Ich habe mich als Kurdin auf Tinder angemeldet, um die Reaktionen meiner Landsleute zu testen

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Sex

Ich habe mich als Kurdin auf Tinder angemeldet, um die Reaktionen meiner Landsleute zu testen

Sehen Kurden und Türken in mir ihre potenzielle Ehefrau oder halten sie mich für eine ehrlose Schlampe?

Ali und ich—wir stehen aufeinander. Das behauptet zumindest die Tinder-App auf meinem Handy. Zugegeben, meine ersten Stunden des nach rechts und links Wischens haben sich merkwürdig angefühlt.

Nicht nur, weil ich bei allen türkischen und kurdischen Männern ausnahmslos nach rechts gewischt habe (um herauszufinden, was an den Vorurteilen über diese Typen dran ist), sondern weil die auch noch alle wie meine ganzen Cousins und Onkel heißen (Abturn!).

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Rund 40 Millionen Kurden gibt es weltweit, sie sind das größte Volk ohne eigenen Staat. Für mich bedeutet Kurdisch zu sein, sich für Politik zu interessieren, als Familie zusammenzuhalten, traditionelle Feste zu feiern. Ein eingeschränkteres Sex- und Liebesleben zu haben, bedeutete es für mich persönlich aber nie.

Was meine 22 Cousins und sechs Onkel dazu sagen, dass ich jetzt auf Tinder angemeldet bin? Ich weiß es nicht, es interessiert mich auch nicht. Aber mich interessieren die Reaktionen der fremden türkischen und kurdischen Männer, wenn sie mich mit meinem tiefen Ausschnitt auf Tinder sehen. Im Alltag musste ich mir dafür bereits dumme Sprüche von Türken und Kurden anhören. Mein Kleidungsstil sei zu "nuttig", meine Ansichten über Sexualität empfinden sie als "ehrlos".

Spielen türkische und kurdische Männer auf Tinder vielleicht auch den "großen Bruder" und fragen mich "Was machst du hier? Bist du eine Schlampe oder was?"? Fragen, die nur ein Selbstversuch beantworten kann. Ich bin jetzt also bei Tinder angemeldet, mit meinem echten Namen und einem Foto von mir (und ja, ich hab einen Filter benutzt—heult nicht rum). Das waren die Reaktionen darauf:

"Merhaba, Selam und Naber?"—ich werde ständig auf Türkisch angeschrieben. Das finde ich nicht schlimm, aber ich unterhalte mich lieber auf Deutsch. Das sage ich auch A., einem Türken. Ich frage ihn, wieso er mich auf Türkisch anschreibt. Ist es, weil er auf Tinder mit vielen Türkinnen schreibt? Nein, er erzählt mir: "Auf Tinder sind kaum Türkinnen. Ich schreibe dir auf Türkisch, weil du einen türkischen Namen hast und womöglich auch eine Türkin bist? Ist sehr natürlich, denke ich, wieso sonst?" Zwar ist der Name "Berivan" kurdisch, aber ich möchte nicht über meine Herkunft diskutieren. Mich beschäftigt viel mehr die Frage, warum angeblich so wenige Türkinnen auf Tinder sind. A. hat eine Erklärung dafür:

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Es folgt die (berechtigte) Gegenfrage: "Das heißt, Baba ist auf Tinder?" Ich hoffe ja nicht. A. interessiert das alles herzlich wenig, außerdem hat er mich schnell durchschaut. Unser Gespräch findet hier also schon sein Ende und ich werde das Gefühl nicht los, Günter Wallraff enttäuscht zu haben …

Ein Studie der Universität Münster kam zu dem Ergebnis, dass die zweite und dritte Generation türkischstämmiger Einwanderer im Vergleich zur ersten in Deutschland deutlich besser integriert ist. Sie haben mehr qualifizierte Schulabschlüsse, sprechen besser deutsch und haben mehr mit Deutschen zu tun. Trotzdem finden nur 52 Prozent der zweiten und dritten Generation es notwendig, sich kulturell anzupassen. In Österreich hingegen tun sich türkische Einwandererkinder oft schwerer. Schuld daran ist angeblich das Bildungssystem. Nur 32 Prozent der türkischen Einwanderer der zweiten Generation in Wien fühlen sich überhaupt zu Österreich zugehörig.

