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One of Many Possible Art Issues

Spaß ist Spaß und Arbeit ist Arbeit

Douglas Gordon erklärt sich selbst.

Das Großbritannien der 80er war eine einzigartige Zeit, um am Leben zu sein. Thatcher hatte gerade mit ihren Merry Men die Macht ergriffen und das Land kämpfte mit steigenden Inflationsraten, schwerwiegender Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Unruhe, die sich in endlosen Serien von Gewerkschaftsstreiks niederschlug. Dazu noch der Falklandkrieg und die Kopfsteuer und die Zukunft sah ziemlich düster aus.

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Inmitten dieser ganzen Trostlosigkeit stieg jedoch eine neue Welle junger Musiker und Künstler empor, die die herrische Regierung als Ausgangspunkt nutzten, um zurückzuschlagen. Ihre Arbeiten waren provokativ, neu und vielversprechend anders irgendwie.

Im vierten Jahr dieser Dekade begann Douglas Gordon sein En­vironmental-Art-Studium an der Glasgow School of Art, die gerade zu dieser Zeit bekannt wurde für ihre alternativen Methoden und ihre berühmt-berüchtigte progressive Musikszene. Gordon setzte sein Studium in London fort, bevor er durch Europa zog, einige Jahre in New York verbrachte und schließlich in Berlin landete. 1996 gewann er den viel bejubelten Turner Prize, 2008 saß er in der Jury der Internationalen Filmfestspiele von Venedig und trat letzten Monat seine Professur in Frankfurt an. Seiner Meinung nach ist das alles, „genau genommen einfach auf ein Zusammenspiel der Umstände zurückzuführen“. Ich habe ihn getroffen, um herauszufinden, was genau er damit meint und wie er es geschafft hat, eine so einzigartige Figur in der Kunstwelt zu werden und dabei trotzdem so nett zu bleiben.

Vice: Hallo, Douglas. Deine Karriere hat Mitte der 80er im Juwel einer Stadt namens Glasgow angefangen. Wie war es da zu dieser Zeit zu studieren?

Douglas Gordon: Als ich 1984 zur Glasgow School of Art ging, gab es dort mehr Leute, die Musik machten, als irgendwo sonst. Die DJ-Kultur kam gerade erst auf. Wenn du in keiner Band warst, warst du wahrscheinlich gerade auf dem Weg, deine Kommilitonen spielen zu sehen. Es herrschte dieses Gefühl vor, einander helfen zu können, weil man von nirgendwo sonst Hilfe bekam.

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Wie war die Uni damals?

Der Dozent des Kurses war zwei Semester lang nicht da. Das war so, als wärst du bei den Eltern deiner Freunde zum Mittagessen eingeladen und Mama und Papa sind nicht zu Hause, also kannst du tun und lassen, was du willst. Es war so, als hätte ich die Schlüssel zu diesem fetten Apartment namens Glasgow School of Art. Es war ziemlich schwer, das wieder aufzugeben.

Du hast Environmental Art studiert, was ein wenig danach klingt, als hätte es mit Ökokriegern zu tun. Worum geht es bei dieser Denkschule? 

Eigentlich geht es einfach nur darum, dass der Kontext 50 Prozent des Kunstwerks ausmacht und dieser Kontext die Wahrnehmung der Arbeit beeinflusst.

Gab es irgendein kollektives Gefühl oder einen Gedanken, der hinter allem stand?

Wir arbeiteten in einem Gebäude, das „Old Girls High School“ hieß. Es war ein großläufiges, fantastisches viktorianisches Schulhaus und alles daran beeinflusste uns. Das haben wir wahrscheinlich erst im Nachhinein realisiert. Es war von Nonnen geleitet worden und zum Ende hin behaupteten eine Menge Leute, Geister gesehen zu haben. Das war fantastisch.

Geister? Hast du auch mal einen gesehen?

