Menschen

Darum können sich manche Menschen nur schlecht Gesichter merken

Nein, sie sind weder überheblich, noch ignorieren sie dich.
Ein computergeneriertes Bild zeigt die Darstellung eines menschlichen Gesichts mit Zahlen und Pfeilen; manche Menschen haben Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen und auseinanderzuhalten, sie sind womöglich gesichtsblind
Symbolbild: local_doctor /AdobeStock

Du bist auf einer Party, mit einem Gin Tonic in der Hand unterhältst du dich angeregt und nickst mit dem Kopf im Takt der Musik. Plötzlich kommt der Typ, der dich schon länger anstarrt, zu dir rüber, um Hallo zu sagen. Irgendwoher kennst du ihn, aber du kommst nicht drauf. Du kannst sein Gesicht einfach nicht zuordnen.

Keine Angst, nicht nur du hast schon mal eine solche Situation erlebt. Vielen Menschen fällt es schwer, Gesichter zu erkennen und sich zu merken. Laut Roberta Daini, einer Professorin für Neuropsychologie an der Universität Mailand, unterschätze man oft, wie schwierig es für unser Gehirn ist, einen Gegenstand, ein Tier oder einen Menschen wahrzunehmen, weil der ganze Prozess so nahtlos abläuft. "Wenn wir unsere Augen öffnen, erkennen wir direkt verschiedene Dinge. Deswegen gehen wir schnell davon aus, dass das ein einfacher Ablauf sei. Dabei ist das Ganze sehr komplex", sagt sie.

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Das gilt vor allem für die Unterscheidung von Gesichtern. Gesichter haben viele gleiche Merkmale und können deshalb von unserem Gehirn nicht so einfach auseinandergehalten werden wie zum Beispiel Gegenstände. Studien haben gezeigt, dass wir Gesichter durch einen – wie es Daini wissenschaftlich ausdrückt – "ganzheitlichen, globalen und konfiguralen" Prozess erkennen. Anders gesagt: Gesichter ähneln sich so sehr, dass wir sie nur unterscheiden können, indem wie ihre Unterschiede – etwa die Augenfarbe oder die Lippenform – analysieren. Andere Objekte erkennen wir bereits, wenn wir nur Teile davon sehen – zum Beispiel das Bein eines Tisches oder das Muster eines Pullovers. Wenn wir hingegen lediglich die Nase einer Person sehen, wissen wir nur selten, welches komplette Gesicht sich dahinter verbirgt.

Auch wenn dieser Vorgang kompliziert klingt, sind wir normalerweise von Geburt an in der Lage, ihn spontan und quasi automatisch auszuführen. Es ist allerdings von Mensch zu Mensch verschieden, wie gut das Ganze klappt. "Jede kognitive Fähigkeit ist bei uns unterschiedlich gut ausgeprägt", sagt Daini.


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Menschen, die ein Gesicht quasi nie vergessen, werden in der Neuropsychologie als "Super Recognizer" bezeichnet. Am anderen Ende des Spektrums befindet sich eine Wahrnehmungsstörung namens Prosopagnosie – auch bekannt als Gesichtsblindheit. Es gibt zwar keine genauen Zahlen darüber, wie viele Menschen von Gesichtsblindheit betroffen sind, aber in einigen Studien schätzt man, dass zwischen zwei und zweieinhalb Prozent der Bevölkerung mit Prosopagnosie auf die Welt kamen. Dazu kommt eine unbekannte Anzahl an Menschen, die zum Beispiel erst nach einer Gehirnverletzung an Gesichtsblindheit erkrankten. 

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Aber nur, weil du dir nicht so einfach Gesichter merken kannst, bedeutet das nicht, dass du automatisch Prosopagnosie hast. Denn auch bei dieser Störung gibt es eine gewisse Bandbreite. Ein Problem, von dem gesichtsblinde Menschen sehr häufig berichten: Ihnen fällt es schwer, eine Person zu identifizieren, die sie nicht so oft sehen oder der sie in einer anderen Umgebung als sonst begegnen. Bei ausgeprägter Gesichtsblindheit haben die Betroffenen sogar Schwierigkeiten, ihnen nahestehende Personen oder gar sich selbst im Spiegel zu erkennen. So sind sie unter Umständen auch nicht in der Lage, einen Film zu schauen, weil sie schnell nicht mehr wissen, wer die Charaktere sind.

Leider hilft hier keine Übung. Zwar sehen wir täglich Gesichter, aber unterm Strich ist die Wahrnehmung keine Fähigkeit, in der man besser werden kann. Laut Daini gehe man in der Wissenschaft derzeit davon aus, dass die Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen, genetisch veranlagt ist.

Manche Leute haben alternative Wege gefunden, zwischen ihnen bekannten Menschen zu unterscheiden. Sie merken sich zum Beispiel die Frisuren, Stimmen oder Körperhaltungen und gleichen so ihre Defizite bei der Gesichtserkennung aus. "Ich kenne eine Frau, die definitiv gesichtsblind ist, das Ganze aber durch so etwas gut kompensieren kann", sagt Daini. "Sie hat trotz ihrer Wahrnehmungsstörung also keine großen Probleme."

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Eine von Dainis Patientinnen, eine Lehrerin, merkte sich immer, wo ihre Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer saßen. Dann kam sie allerdings an eine Schule, an der sich die Schülerinnen und Schüler zum Zweck der besseren Sozialisation jede Woche an einen anderen Platz setzen sollten. "Die Lehrerin kam damit gar nicht zurecht, stieß bei der Schulverwaltung allerdings nur auf Unverständnis", sagt Daini. "Deswegen musste sie nach kurzer Zeit wieder kündigen."

"Vielleicht schauen Kinder anderen Leuten nicht in die Augen, weil sie das nicht informativ finden."

Wer immer wieder Probleme mit der Gesichtserkennung hat, kann beim Arzt einen entsprechenden Test machen. Wenn das Ergebnis dann über einem bestimmten Wert liegt, wird Gesichtsblindheit diagnostiziert. "In einigen Fällen lohnt es sich, das Problem von Dritten bestätigen zu lassen und Hilfe zu bekommen", sagt Daini.

Sich selbst Möglichkeiten auszudenken, um mit Gesichtsblindheit besser klarzukommen, ist möglicherweise bald überflüssig. Bei aktuellen experimentellen Studien kam nämlich heraus, dass das Hormon Oxytocin Betroffenen helfen könnte, Gesichter besser zu erkennen. Die Forschung diesbezüglich steht aber noch am Anfang.  

Wie Daini sagt, sei es bei Gesichtsblindheit besonders wichtig, überhaupt ein Bewusstsein für die Wahrnehmungsstörung zu schaffen. Denn bei betroffenen Kindern werde häufig fälschlicherweise Autismus diagnostiziert. "Vielleicht schauen die Kinder anderen Leuten nicht in die Augen, weil das für sie nicht informativ ist", sagt die Professorin. "Vielleicht blicken sie eher auf andere Teile des Gesichts, weil sie mehr Informationen brauchen, um zu erkennen, wer die andere Person ist. Und dann stellt man bei ihnen einen falsche Diagnose, die sie für den Rest ihres Lebens begleitet.

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