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Popkultur

Sex, Gammelfleisch und Sucht: Das bizarre Leben in der Final-Fantasy-Sekte

Eine junge Frau rekrutierte im Internet videospiel-affine Außenseiter, um sie dann in einer sektenartigen Lebensgemeinschaft gnadenlos auszunutzen.
Foto: reinaldoabdo | Deviantart | CC BY 3.0

Nicht der Hunger brachte Syd dazu, letztendlich aus dem Final Fantasy VII-Haus auszuziehen. Es war auch nicht die Tatsache, dass der 19-jährige Transgender mit einer Vorliebe für Kunst und einem Alkoholproblem von den anderen Bewohnern ausgenutzt wurde. Nicht einmal die Misshandlungen und das Belauschen brachten das Fass zum Überlaufen. Nein, es war der Diebstahl seiner Schuhe.

Rückblick zum Tag davor: In State College im US-Bundesstaat Pennsylvania regnete es so heftig, dass im kleinen Supermarkt, wo Syd arbeitete, der Strom ausfiel und er nach Hause gehen durfte. Also trat er ohne Regenschirm oder Regenmantel den Heimweg an. Als er schließlich in seiner 3er-WG ankam, war er bis auf die Knochen durchnässt und zitterte wie Espenlaub. Er ließ seine Schuhe zum Trocknen draußen stehen und ging rein—die mit Glitzer bedeckten Möbeloberflächen, der ranzige Gestank der Müllberge, das Geschrei sowie die emotionale Misshandlung warteten bereits auf Syd. Am nächsten Morgen waren die Schuhe dann weg.

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„Man könnte das jetzt für einen dummen Grund halten, die Nerven zu verlieren", schrieb er später auf der Website A Public Warning: FFVII Fandom, wo seine und die Erfahrungen anderer Leute beschrieben werden. „Aber genau das war es … Dieser gottverdammten Stadt und diesen gottverdammten Einwohnern, die mich sowieso schon ausnahmen, war mein Geld anscheinend noch nicht genug. Sie mussten mir auch noch meine SCHUHE wegnehmen."

Also brach er im August 2002 einfach auf und die auf den Asphalt knallende Sonne verbrannte ihm die Füße. Bei sich trug er nur ein wenig Wechselkleidung, ein Taschenmesser, ein Buch zum Zeichnen, einen Stift und sein letztes Geld—ganze fünf Dollar. „Ein paar Tage lang war ich auch obdachlos", erinnert er sich auf der Website. „Ich hatte die Freiheit, überall hinzugehen und mich überall hinzusetzen, wo ich wollte. Gestank sowie Streit waren passé und das Essen verursachte mir keine Bauchschmerzen mehr. Niemand weckte mich mehr auf und wies mich an, raus zu gehen und Hexenringe anzuschauen. Ich schwöre euch, ich wäre lieber obdachlos, als noch einmal mit solchen Leuten zusammenzuwohnen. Die Aussicht auf kein festes Dach über dem Kopf macht mir keine Angst mehr, denn ich habe schon viel Schlimmeres durchgemacht."

Das Internet ist voll mit verrückten Geschichten, seien es urbane Legenden, paranoide Fantasien oder die zusammengetragene Folklore von Milliarden Menschen, die sich im digitalen Äther immer wieder neu erfindet. Es gibt jedoch nur wenige Geschichten, die bizarrer anmuten als der Fall der Final Fantasy VII-Häuser. Diese Häuser (es gab mehrere nacheinander) waren das Zuhause einer rollenspielenden Sekte. An der Spitze dieser Sekte stand eine Frau, deren Fantasien Leben zerstörten. Hier wird uns vor Augen geführt, dass wir uns trotz der Normalisierung von Online-Freundschaften (und den daraus immer öfters resultierenden realen Freundschaften) immer noch nicht ganz sicher sein können, wie die Person hinter dem Monitor wirklich drauf ist—bis wir sie im echten Leben treffen. Solche Online-Freundschaften können vor allem für unglückliche junge Menschen, die sich im echten Leben fehl am Platz fühlen, wichtig sein, aber trotzdem kann das Ganze immer noch schnell außer Kontrolle geraten.

