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Die Geschichte tätowierter Frauen von den Freakshows bis hin zum Reality-TV

Wir haben mit Annie Irish darüber gesprochen, wie tätowierte Frauen seit dem 19. Jahrhundert objektiviert und fetischisiert werden.

Anni Irish glaubt, dass ihre Tattoos sie vielleicht davon abgehalten haben, bestimmte berufliche Wege einzuschlagen, aber mittlerweile ist ihr das relativ egal. Die in Brooklyn lebende Akademikerin ließ sich das erste Tattoo mit 18 stechen, mit 21 hatte sie dann aber schon auf ihren Fingerknöcheln das Wort „VERBOSE." (inklusive Punkt) stehen. Von da an gab es kein Zurück mehr.

„Da wurde aus meinem Hobby eine Entscheidung fürs Leben", sagt sie VICE am Telefon. „Das war der Moment, an dem ich mich für eine Richtung entschieden hatte! Ich erinnere mich daran, wie der Künstler mir sagte, dass es wirklich ‚hardcore' sei."

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Jetzt ist Irish 29 und sie hat einen MA in Gender and Cultural Studies und einen MA in Performance Studies. Ihre Arbeit, wie du dir vielleicht schon denken kannst, dreht sich um Body Modification, Fetischismus und die soziokulturelle Geschichte der Tätowierkunst in Amerika. Kürzlich gab sie eine Lesung mit dem Titel „The American Tattooed Ladies: 1840 – 2015" im Morbid Anatomy Museum in Brooklyn, bei der es um die Geschichte tätowierter Frauen ging: Von den tätowierten Schaustellerinnen im 19. Jahrhundert bis zu den Reality-TV Berühmtheiten und Models von heute.

Ich rief sie kurz vor ihrer Lesung an, um mit ihr über die Geschichte tätowierter Frauen zu sprechen—darüber wie sie objektiviert und fetischisiert wurden, darüber wie die New York Times dabei half, die Kunstform von ihrem Tabu zu befreien, und warum Menschen früher Geld bezahlt haben, um Frauen mit Körperkunst zu sehen.

VICE: Erzähle mir doch zuerst einmal ein bisschen von deinen eigenen Tattoos.
Anni Irish: Die meisten davon habe ich mir bei Pumpkin Tattoos in Boston stechen lassen, und zwar von einem Künstler namens Chad Chesko. Auch habe ich mehr große Designs. Die Oberseiten meiner beiden Oberschenkel sind tätowiert und ich arbeite jetzt schon seit gut zehn Jahren daran, dass mein ganzer Arm mit Tinte verziert ist. Ich habe aber auch ein paar kleine Tätowierungen—einen Anker, einen Diamanten und ein Schnappmesser.

Dein Vortrag am Museum of Morbid Anatomy ist ausverkauft. Herzlichen Glückwunsch dazu! Über was genau wirst du dort reden?
In meinem Vortrag erläutere ich vor allem meine persönlichen Erfahrungen mit dem Tätowieren. Dann kontextualisiere ich die Kunst innerhalb der Geschichte von Freakshows und sogenannten Dime-Museen, also frühen Örtlichkeiten für amerikanische Unterhaltung. Bei solchen Veranstaltungen waren großflächig tätowierte Frauen eine richtige Attraktion. In gewisser Weise haben Frauen, die sich Tattoos stechen ließen und dann öffentlich auftraten, also auch die heutige Unterhaltungsindustrie mitbegründet.

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Dann werde ich noch über Nora Hildebrandt reden, die erste „offiziell" tätowierte Frau. Sie hatte eine ziemlich kurzlebige Karriere beim Barnum & Bailey's Circus, wo sie ihre Tattoos auf der Bühne präsentierte. Eine Frau namens Irene Woodward sollte jedoch schon bald Noras Platz einnehmen, denn man hielt sie für attraktiver. Hier kann man einen Bogen zur Gegenwart schlagen: Viele der berühmtesten Tattoo-Künstlerinnen werden genauso stark sexualisiert. Das hängt auch damit zusammen, wie Männer den weiblichen Körper fetischisieren. Im 19. Jahrhundert konnten sich die Besucher der Freakshows sogenannte Cabinet Cards, also Fotos dieser Frauen als Andenken kaufen. Es gab auch richtige Sammler. Das waren quasi die Instagram-Follower der Tätowierten. Beide Praktiken hängen damit zusammen, wie der weibliche Körper „herumgereicht" und „besessen" wird.