Ja. Ein paar Mal. Ich war ein sehr fleißiger Student. Eines Abends, so gegen neun oder halb zehn, sah ich durch eine Glastür zum Treppenhaus und ich schwöre bei Gott, dass aus dem Nichts eine Nonne auftauchte, mich ansah und dann weiter ihr Ding machte, was auch immer ihr Ding war. Ich hatte panische Angst.

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Hast du es jemandem erzählt?

Ich musste mich erst Mal zwei Tage sammeln, bevor ich es einem meiner Tutoren erzählt habe. Ich sagte: „Ich glaube, mir ist ein Geist erschienen“, und er sagte: „Echt? Wo?“ „Im zweiten Stock“, sagte ich und er fragte: „War es eine Nonne?“ Und ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Na ja, es gibt diesen Abendkurs und Schwester Mary kommt jeden Dienstag und Donnerstag. Du hast einfach übersehen, dass sie ihre Mappe dabei hatte.“

Ziemlich gruselig. 

Ich bin immer noch überzeugt, dass das eine Lüge war.

Mit wem hingst du damals so rum?

Ich weiß noch, wie ich Andrew McGregor noch schnell einen Haarschnitt verpassen musste, bevor er mit Fintribe auf die Bühne ging. Einer meiner besten Freunde und ich teilten uns eine Wohnung mit einem Typen namens Ross Sinclair, der kurz vorm Abschluss stand. Strawberry Switchblade waren schon seit Jahren da gewesen und Jim Langley hing immer dort rum, entweder mit The Boy Hairdressers oder Teenage Fanclub.

Nach Glasgow bist du nach London auf die Slade School of Art gegangen, die zum University College London gehört. Was hast du mitgenommen aus deiner Zeit in Schottland?

Ein Alasdair-Gray-Buch. Wörtlich und metaphorisch. Er war zu der Zeit ein großer Einfluss. Ich glaube, ich ging nach London mit dem Gedanken, dass einige Leute dachten, ich verkaufte mich, alleine schon dadurch, dass ich direkt in den Bauch des Ungeheuers zog. Vielleicht dachte ich das auch.

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Lass uns einen Moment über deine Arbeit sprechen. Hast du in dieser Zeit irgendeine Veränderung bemerkt?

Ja, absolut. Bevor ich Glasgow verließ, ging ich gerade durch meine Joseph-Beuys-Phase und schmolz Wachs und Fett auf einem kleinen Elektroherd. Ich hatte auch einen Pyjama darüber zum Trocknen aufgehängt. Den habe ich vergessen und bin nach draußen gegangen, um vom öffentlichen Telefon im Flur aus meine Freundin anzurufen. Der Techniker, der damals noch rauchte, kam raus und sagte: „Douglas, deine Wohnung brennt.“ Und dann ging er einfach weiter, also habe ich ihn nicht ernst genommen. Zehn Minuten später, er war immer noch am Rauchen, meinte er: „Ich sage dir, deine Bude brennt immer noch, du solltest echt herkommen.“

Wie groß war der Schaden?

Die Flammen hatten den Pyjama verschlungen und alles fing an zu brennen, aber ich habe es ausgekriegt und konnte die Spuren verschleiern. Das Gleiche ist ein paar Wochen später noch mal passiert. Ich kam von diesem großen, unregulierten Ort zur Slade, wo mir sogar die Architektur ein unangenehmes Gefühl gab. Sie erinnerte mich an eine Szene aus Die Stunde des Siegers. Ein ehrwürdiger Campus, weißt du? Es gab unzählige Vorschriften und ich hatte einen kleinen Schreibtisch, den ich montags, mittwochs und freitags benutzen durfte und jemand anderes dienstags und donnerstags. Du musstest versuchen, dein Hirn da rauszunehmen und das Denken in deinem Kopf passieren zu lassen.