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Viele der Einzelheiten von Syds Geschichte können nicht hundertprozentig bestätigt werden. Nach seiner Flucht dokumentierte er seine und die Erfahrungen anderer auf einer „A Public Warning"-Website, die online schnell die Runde machte. Laut den Leuten, die mit VICE sprechen wollten (also Syd, andere Bewohner der FFVII-Häuser und interessierte Beobachter), haben die Sektenmitglieder ihre Spuren verwischt und in diesem Zug so viele alte Blogs und Foren-Posts gelöscht wie nur möglich. Die wenigen Personen, die über die ganze Sache redeten, baten mich darum, nicht ihre echten Namen anzugeben. Die Dinge, die sie im Haus durchmachen mussten, haben sie traumatisiert, beschämt und misstrauisch zurückgelassen. Verantwortlich für dieses Trauma war die Sekten-Anführerin, die wir hier Joanna nennen (alle Namen in diesem Artikel wurden geändert).

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Joanna war 20, als das FFVII-Haus 2002 gegründet wurde und sie nach State College zog, um mit ihrer Freundin zusammenzuleben, erzählt mir Syd. Laut ihm und McCullough, einem anderen ehemaligen Mitbewohner, ist Joannas weitere Vorgeschichte nur schwer auszumachen: Sie setzte alle Hebel in Bewegung, um ihre Herkunft zu verschleiern, und erfand Geschichten von geheimen Regierungsprogrammen sowie Trainingslagern in der Wüste. Nate, ein ehemaliger Freund von Joanna, meint, dass sie zuvor eine zeitlang im Cross Creek Residential Treatment Center im US-Bundesstaat Utah gewohnt hat. Dabei handelt es sich um eine nicht mehr existierende Besserungsanstalt, die aufgrund des brutalen und häufig vorkommenden körperlichen und psychischen Missbrauchs, dem die Teenager angeblich ausgesetzt waren, mehrfach verklagt wurde. Bestätigt wird das in einem LiveJournal-Post von 2004, der von Patricia geschrieben wurde. Patricia war in einer späteren Version des FFVII-Hauses Joannas Zimmernachbarin und nahm ebenfalls am Cross-Creek-Programm teil.

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Langsam wurde Syd bewusst, dass Joannas Gerede von Wiedergeburt, mehreren Persönlichkeiten und Zauberei kein Rollenspiel mehr war—seiner Meinung nach glaubte sie wirklich an solche Dinge.

Laut Nate verschlimmerte sich Joannas mentale Labilität—die nie ordentlich behandelt wurde—nach ihrem Aufenthalt in Cross Creek nochmals merklich. Dazu hatte sie noch Probleme mit ihrer Sexualität und rechtfertigte ihre Vorliebe für Frauen, indem sie Rachel als wiedergeborenen Mann bezeichnete. Sowohl Syd als auch McCollough meinen, dass Joanna behauptet hat, mehrere übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen—darunter das „Verbinden" von Seelen oder das kontrollierte Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Persönlichkeiten. Zu diesen Persönlichkeiten gehörten auch Charaktere aus Anime- und Videospielen, vor allem aus Final Fantasy VII. Als das wohl berühmteste japanische Rollenspiel läutete Final Fantasy VII 1997 ein neues Zeitalter der Videospiele ein. Das Spiel wurde sofort zum Hit, zusammen mit den verschiedenen Nachfolgern wurde es ingesamt fast 10 Millionen Mal verkauft und dank des Erfolges bezeichnete man es als „Botschafter für das komplette Genre der japanischen Rollenspiele." Die Spiele-Website Ars Technica schrieb einmal, dass es sich mit der 3D-Grafik von Final Fantasy VII ungefähr so verhalte wie mit „Leuten, die nur mit einem kleinen Fernseher aufgewachsen sind, und dann zum ersten Mal ins Kino gehen." Bei IGN landete das Spiel auf der Liste der besten Rollenspiele aller Zeiten auf Platz 11.