Anschließend ist noch von Maude Wagner, einer der ersten wirklichen Tattoo-Künstlerinnen, die Rede und dann beschleunige ich das Ganze ein wenig und erwähne für jedes Jahrzehnt nur noch eine Frau, die entweder stark tätowiert war oder selbst tätowiert hat. Das bringt und dann zu den berühmtesten tätowierten Frauen unserer Zeit, zum Beispiel Kat Von D oder Megan Massacre. Die beiden sind in Reality-TV-Sendungen zu sehen und repräsentieren in gewisser Weise eine Trope der modernen tätowierten Frau.

Wie standen die Amerikaner im 19. Jahrhundert zu Tattoos?
In den späten 1880er und frühen 1890er Jahren gab es noch die Vorstellung, dass tätowierte Menschen irgendwie mit dem kriminellen Untergrund in Verbindung stehen müssen. Zur Jahrhundertwende hin assoziierte man mit Tattoos dann vor allem Matrosen, Prostituierte und Verbrecher. Das hatte auch mit der Lage der Tattoo-Studios zu tun, denn viele von ihnen befanden sich in Hafennähe und zogen so die Matrosen an.

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Eine gewisse Dualität ist dabei nicht von der Hand zu weisen: Auf der einen Seite hat man Tattoos mit dem Proletariat oder mit Gangs und dem Gefängnis verbunden, aber auf der der anderen Seite bewunderte das Publikum bei den Freakshows die Tinte unter der Haut. Oder sagen wir es mal so: Die Leute fanden Tätowierungen ekelhaft oder schockierend, aber wegschauen konnten sie trotzdem nicht. Tattoos wurden zwar stigmatisiert, aber das Interesse war trotzdem groß genug, um dafür zu bezahlen.

Wie ließ man sich im 19. Jahrhundert tätowieren?
Schon damals gab es Tattoo-Studios. Die Tätowiermaschine—oder „Tattoo-Gun", aber die Künstler hassen diesen Ausdruck—wurde im Jahr 1876 erfunden und basierte damals auf einem Stift, den Kunsthandwerker entwickelt hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt lief alles noch nach dem „Stick and Poke"-Prinzip ab. Tattoo-Studios waren jedoch in ganz Amerika illegal. In New York wurde das Ganze sogar erst im Jahr 1997 legalisiert!

Wenn man eine Tätowierung haben wollte, dann wusste man wohl, wohin man gehen musste. Die Illegalität hatte mit der Angst vor schmutzigen Nadeln zu tun—HIV, intravenöser Drogenkonsum und so weiter. Diese Stigmatisierung ist wohl auch der Grund für die inzwischen gängige Medikalisierung des Tätowierens, also das Vorhandensein von frischen Nadeln, sauberen Studios etc. Dazu wird das Ganze heute auch als legitime Fähigkeit und richtiger Berufszweig angesehen.

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Warum fand man es damals so interessant, tätowierte Frauen auf einer Bühne zu sehen?
Dem Ganzen liegt eine gewisse Sexualisierung zugrunde, denn viele der Frauen trugen auf der Bühne knappe Outfits und präsentierten ihre Haut, die mit persönlichen Motiven verziert war. Wenn man nicht gerade ständig Varieté-Shows oder Bordelle besuchte, dann war es auch reizvoll, eine Frau mit Körpermodifikationen zu sehen, die man so nie auf der Straße treffen würde. Bei Männern waren Tätowierungen akzeptiert, aber dann wurden sie auf jeden Fall der Unterklasse zugeordnet. Der Anblick eines tätowierten Mannes war immer noch etwas Schockierendes und eine tätowierte Frau war dann natürlich noch viel schockierender. Diese Frauen wurden zu beliebten Spektakeln und ich habe auch wirklich schon von einer Dame gehört, die ihren Beruf gewechselt hat und von einer Sekretärin zur Tätowierten wurde, weil sie als Darstellerin bei den Freakshows einfach mehr Geld verdienen konnte.