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Wie hat sich das auf deine Arbeiten ausgewirkt?
In Glasgow hatte ich einen Abstecher in Performance Art gemacht und das war das Erste, was hier unter den Tisch fiel, weil ich ohne Platz nicht im Kontext von Bewegung denken konnte. Ich habe mehr Zeit mit Büchern in der Dunkelkammer und im Kino verbracht. Ich ging nicht viel zur Uni.  Also nicht mehr so ein fleißiger Student wie in Glasgow …
Es ist lustig. Ich habe neulich eine Arbeit fürs Artforum gemacht, in der ich verschiedene Objekte zeige, von denen einige nichts zu bedeuten scheinen und manche ganz klar andere Arbeiten zitieren oder kommentieren. Als ich dafür recherchierte, habe ich diesen alten Brief gefunden, in dem stand: „Hören Sie, wir haben Ihnen erlaubt nach Deutschland zu gehen, um dort im Oktober auszustellen, und jetzt ist es Ende November und wir haben noch nichts von Ihnen gehört. Wenn Sie sich nicht melden, gehen wir davon aus, dass Sie abbrechen wollen.“ Tatsächlich war ich nach Deutschland gegangen, danach aber direkt nach Glasgow, um London eine Weile zu meiden. Ich habe während des Studiums in London in der Transmission Gallery gearbeitet. Den Brief bekam ich erst im Januar und dann dachte ich: „Na ja, entweder haben sie sich schon entschieden oder sie sind zu faul, um es durchzuziehen.“ Es war wie in dieser Seinfeld-Episode, wo George Constanza nicht weiß, ob er den Job hat oder nicht und er taucht einfach auf und schnappt sich einen Schreibtisch. Das habe ich ein bisschen so an der Slade gemacht. Ich habe mich immer ein bisschen wie George Constanza gefühlt. Wenn du jetzt auf die Zeit zurückblickst, worauf bist du besonders stolz und wofür schämst du dich?
Ziemlich wenig eigentlich. Ich habe in der Zeit in London nicht gerade viel produziert. Ich kann mich an eine Krise erinnern. Einer meiner wichtigsten Dozenten war Susan Hiller. Sie war eine rigorose Gegenspielerin. Ich glaube, wenn Susan dieses Interview liest, dann wird sie es schon nicht falsch verstehen. Für mich waren die Gastredner in allen Vorlesungen sehr herausfordernd. Ich glaube, ich habe London verlassen mit einem Gefühl, als ob alle Freude aus mir herausgeknüppelt worden sei, als ob mich jemand verprügelt hätte. Wenn ich mir einen Film anschaute, wusste ich, wie viele Leute am Set waren, wie er geschnitten worden war und hatte keine Freude mehr dran. Ich weiß nicht … So wie ein Koch. Ich weiß nicht, ob du etwas genießen kannst, wenn du damit beschäftigt bist, es ausein­anderzunehmen.