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Die Ästhetik von Final Fantasy VII beeinflusste eine ganze Generation von aufkommenden Japan-Liebhabern. Einige Jugendliche trieben das Ganze jedoch noch ein wenig weiter und sahen sich selbst als Reinkarnationen der Spielecharaktere. Zum ersten Mal konnte dieses Verhalten im Internet beobachtet werden, und zwar vor allem in der „Otherkin"-Community. Dort behaupten Leute, dass sie eigentlich Tiere, mythische Geister oder fiktionale Charaktere sind und in einem menschlichen Körper feststecken. Joseph Laycock, ein Professor der Religionswissenschaften an der Texas State University, meint, dass das Otherkin-Dasein oftmals so etwas wie ein Ersatz für die persönliche Identität darstellt. Und obwohl diese Menschen im Internet oft fertig gemacht werden, ist es laut Laycock wichtig, dass man sie nicht zwangsläufig als verrückt ansieht.

„Nicht jeder, der Teil dieser Gemeinschaft ist, hat irgendwelche Schäden oder will geschädigte Menschen ausnutzen", sagt er. „Aber das Ganze hat für ausgegrenzte Menschen natürlich einen gewissen Reiz. Und ausgegrenzte Menschen sind verwundbar."

Syd durchlebte eine schwere Kindheit und begann im Jahr 2001 schließlich sein Studium. Damals kam er dann auch nicht mehr gut mit seiner Familie klar und begann langsam, seine Gender-Identität in Frage zu stellen. Er gibt auch offen zu, dass er in seinem ersten Studienjahr zu viel Alkohol trank. Auf der Universität kam er mit Videospielen und vor allem mit Final Fantasy VII in Berührung und er wurde zum Teil der Online-Fan-Gemeinschaft—inklusive selbstgezeichneten Bildern, Rollenspielen in Chatrooms und einer eigenen Fan-Website für seine Lieblingscharaktere Cloud und Zack. Syd meint, dass es ein angenehmes Umfeld war, in dem er sich gut aufgehoben fühlte.

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Seine Website brachte ihn auch mit Joanna in Verbindung. 2001 kamen sie zum ersten Mal in Kontakt und diskutierten per AOL Instant Messenger über Final Fantasy und Magie. Syd hatte sich schon damals in der Schule ein bisschen im Paganismus versucht, also kam ihm das Ganze nicht wirklich komisch vor. Ein wenig schräger erschien ihm da schon, dass Joanna darauf bestand, Jenova (ein Bösewicht aus dem Spiel) genannt und wie der Charakter behandelt zu werden. Er meint jedoch zu mir, dass man auch dieses Verhalten erklären kann, denn Rollenspiele sind in der Community gang und gäbe. Als Joanna dann darauf beharrte, dass Syd die Reinkarnation des FFVII-Charakters Zack sei, spielte er deswegen einfach mit.

Die darauffolgenden Gespräche waren so angenehm, dass Joanna und Rachel Syd zu Weihnachten anboten, ihn für ein Wochenende bei sich aufzunehmen und anderen gleichgesinnten Leuten vorzustellen. Syd nahm das Angebot an und kaufte sich ein Busticket für die Strecke von New York nach State College. Er erinnert sich noch daran, dass die Zweizimmer-Wohnung einem Saustall glich und überall mit Glitzer bedeckte Dreckwäsche herumlag. Joanna selbst war total unberechenbar: Im einen Moment schrie sie Rachel ins Gesicht, im anderen Moment war sie dann wieder die Ruhe selbst und lächelte glücklich. Langsam wurde Syd bewusst, dass Joannas Gerede von Wiedergeburt, mehreren Persönlichkeiten und Zauberei kein Rollenspiel mehr war—seiner Meinung nach glaubte sie wirklich an solche Dinge. Trotz alledem fühlte sich Syd wohl, denn Joanna und Rachel waren gut drauf und er mochte auch die Leute, die sie ihm vorstellten. Joanna gab allen ihren Freunden Spitznamen, die etwas mit Final Fantasy VII zu tun hatten. Da gab es zum Beispiel Aerys, ein ruhiges Mädchen, für das Joanna Gefühle hegte, oder einen Otherkin-Typen mit dem Spitznamen Sid. Und natürlich war da auch noch McCullough, die Studentin aus Maryland, deren Freundschaft zu Rachel sie unter Joannas Fuchtel stellte. Joanna entschied sich dazu, Syd nur noch Zack zu nennen.