Ich habe einen Artikel gelesen, in dem du tätowierte Prominente als Wendepunkt für Frauen, die Geschlechterfrage und die Tattoo-Kultur beschrieben hast. Kannst du das ein bisschen weiter ausführen?
Im Jahr 1882 wurde in der New York Times ein Artikel über den Tattoo-Künstler Martin Hildebrandt veröffentlicht. In der amerikanischen Tätowierungsgeschichte ist er eine echte Berühmtheit: Das Tätowieren war zwar illegal, aber die New York Times berichtete über ihn. In dem Artikel wird ebenfalls erwähnt, dass sich inzwischen auch Frauen aus höheren Gesellschaftsklassen tätowieren ließen, was dem Berufszweig eine Art symbolischen Schub brachte. Der Artikel war ein Beweis dafür, dass nicht nur Matrosen, Kriminelle und Prostituierte, sondern auch Prominente Tattoos hatten.

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Allerdings ließen sich diese Prominenten nur auf Körperteilen tätowieren, die sie mit ihrer Kleidung verdecken konnten, damit sie die Leute nicht als Freakshow-Darstellerinnen oder Prostituierte ansahen. Ich meine, damals hat die Kleidung sowieso alles bedeckt—es geht hier mehr um diese Vorstellung der Verheimlichung: Man will es zwar haben, aber trotzdem nicht zeigen. Ich glaube, dass viele Leute auch heute noch so denken. Eine Freundin von mir ist zum Beispiel genauso stark tätowiert wie ich, aber eben nur auf ihrem Oberkörper. Ihre Eltern wissen nicht mal, dass sie Tattoos hat.

Wie kann man den Bogen von den tätowierten Frauen des 19. Jahrhunderts zu den berühmten Tattoo-Künstlerinnen von heute schlagen?
Damals war die Bühne eine Freakshow, heutzutage ist es das Reality-TV. Das sind beides Unterhaltungsplattformen und eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Kultur.

Die wohl berühmtesten tätowierten Frauen unserer Zeit sind Kat von D und Megan Massacre. Die beiden sind sowohl richtig gute Tätowiererinnen als auch Models, DJs und Besitzerinnen von Mode- und Make-up-Linien. Megan bezeichnet sich als alternatives Model und Tattoo-Künstlerin, was mich an die Suicide Girls und den ganzen Wahn um alternatives Modeln denken lässt. Leute wollen wirklich aktiv als Tattoo-Models arbeiten. Eine Freundin von mir ist genau so ein Tattoo-Model und dazu noch ein Suicide Girl. Wer hätte sich vor 20 Jahren vorstellen können, dass man einmal so seinen Lebensunterhalt verdient? Allerdings sind hier auch wieder gewisse Parallelen zu der oben erwähnte Frau erkennbar, die ihren Sekretärinnen-Job hinschmiss, um für eine Freakshow zu arbeiten.

Der Hauptunterschied zwischen den tätowierten Frauen des 19. Jahrhunderts und denen von heute besteht meiner Meinung nach darin, dass ein sexy Image damals zwar eine gewisse Rolle spielte, jedoch nur eher unterschwellig. Heutzutage steht dieses Image im Vordergrund und ist quasi nicht zu übersehen. Das ist ein echtes Problem, weil damit auch eine Fetischisierung einhergeht. Ich finde, dass Kat ihr Image gut im Griff hat, aber Megan wurde schon sehr früh sexualisiert. Natürlich kann auch sie machen, was sie will, aber wenn man sich anfängliche Foto-Shootings der beiden tätowierten Frauen ansieht, dann könnten die unterschiedlicher nicht sein. Die Künstlerinnen haben ihre Sexualität auf ganz andere Art und Weise eingesetzt und auch ihre Karrieren haben sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt—was ihnen verschiedenartige Möglichkeiten eröffnet hat. Das sagt schon viel aus über dieses Konzept der Sexualisierung von Frauen, der Kontrolle über Frauen und der Darstellung von Frauen in den Medien.