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Wie hat diese Offenbarung deine spätere Arbeit beeinflusst?
Ich musste wohl durch eine Phase des Leidens oder der Einsicht, dass ich nicht einfach nur Dinge erforschte, gehen. Es war ein viel ernsteres Spiel als das. Ich glaube, das habe ich hinter mir gelassen vor 20 Jahren. Es war so, wie wenn du zu lange trainiert hast und zu krass aufgepumpt bist. Du musstest erst mal etwas Pause machen, damit du mit deinem Körper wieder machen konntest, was du wolltest. Als ich also anfing, Filme mit einem bestimmten Blick anzuschauen, tat ich also nicht wirklich etwas mit ihnen, außer für eine bestimmte Art zu stehen, wie diese Filme gesehen werden können. Das kam definitiv von der intellektuellen Strenge, die ich während meines Studiums in London entwickelte. Aber die Entscheidung, mit welchen Filmen ich arbeiten sollte, kam wahrscheinlich eher aus einer autobiografischen Übung, die aus der Glasgow-Schule entstand. Also sogar wenn du einen Fuß hinter dir herziehen und den anderen vor dir herschieben musst, kannst du irgendwo hinkommen. Vielleicht war ich auch einfach nur klumpfüßig und habe mich so abgemüht. Du hast erwähnt, dass die Filme, die du ausgewählt hast, hauptsächlich autobiografisch waren, aber sie waren genauso Mo­numente der Popkultur. 
Wenn ich jemals damit angefangen hätte, eine Filmografie der Filme zusammenzustellen, die ich verwendet habe, dann wäre ich ein unglaublich deprimierter und einsamer Mann. Zum Beispiel Hitchcocks Psycho und Taxi Driver. Das sind die beiden Filme, ohne die zu sehen ich aufgewachsen bin, weil sie so einen großen Raum in der Popkultur eingenommen haben, dass es mich aktiv abgeschreckt hat davon, sie anzusehen. Meine Mutter ist immer noch Zeugin Jehovas und wir scherzen darüber, wozu ihre Sei-ehrlich-zu-Gott-Erziehung mich motiviert hat. Du hast also auf diese frühe Einschränkung reagiert?
Ich glaube, ich bin ein bisschen anders geworden, als ursprünglich vorgesehen. Ich habe Psycho nicht gesehen, bis ich 21 war, und Taxi Driver erst mit 26 oder 27. Es hat eine Menge zu tun mit der klas­sischen Kinoerfahrung und dem Fakt, dass in den 80ern etwas passierte, zumindest in Großbritannien. Das Kino ging den Bach runter, TV und Video kamen auf und meine Filmerfahrungen waren definitiv häuslicher geprägt, als das gemeinschaftliche Kino, beziehungsweise die Kathedrale des Kinos, worüber ich manchmal gerne nachdenke. Ich weiß noch, wie ich am Oden Cinema in Glasgow vorbeigelaufen bin und dort Der letzte Tango und ein X standen. Das roch regelrecht nach dem Lüsternen und Verbotenen. Mein Interesse stammt definitiv von diesem Verbotene-Frucht-Aspekt. Und dann stieß ich auf die französische Nouvelle Vague. Eins der besten Kinobücher aller Zeiten sind die Interviews zwischen Hitchcock und Truffaut und das war irgendwie der Wendepunkt für mich, als ich realisierte, dass es unterschiedliche Arten von Kino gab. Es konnte auseinandergenommen werden und du konntest öffentlich die Leute verführen und dabei leicht intellektuell sein.

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iele der Nouvelle-Vague-Filme haben bestimmte Filmklischees auseinandergenommen. Ist das etwas, woran du gedacht hast, als du mit Bildwiederholungsfrequenzen experimentiert und andere Filme in deiner Arbeit verwendet hast?
Eins der Dinge, die ich meinen Studenten erzähle, ist, dass ich sehr fleißig war in der Uni. Ich habe meinen Zeichenkurs, meinen Glasmalkurs und meinen Wandgemäldekurs gemacht. Die einzige Klasse, die ich wirklich gehasst habe und für die ich absichtlich krank geworden bin, um nicht hinzumüssen, war die Videoklasse. Die habe ich immer gehasst. Das war etwas sehr Ursprüngliches für mich. Ich mag es nicht, Information direkt ins Auge gedrückt zu bekommen, ich ziehe es vor, sie aus dritter Hand zu bekommen. Durch Zelluloid fließt Licht, trifft auf einen Schirm und dann erst dein Auge. Es ist weicher, auch wenn du eine harte Serie von Bildern mit schwierigen Ideen anschaust, ist die Landung irgendwie weicher. Ich glaube, es sagt eine Menge, dass Technokraten und Techniker Videos so nah wie möglich an den Film heranpushen. Deshalb steht der Film immer noch auf diesem Sockel. Ich denke, das ist eine aufschlussreiche Philosophie. Was hältst du vom modernen Kino? Gehst du gerne ins Kino? 
Nee. Einer meiner Frankfurter Studenten hat mich gefragt: „Wann waren Sie das letzte Mal im Kino?“, und ich log: „Ich gehe nie ins Kino“, aus moralischen Gründen. Mein letzter Kinobesuch war, um meine eigene Arbeit zu sehen, und das mal davor auch und davor ebenfalls. Und für einen Studenten würde das nach einer Menge Abgewichse klingen. Manchmal ist es einfach besser, nicht die Wahrheit zu sagen.  Was ist der Grund hinter all dem?
Warum ich nicht ins Kino gehe?