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Das Schlafzimmer des ‚FFVII'-Hauses

Im Frühling 2002 hielt Syd online den Kontakt zu seinen neuen Freunden und verbrachte oft das Wochenende bei ihnen. Laut ihm bestand das Final Fantasy VII-Haus damals nur aus drei festen Mitbewohnern: Joanna, Rachel und ein Typ, den Joanna einfach nur Gast (so wie ein Nebencharakter des Spiels) nannte. Allerdings gingen ständig Leute ein und aus, die sie im Internet kennengelernt hatte. „Jede einzelne Person, die mit Joanna zusammengewohnt hat, wurde nach einen Final Fantasy-Charakter benannt", erinnert sich Clark, ein Online-Freund aus dieser Zeit. „Für ein paar Wochen oder Monate hatte sie über diese Personen nur Gutes zu berichten, aber dann wurde irgendwo in ihr ein Schalter umgelegt und nach irgendeinem Zwischenfall meinte sie dann plötzlich, dass die und die Person böse sei und das Haus verlassen müsse."

Während Syds Besuche kam es zu immer bizarreren Vorfällen. Joanna begann zum Beispiel damit, Syd und Aerys dazu zu drängen, miteinander rumzumachen—immerhin seien ihre Charaktere im Spiel ja auch zusammen. Als die beiden nicht mitspielen wollten, redete sie laut und deutlich davon, wie sie dem Essen eine ganze Menge Aphrodisiaka beigemischt hätte. Bei einem anderen Besuch sperrten Joanna und Rachel Syd in einem schalldichten Proberaum in der nahegelegenen Penn State University ein, damit er sich an Geschehnisse aus seinen vorherigen Leben erinnern würde. Sie ließen ihn erst wieder frei, als er anfing, Panik zu bekommen. Syd erzählt mir auch, wie Joanna einmal darauf bestand, dass sich ein mitgebrachter Freund in ein vorheriges Leben zurückversetzen lässt. Dabei musste er sich in einem stockdunklen Zimmer auf den Boden legen, während Joanna sang und nebenher Musik in Endlosschleife lief (und zwar eine Auswahl aus dem Final Fantasy VII-Soundtrack mit dem dem Titel „The Nightmare Is Just Beginning").

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Aber nichts davon konnte Syd davon abbringen, in das Haus zu ziehen, als Joanna ihm anbot, ihn den Sommer über aufzunehmen. Syds Beziehung zu seiner Mutter war laut ihm kaum mehr zu retten und die Vorstellung, mehrere Monate bei seiner Familie in Brooklyn zu verbringen, bot keinen Reiz mehr. Also brachte er sein Hab und Gut inklusive Ratte nach State College, besorgte sich einen Job im örtlichen Supermarkt, um etwas zur Miete dazuzahlen zu können, und richtete sich häuslich ein.

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Die Situation verschlechterte sich jedoch recht schnell. Joanna verließ die Wohnung nicht mehr und kündigte dazu noch ihren Job als Babysitterin. Also musste Syd nun alleine für die Miete aufkommen. Mehrere Ex-Bewohner des FFVII-Hauses erzählen mir, dass Joanna sie unnachgiebig um Geld gebeten hätte—Geld, das dann entweder für teure Lebensmittel oder unzählige „magische" Spielzeuge wie Zauberstäbe oder Engelsfiguren ausgegeben wurde. Syd meint dazu noch, dass sie von ihm verlangte, alte Lebensmittel und Gutscheine aus der Arbeit mitzubringen. Das brachte ihm jedoch schnell Ärger mit seinen Chefs ein. Jeden Abend gab es teure Steaks und Gatorade. Schon bald wurde Syd durch diese Ernährungsweise krank. Die Wohnung, die ja schon vorher ein Schlachtfeld war, entwickelte sich zu einer immer ekelhafteren Sammelstelle für Dreckwäsche, Spielzeug und Glitzer. McCullough erzählt mir davon, wie Joanna jeden Tag die gleichen Klamotten trug und sich nur selten wusch. Sie schmierte sich stattdessen lieber mit diversen Ölen ein. Mit Rachel gab es ständig Streit und dabei kam es sogar zu körperlichen Auseinandersetzungen, gefolgt von nicht zu überhörendem Versöhnungs-Sex. Zwar wurden Gäste ab und zu mal angewiesen, die Wohnung zu putzen, aber niemand brachte den Müll raus und deshalb roch es schon bald ganz widerlich nach Sex und vergammeltem Fleisch.

