Unterwegs im verruchten Paris der 70er Jahre
Alle Fotos: Gilles Elie Cohen

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Sex

Unterwegs im verruchten Paris der 70er Jahre

Während der Disco-Ära waren die einschlägigen Etablissements von Paris vor allem von sexuellem Elend und Frauenausbeutung geprägt.

Im September 1979 heftete ich mich ein paar Wochen lang an die Fersen von Lolo Pigalle, eine der ältesten Stripperinnen des historischen Pariser Viertels Pigalle—inzwischen ist sie schon tot. Für das Fotobuch, in dem ich alles über sie erzähle, woran ich mich erinnern kann, schrieb ich auch eine kleine Einleitung. Um mich kurz zu fassen: Der Kontakt mit Lolo kam durch die Feministen-Bewegung zustande. Sie war eine kluge und gebildete Frau, die sich von Kultur angezogen fühlte. In der Gegend kannte und respektierte man sie. Außerdem war sie auch so etwas wie ein goldenes Ticket: Wenn ich mit Lolo in die Clubs ging, konnte man mir nichts mehr anhaben. Ich kam überall rein. Frag mich nicht warum, denn ich weiß es nicht.

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In dem Viertel herrschte bereits damals diese traurige und dunkle Atmosphäre, die solche Orte oft an sich haben. Freiwillig wäre ich wohl nie dort hingegangen. Ich war jedoch Fotograf und das stellte für mich einfach ein Thema dar, das ich dokumentierte—genau so wie jedes andere Thema auch. Wie jeder Mensch war auch ich schon ein paar mal in Sexshops gewesen. Auch ein oder zwei Peep-Shows habe ich mir aus Neugierde schon mal angeschaut. Oh, und Prostituierte? Auch dieses Thema konnte ich bereits abhaken.

Fortgehen konnte ich mir damals (und auch heute noch) nicht leisten. Während ich mit Lolo in Pigalle zusammenarbeitete, wurde mir klar, dass viele Männer auch schon nachmittags dazu bereit waren, für etwas Zuneigung und einen Striptease tief in die Tasche zu greifen. Bis heute hat sich mir der Sinn dieser Einstellung noch nicht erschlossen.

Damals trafen wir in Pigalle sowohl auf wildgewordene Touristen als auch auf Hooligans, die gerade einen Einbruch durchgezogen hatten (so wurden sie übrigens auch oft geschnappt, denn die Polizei platzierte in den einschlägigen Etablissements einfach Informanten). Die ganze Szenerie hatte nichts Luxuriöses an sich. Die sexuelle Revolution war damals noch nicht in diesem Stadtviertel angekommen. In Paris gab es zum Beispiel auf den Champs-Élysées viel bekanntere Bars, in denen Filmstars und andere hochrangige Persönlichkeiten die dicken Scheine aus dem Portemonnaie zogen—und das auch heute immer noch tun.

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Als meine Eltern Anfang der 70er Jahre von Tunesien nach Frankreich zogen, ließen sie sich zuerst in der Gegend um Barbès-Rochechouart nieder—ganz in der Nähe von Pigalle. Ich lebte nicht bei ihnen, besuchte sie aber oft und spazierte dabei ausgiebig durch das Viertel. Der Immobilienhandel hat an einigen Orten offensichtliche Spuren hinterlassen. Heutzutage gibt es im 18. Arrondissement keine Prostituierten mehr, die vor den Hotels auf Kunden warten. Das hat sich verändert und auf den Straßen sind keine halbnackten Frauen in Stilettos mehr zu finden.

Beim Dokumentieren dieser Orte fand ich eine düstere Welt vor, in der sexuelles Elend und die Ausbeutung der Frauen vorherrschten. Falls Pigalle damals wirklich einen etwas Glamouröses an sich gehabt haben soll, dann hat sich mir dieser Aspekt wohl nicht gezeigt. Die Frauen, die etwas zu sagen hatten, leiteten die Clubs, während sich die hübschen Mädchen mit der Verführung von reichen Männern zufrieden geben mussten und nur darauf hoffen konnten, eines Tages aufzusteigen. Außerdem war es üblich, in den angesagten Bars Mädchen kennenzulernen und sie dann in die Etablissements mitzunehmen, wo man Dinge anstellen konnte, die so sonst nicht in die Öffentlichkeit gehörten. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was damit gemeint ist.

Die letzten schönen Tage hat Pigalle wohl zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts gesehen. Ich bin leider erst danach angekommen. Zu bereuen gibt es nichts, denn Reue ist ein absurdes Gefühl.

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