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Ja. Magst du deine eigenen Arbeiten einfach zu sehr? 
Haha. Ich saß vor zwei Jahren in der Jury der Filmfestspiele von Venedig und die einzigen Filme, die ich in den Jahren zuvor gesehen hatte, waren Kinderfilme, weil ich mit meinem Sohn ins Kino gegangen war, und wenn ich das nicht tat, dann versuchte ich so viel meiner Zeit wie möglich in meine Arbeit zu stecken. Also erschien mir der Gedanke, nur zur Unterhaltung oder Provokation ins Kino zu gehen, merkwürdig, weil ich das so lange nicht mehr getan hatte. Hast du irgendein grundlegendes Problem mit dem Kino?
Ich bin ein großer Unterstützer oder sogar Fetischist, wenn es um die Idee der Kathedrale des Kinos geht, weil ich denke, dass die Erfahrung von Dingen, sogar so wie es mit der Kirche passiert, in diesen großen Räumen, eine Gemeinschaft impliziert, auch wenn nur fünf Leute gehen. Ich denke, das ist fantastisch. Der Grund, warum ich das denke, ist wahrscheinlich der Einfluss des Zweigs, dem ich in Glasgow angehörte—die Implikation der Gemeinschaft: Auch wenn sie nicht da sind, müssen sie irgendwo anders präsent sein.  Was hat dich zum Filmen und Videos drehen gebracht? 
Von da aus, wo ich sitze, kann ich Zigarettenrauch anschauen und ich kann mich dran erinnern, dass ich als Kind Bilder im Rauch erkennen konnte—und das ist natürlich magisches Denken. Aber damit hat sich tatsächlich Woody Allen beschäftigt. Die Idee, dass hinter dem Schirm eine dreidimensionale Welt von Geschichten liegt. Ich denke, das ist eine fantastische Sache. Als ich angefangen habe mit Videotape zu arbeiten, wie eine unschuldige Person, habe ich das Tape hochgehalten und da war nichts zu sehen und das war auch magisch. Es sieht nach gar nichts aus, aber enthält all diese Informationen und Daten. Ich glaube, man könnte es als frühe Version des Avatargedankens sehen, dass hinter der Kinoleinwand all diese Charaktere liegen. Ich denke mit 24 Hour Psycho, den ich das erste Mal 1993 in Glasgow zeigte, wollte ich die Leinwand mitten im Raum aufstellen, damit du, wenn du dahinter gegangen bist, das Gleiche von der anderen Seite gesehen hast. Das war der Moment, als ich anfing mich für Spiegelbilder zu interessieren. Aber es hat nie seine Magie verloren, auch wenn du es als Laterna-magica-Effekt entlarvt hast. Von da an wurde es irgendwie offensichtlich, dass ich eher eines Tages hinter der Kamera als vor dem Spiegel stehen würde. Ich musste einen Schritt zurückgehen und mich hinter das Glas stellen.