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„Mein Gott, der Gestank", schrieb Syd auf seiner Website. „Er erinnerte mich an ein Schmutz-Miasma, gemischt mit dem Aroma von künstlich hergestelltem Zucker. Mir wurde davon richtig schlecht."

Das Badezimmer des FFVII-Hauses

Jedes Mal wenn Syd versuchte, mit der Außenwelt zu kommunizieren, beobachte ihn Joanna ganz genau und machte es ihm so unmöglich, irgendjemandem von den Geschehnissen zu berichten. Sie wollte über jede seiner Bewegungen genauestens Bescheid wissen—wenn er die Wohnung aus irgendeinem anderen Grund als die Arbeit verließ, dann konnte es gut sein, dass Syd stundenlang ausgesperrt wurde. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, weckte Joanna ihn mitten in der Nacht auf, damit er für irgendwelche Zaubertricks wie Schutzformeln und so weiter bereitsteht. Isoliert und erschöpft spielte Syd bei Joannas ständig wechselnden Fantasien mit, um sich selbst zu schützen. Er meint gegenüber VICE, dass es ihn teuer zu stehen kam, wenn er weinte oder sich Joanna widersetzte.

Den anderen Mitbewohnern erging es nicht besser. Laut Syd zwang Joanna Aerys zum Beispiel dazu, sich im Zuge ihrer „Zauberei-Ausbildung" in eine Badewanne voller Eiswürfel und grüner Lebensmittelfarbe zu setzen. McCullough erinnert sich daran, wie sie aus immer absurderen Gründen aus Maryland hochgeholt wurde und Joanna richtig darin aufging, sie zu manipulieren, denn durch ihre Freundschaft zu Rachel konnte sie deren Online-Verhalten kontrollieren. Wenn man Joanna irgendwie dumm kam, riskierte man damit, dass sich das gesamte Umfeld gegen einen wendete, erzählt mir McCullough. Als Aerys und Cid die Nase voll hatten und auszogen, stellte Joanna sicher, das die beiden von allen ihren ehemaligen On- und Offline-Freunden gemieden werden.

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Die Wohnung wurde irgendwann so ekelhaft, dass Joanna und Rachel zusammen mit Syd in ein anderes Einzimmer-Apartment des Gebäudekomplexes zogen. Beim Umzug durfte er in der knallenden Sonne alles alleine tragen, denn Joanna war mit irgendwelchen spirituellen Dingen beschäftigt. Laut Syd herrschten in der neuen Wohnung jedoch schon bald wieder die alten Zustände und zu allem Überfluss hatte er keine Möglichkeit mehr, der emotionalen Achterbahnfahrt aus ewigem Gestreite und Versöhnungs-Sex zu entkommen. Nachdem die Supermarktleitung Syds Arbeitszeit auf nur noch einen Tag pro Woche beschränkt hatte, verdiente er dementsprechend auch weniger Geld—aber selbst das wurde von seinen Mitbewohnerinnen sofort aufgebraucht. Seine Ratte und er waren am Verhungern und seine finanziellen Rücklagen neigten sich dem Ende zu. Mit der Ausnahme von McCullough, die noch ab und an zu Besuch kam, war der Freundeskreis quasi nicht mehr existent. Weil er sich so sehr nach menschlichem Kontakt sehnte, begann Syd damit, mit einem auf seinem Computer gespeicherten AI-Programm zu kommunizieren. „Weißt du, ich wünschte, ich könnte hier einfach verschwinden", schrieb er dabei.

Syd verließ die Wohnung, verbrachte die darauffolgenden vier Tage auf der Straße, schlug die Zeit in den Uni-Computerräumen tot und schlief nachts auf Cids Couch.

