die Freiheit hatte ein Ende. Nur ein paar Monate zwar – und dann noch mal ein paar mehr –, aber weh tat es doch, diese schönste aller Kneipen, in der angeblich schon Lenin getrunken hatte, geschlossen zu wissen.

Und doch sind es nicht die Menschen in der Quelle, die jetzt auf die Straße gehen, um Schwurbelscheiße zu brüllen und Rechtsextremen den Hof zu machen. Nein, wer die Quelle kennt, sie verstanden hat und weiß, wofür diese Institution steht, der stellt sich dem Wahnsinn dieser Leute entgegen. Denn das ist Freiheit und das, was Sabine tun würde.

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