Kannst du dich noch an deinen ersten Film erinnern?
Mein erster Film hieß Feature Film. Vielleicht war ich nicht selbstbewusst genug, um zu denken, dass ich jemals etwas anderes machen könnte. Ich hatte diese sehr teenagermäßige, eitle Idee, dass ich in meinem Leben ein kurzes Buch, eine Platte und einen Spielfilm auf die Reihe kriegen müsste, also kriegte ich zumindest den Feature Film hin. Es war die Studie eines Orchesterdirigenten. Das Orchester war nie zu sehen, wie solltest du also wissen, dass er Dirigent war? Das Orchester spielt die Filmmusik von Hitchcocks Vertigo. Es ist fantastisch, wahrscheinlich wegen der Filmmusik von Bernhard Hermann. Manche Leute haben es gesehen und mir Fragen gestellt wie: „Wie viele kleine Bilder aus Vertigo hast du reingeschmuggelt?“ Weil sie dachten, sie hätten wirklich James Stewart oder Kim Novak gesehen, aber das ist nie passiert. Aber die Kinoerfahrung zusammen mit der Musik war offenbar so machtvoll, dass die Bilder aus dem Inneren ihrer Köpfe kamen und auf meinen Film projiziert wurden. Ich fand, das war unglaublich raffiniert und pervers. Eins deiner berühmtesten Werke ist das Porträt von Zidane. Woher kam die Idee? 
Nachdem ich Feature Film gemacht hatte, traute ich mir zu, in der Industrie zu arbeiten. Mit Industrie meine ich, mit einer Crew, Runnern und all so was zu arbeiten. Als ich mit Philippe Parreno zusammenkam, waren wir in Jerusalem, wo gerade eine Menge Dinge anzufangen schienen. Wir waren dort, um eine Ausstellung aufzubauen, und kannten uns kaum. Aber wir waren zuerst fertig und, um die Zeit totzuschlagen, haben wir uns einen Fußball gekauft und gespielt, was wir in Glasgow „Keep it upee“ nennen, was Philippe unheimlich lustig fand. Wenn ein Franzose „Keep it upee“ sagt, ist das sogar noch lustiger. Wir spielten uns den Ball und Ideen gleichzeitig zu. Wir wollten beide einen Film im großen Stil machen und sprachen irgendwann über Der eiskalte Engel und den Fakt, dass Alain Delon fast immer vor der Kamera ist, auch wenn woanders die Handlung abläuft. Die Person, die das Thema des Porträts ist, ist natürlich essenziell, aber die Geschichte dieser Person findet den Weg ins Bild durch deine Kenntnis von ihr und ihrer Geschichte. Stand eine bestimmte Fragestellung oder Hypothese hinter dem Projekt?
Wir sagten einander: „Warum machen wir keinen Spielfilm, der ein Porträt ist, in dem der Hauptcharakter immer vor der Kamera steht? Und was auch immer woanders passiert, kommt zu ihm, so wie der Ball zu Zidane kommt, auch wenn er ihn nicht mal ankuckt. Sein Charakter kommt zu ihm.“—oder so was in der Richtung. Ein ziemlich ausgefallener Anfang. Was, wenn wir einen Spielfilm machen, der ein Porträt ist? Warum sollte er nicht von einem Fußballspieler handeln? Und natürlich gab es drei Fragen, als wir zu Zidane gingen: Was wäre wenn? Warum nicht? Und Zidane sagte: „Warum ich?“