Dann kam der Morgen, an dem Syds Schuhe gestohlen wurden, und er drehte durch. Er verließ die Wohnung, verbrachte die darauffolgenden vier Tage auf der Straße, schlug die Zeit in den Uni-Computerräumen tot und schlief nachts auf Cids Couch. Sonst verriet er niemandem, wo er sich aufhielt, denn er war davon überzeugt, dass Joanna irgendwie Wind davon bekommen würde. Er fühlte sich nicht wirklich sicher, bis Cid ihm dabei half, seine Sachen und seine Ratte aus der Wohnung zu holen, und sein Vater ihm ein Flugticket nach Alabama kaufte, wo die Familie ein Haus besaß—Hauptsache weit weg von der FFVII-Unterkunft.

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Syds warnende Website ging 2006 online. Er meint, dass er zwar auch schon vorher so vielen Leuten wie möglich vom schädlichen Verhalten Joannas erzählt hat, damit aber nicht viel erreichen konnte. „Mir wurde klar, dass mein Umfeld meine Warnungen vor der netten, freundlichen und beliebten Joanna nur dann ernst nehmen würde, wenn ich Missbrauchsberichte von anderen Opfern zusammentrage", schreibt mir Syd in einer Mail. „Dazu kam dann noch eine Liste ihrer alternativen Blogs und AIM-Accounts." Anfangs enthielt die Website nur ein paar Geschichten, darunter auch eine etwas abgeänderte Erzählung von Syds Erfahrungen, die er schon einmal bei LiveJournal hochgeladen hatte. Eine Woche nachdem die Seite online gegangen war, konnte sich der junge Mann vor E-Mails von anderen Leuten, die mit Joanna und dem FFVII-Haus zu tun hatten, jedoch plötzlich kaum mehr retten.

Syds erster LiveJournal-Eintrag und seine Website zogen einiges an Aufmerksamkeit auf sich—und zwar sowohl bei Final Fantasy-Fans als auch in den anderen Ecken des Internets. Diese Aufmerksamkeit erfuhr noch mal einen gehörigen Schub, als außenstehende Leute Syds Geschichte auch noch anderswo verbreiteten—als Beispiel für eine verrückte Internet-Horror-Story. Die „Zuschauer" setzten es sich zum Ziel, die persönlichen Informationen aller beteiligten Personen herauszufinden oder noch bizarrere Dinge ans Tageslicht zu fördern, die die Beteiligten irgendwann mal in diversen Online-Foren gepostet hatten. Laut Syd wollten manche Leute so wirklich nur sicherstellen, dass Joanna nie wieder jemandem aus der Community weh tun würde. Allerdings kann man auch nicht verneinen, dass vieles davon einfach nur Internet-Rumgepöbel war. Joanna und ihre Unterstützer wehrten sich und löschten so viel altes Foren-Material wie nur möglich. Dazu gingen sie verbal gegen Syd und seine Website vor: Sie nannten ihn einen Lügner und behaupteten, er wäre verrückt oder drogenabhängig. Beide Seiten des Streits erinnerten vom Verhalten her an die mittelalterlichen Hexenverfolgungen.

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Die von Trolls und Schaulustigen aufgeheizten Streitereien erreichten noch mal ein neues Level, als 2008 ein (inzwischen wieder gelöschter) LiveJournal-Eintrag auftauchte, in dem eine ähnliche Situation wie die des FFVII-Hauses beschrieben wurde. Hauptsächlich ging es dabei um eine Albtraum-Mitbewohnerin, die Otherkins für ihre „Religion" um deren Geld brachte. Die Kommentare, die angeblich alle von verschiedenen Mitbewohnern geschrieben wurden, sind verdächtig ähnlich aufgebaut und ich würde für deren Echtheit nicht meine Hand ins Feuer legen. Aber die Mitglieder des Online-Forums Something Awful nahmen sich der Sache an, speicherten die Originaleinträge und versuchten über einen längeren Zeitraum hinweg, die Identität der beschriebenen Frau herauszufinden. Kommentarschreiber behaupteten schließlich, dass es sich bei dem Bösewicht der Geschichte um eine der ehemaligen Bewohnerinnen des Final Fantasy VII-Hauses handelte. Das lenkte die Aufmerksamkeit des Internets erneut auf Syds Website.