86 Prozent der jungen Türken in Deutschland denken auch, man solle selbstbewusst zu seiner türkischen Identität stehen. Geht es um Sex, sind die Türken in Deutschland konservativer als andere Migrantengruppen. Mehr als die Hälfte der türkischstämmigen Einwanderer hält die Jungfräulichkeit für eine Voraussetzung für die Ehe. Diese Ansicht teilt nur ein Viertel der in Deutschland lebenden Migranten insgesamt und gerade einmal jeder zwanzigste Deutsche.

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Ich schreibe mit meinem nächsten Match weiter—einem überraschten Kurden namens S.:

Beim Lesen des "oooh Kurde" wusste ich sofort, wie S. das in Wirklichkeit ausgesprochen hätte. Es würde genau so klingen wie die Begrüßung von kurdischen Omis und Opis, die vor jeden Namen ein ganz, ganz langes "Oooh" packen. Es steht quasi für ein "Du auch hier? Schön dich zu sehen!".

S. ist 34 Jahre alt, trägt auf seinem Profilbild Baseball-Cap und schreibt in seinem Profil über sich selbst, dass er ein bodenständiger Mensch sei. Den Eindruck hatte ich auch—kein Stress, keine "große Bruder-Attitüde". Ganz anders sieht das bei meinem nächsten Gespräch aus. Dank T., einem 29-jährigen Türken, habe ich nämlich einen "Ausrasteralarm".

Da mache ich mir die Mühe, steigere mich in meine Rolle als fingerschnipsende Zicke rein, um eine Diskussion zu provozieren und was passiert? Nichts! T. lässt sich von meinem Wutanfall nicht beeindrucken und bleibt ganz entspannt. Nach Macho-Sprüchen und Doppelmoral sucht man auch hier vergebens.

Muss ich also erst laut schreien "ICH WILL SEX!!!!! SOFORT!!!", damit mich jemand als "ehrlos" bezeichnet? Vielleicht. Also probiere ich es mit unmissverständlichen Aussagen:

Se. ist (halb-) nackt auf Tinder, aber hat keine Lust auf Sex. Ich bin verwirrt. Warum lädt man sonst drei Fotos von seinem nackten Oberkörper bei Tinder hoch? Aber Se. wollte mir wirklich nur ein Kompliment für meine Knoblauchfahne machen. Na gut, ich versuche es weiter …

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Bin ich wirklich auf Tinder? Die Leute denken ja scheinbar nicht mal an Sex.

Mein Selbstversuch offenbart Unerwartetes: Tinder ist voller lustiger Sprüche, Herzlichkeit und Liebe. Ihr glaubt mir nicht? Allein diese Nachricht ist Beweis genug:

Eine so kreative und originelle Nachricht—ich habe mich verliebt, ja, so schnell kann es gehen …

An der Stelle muss ich auch gestehen, dass meine Vorurteile gegenüber den türkischen und kurdischen Männern auf Tinder komplett unbegründet waren. Zwar wurde ich ständig auf meinen kurdischen Namen und meine Herkunft angesprochen, egal, ob in meinem Profil "Kurdin" stand oder nicht. Aber dabei haben mir die Typen vielmehr das Gefühl gegeben, eine Sensation zu sein, und keine Schlampe.

Und selbst wenn mich jemand für eine Schlampe hält, ob auf Tinder oder im realen Leben, ist mir das herzlich egal. Also, meine türkischen und kurdischen Schwestern, macht das, worauf ihr Bock habt und wenn das Tinder ist, dann tindert! Werft moralische Hürden über Bord, dreht euren Lieblings-Beyoncé-Song auf und holt euch, was ihr wollt. Ganz egal, ob das Liebe, Sex, Pizza ist oder die Kombination aus allem.

Und wenn euch jemand sagt, dass es bei Tinder nur um Sex und nicht ums Heiraten geht, dann lügt er:

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Tindern!

Berivan ist auf Twitter.