Wie habt ihr ihn überzeugt mitzumachen?
Wir sagten zu ihm, „Keiner weiß, welches Aftershave du benutzt. Wir wissen nicht, ob du in Clubs gehst. Du existierst vom Anstoß bis zum Abpfiff. Und das ist, was unheimlich besonders an dir als Spieler ist“. Natürlich können wir Spieler verwenden im Kontext von Fußball, Theater oder Film. Manche Leute kamen zu uns und schlugen andere Spieler vor, mit denen es einfacher wäre, aber wir blieben hart und sagten: „Nein. Das ist ein Porträt von Zidane im 21. Jahrhundert. Es geht nicht um diese oder jene Person.“ Er repräsentiert etwas, das er exklusiv verkörpert. Komplett schimärisch, also wird er zu jedem. Er wird nicht mit besonderen Aspekten oder Lebensarten assoziiert.  Wenn du den historischen Gedanken nimmst, dass ein Porträt etwas in drei Dimensionen repräsentiert, dann ist es interessant, dass das Porträt von Zidane in vier Dimensionen—die vierte ist Zeit—existiert. 
Manchmal fällt es Leuten schwer zu verstehen, dass Zeit so eine wichtige Rolle spielt. Die Zeit ist wie diese Wolke, die über den Köpfen der Menschen hängt. Von dem Moment an, als wir 1996 in Jerusalem die Idee hatten, bis wir den Film drehten, was wohl 2004 in Madrid war—alles verlief langsam, langsam, langsam und wurde dann schneller. Fast Flamenco-schnell. Am Tag vor dem Spiel traf die Crew ein. Du kannst dir vorstellen, was für eine große Crew wir brauchten, 17 oder 18 Kameras, jede mit Kameramann, erstem und zweiten Assistent und einem Runner. Ich denke, es waren um die 150 Leute. Der Druck war da. Die meisten Kameramänner waren erst am Vorabend angekommen und die Produzenten machten immer noch Druck und sagten: „Ihr müsst Storyboards machen.“ Wir sagten: „Das können wir nicht. Es ist ein Live-Event.“ Sie sagten: „Ihr müsst in der Lage sein, den Kameramännern zu sagen, was ihr wollt.“ Wie seid ihr da drum herumgekommen?
Philippe und ich hatten einen Freund, der organisierte, dass wir ins Museo del Prado konnten. Die Sammlung von Porträts im Prado ist wahrscheinlich eine der besten in der Welt. Wir nahmen also unsere Kameramänner am Morgen des Spiels dort mit hin. Da gibt es einen weitläufigen Korridor mit einem Porträt nach dem anderen und wir sagten den Kameramännern: „Das ist unser Storyboard. Schaut diesen Korridor runter und stellt euch vor, dass jedes Porträt ein Standbild ist und schaut aufmerksam jedes an, wenn ihr dran vorbeigeht. Wir schießen 24 Frames pro Sekunde, aber wir wollen alle Informationen in diesem Goya, an dem wahrscheinlich ein Jahr lang gemalt wurde. Wir wollen von allem das Äquivalent eines Jahrs.“ Wir haben also die Messlatte ziemlich hoch gelegt. Es war erstaunlich, aber Martin Scorseses DP hat nie wirklich Zeit vor El Greco verbracht. Gab es bestimmte Bilder, auf die ihr euch besonders konzentriert habt?
Eine wunderschöne Erinnerung ist, als wir vor diesen zwei Bildern der Herzogin von Alba standen, beide von Goya—die gleiche Frau, wie sie auf einer Chaiselongue liegt. Auf einem trägt sie komplett ihre Kleidung, auf dem anderen gar keine, aber der Betrachtungswinkel ist leicht unterschiedlich. Ganz ehrlich, diese Männer, die ihr täglich Brot damit verdienen Menschen anzuschauen und zu filmen, hatten noch nie zuvor so etwas gesehen. Philippe und ich sagten, wir könnten nicht wirklich erklären, was da passiert, aber sie sollten die Dynamik zwischen diesen beiden Bildern anschauen. Es ist wirklich ein Phänomen. Wir hatten das teuerste Storyboard der Filmgeschichte, weil wir das Museo del Prado zu Hilfe genommen haben. Also war die Idee, die Zeit zugunsten des Effekts zu verdrehen, tief im Projekt verwurzelt, bevor überhaupt der erste Ball gespielt wurde.

Das war ein ziemlich langer Weg von der Girls High School bis zum Bernabéu, wo du mit einer 150-Mann-Crew gefilmt hast. Würdest du dich als etabliertes Mitglied der Kunstwelt bezeichnen?
Ich glaube nicht, dass irgendjemand, den ich wirklich respektiere, sich für irgendwas in irgendeiner Welt hält. Die besten Köche, die ich kenne, beschäftigen sich immer mit etwas anderem. Die besten Sänger machen immer etwas anderes. Du kannst hermetisch sein, aber innerhalb deiner kleinen Einsiedlerhöhle denke ich, es ist wichtig, dass du noch irgendwo anders auf der Welt etwas am Laufen hast. Ich sicherlich nicht in der Filmwelt. Vielleicht wäre es besser, meine Freundin zu fragen, was sie von der Kunstwelt hält. Macht dir das Arbeiten in dieser Industrie Spaß oder findest du es eher belastend? 
Ich glaube nicht an Spaß. Als ich in diesen Weinladen hier in Berlin gegangen bin und den Verkäufer fragte: „Kannst du mir etwas über diesen Wein erzählen?“, sagte er: „Der Wein macht Spaß.“ Ich sagte: „OK.“ Und dann bin ich gegangen. Jemand hat mir mal einen Käse als „fun cheese“ beschrieben. Ich glaube nicht wirklich daran. Ich habe Spaß, aber ich arbeite nicht mit Spaß. Spaß ist Spaß und Arbeit ist Arbeit. Freude, Zufriedenheit, Leid. Was ist deine subjektive Meinung zu dem, was in der Kunstwelt passiert?
Ich habe immer eher das Wort „wir“ als „ich“ gebraucht, weil ich immer mit anderen arbeite. Nicht das königliche „wir“, sondern das „wir“ meines Teams und ich habe ein großes Team. Wir arbeiten immer an etwas und wir sind hier. Einer der Gründe, warum ich in diesem Raum bin, ist, dass ich 15 Jahre lang in meinem Bett oder Kopf gearbeitet habe und nicht mehr so weitermachen konnte. Ich habe Familie. Ich wollte immer der Idee des Künstlers, der im Studio herumsitzt und auf seine Eingebungen wartet, widersprechen. Ich mag die Idee, dass Ideen zu mir kommen, wenn ich fernsehe, Radio höre oder Zeitung lese. Ich mochte schon immer die Idee, dass meine Ideen von der Welt kommen, nicht von Gott oder dem Teufel oder so etwas. Je mehr du in der Kultur, Politik und aktuellen Angelegenheiten steckst, desto besser. Aber ich habe realisiert, dass ich einen anderen Raum brauchte, um diese Dinge zu absorbieren. Sonst würde ich meine Zeit lieber in der Küche mit einer Schürze dafür verwenden, ausgefeilte Mahlzeiten für einen Zweijährigen zu kochen. Das ist eine wundervolle Idee und ich kann das immer noch ein oder zwei Mal im Monat machen, aber nicht jeden Tag.  Ist größere Freiheit einer der Gründe, warum du nach Berlin zurückgekehrt bist, nachdem du in New York gelebt hast?
Ich habe in Berlin gelebt und wollte 1997 eigentlich nicht wegziehen, aber ich habe in Köln diesen Preis gewonnen, also ging ich für ein Jahr dorthin und dann nach New York. Am Ende kam ich nach Europa zurück und dachte, ich sollte nach Glasgow zurückgehen, weil die Stadt gerade etwas wirklich Besonderes hat, aber ich denke, das hat nichts mit dem Markt zu tun. Wenn Leute über die Kunstwelt sprechen, meinen sie in Wirklichkeit den Kunstmarkt. Hier gibt es keinen großen Markt, also gibt es eine Menge dieser Freiheit. Das ist auch eins der Dinge, die am Glasgow der 80er so wichtig waren, es gab nicht diesen Gedanken, dass du nach dem Abschluss ausstellen und was verkaufen musst. Es war das Gegenteil. Alle haben erwartet, dass sie nach dem Kunststudium wahrscheinlich etwas anderes machen. Einer der besten Kommentare, die einer unserer Dozenten in Glasgow jemals gemacht hat, war: „Ihr seid für vier Jahre hier. Denkt nicht, dass ihr diesen Ort als Künstler verlassen müsst. Genießt einfach die vier Jahre, weil ihr nie wieder so viel Freiheit haben werdet.“ Als der kleine Lotophage, der ich nun mal bin, habe ich versucht, diese vier Jahre so sehr in die Länge zu ziehen, wie nur möglich. Deshalb habe ich keine wirkliche Bindung zu dem, was als Kunstmarkt, Kunstwelt oder Filmwelt oder was auch immer angesehen wird. Die Leute versuchen immer, dich in eine Schublade zu stecken, warum solltest du dich in deine eigene stecken?