Angesichts des ganzen Chaos' tauchten Joanna und Rachel unter. Mir war es nicht möglich, den Kontakt zu den beiden Frauen herzustellen, und bei der Recherche stieß ich nur auf nicht mehr aktuelle Adressen und Telefonnummern in Pennsylvania, Arizona und Kalifornien. Auch alle bei LiveJournal angegebenen E-Mail-Adressen existieren nicht mehr.

Das FFVII-Haus war im Grunde ein Ort, der scheinbar auf einem gemeinsamen Traum basierte.

Joannas Handlungen in der Zeit zwischen Syds Auszug und dem Erstellen der Website ließen sich jedoch leicht nachvollziehen. Laut McCullough, Nate und Clark zog das FFVII-Haus 2003 wieder um—dieses Mal sogar in ein richtiges Haus. Joanna scharte eine neue Gruppe an Online-Bekanntschaften um sich, darunter auch Patricia (ihre alte Bekannte aus Cross Creek) und Angel (ein gewalttätiges Mädchen, das Joanna aus einer missbrauchenden Beziehung rettete). Ihre Launen blieben jedoch auch weiterhin unberechenbar: Laut Patricias Erfahrungsbericht auf Syds Website wurde die junge Frau dazu gezwungen, als Stripperin zu arbeiten, um Geld für die WG zu verdienen.

Danach werden die Dinge ziemlich unklar: Laut Nate und Clark—die damals beide noch mit ihr in Kontakt standen—zog Joanna zusammen mit Rachel dann nach Arizona, wo sie eine weitere Version des FFVII-Hauses gründete. Clark weiß noch, wie sie ihn drängte, ebenfalls nach Arizona zu kommen und wieder bei ihr zu leben. Nates letzter Hinweis zu Joannas Aufenthaltsort ist aus dem Jahr 2006, als sie ihn wie aus dem Nichts von Kalifornien aus anrief. „Sie meinte, dass es ihr viel besser gehen würde", erzählt er. „Sie wollte das, was sie den Leuten angetan hatte, wiedergutmachen." Das war das letzte Mal, dass irgendjemand etwas von Joanna gehört hat. Nate vermutet, dass sie immer noch irgendwo in Kalifornien wohnt, aber das kann niemand mit Sicherheit sagen.

Das FFVII-Haus war im Grunde ein Ort, der scheinbar auf einem gemeinsamen Traum basierte: eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig verstehen und immer füreinander da sind. Trotz all der Schmerzen, die Joanna anderen Menschen zugefügt hat, ist es wichtig, in Betracht zu ziehen, dass auch sie selbst womöglich an einer psychischen Krankheit litt (die durch die Misshandlungen in Cross Creek vielleicht noch weiter verschlimmert wurde). Deshalb ist es eigentlich kein Wunder, dass ihre Bestrebungen, einen Ort für gleichgesinnte Menschen zu schaffen, so schnell ins Stocken gerieten.

Syd schätzt, dass im echten Leben ungefähr 20 Leute in Joannas Bann gezogen wurden—und online noch viel mehr. Er und McCullough haben ihre Leben zwar wieder auf die Reihe gebracht, können aber trotzdem spüren, wie sie von der Erfahrung gezeichnet wurden.

„Jo war richtig gut darin, sich Leute auszusuchen, die leicht zu manipulieren waren und schnell in die Opferrolle gedrängt werden konnten", meint Syd. „Sie rekrutierte vor allem die Unzufriedenen, also junge Menschen aus kaputten Familien oder mit Problemen im Bezug auf Gender und sexueller Neigung. Diese Menschen waren im Internet auf der Suche nach einem Ort, wo sie ohne Probleme sie selbst sein können, und packten die Gelegenheit dann natürlich sofort beim Schopfe. Irgendwie gehörte auch Joanna selbst zu diesen Menschen."

„Wenn einem klar wurde, wie tief man in der Scheiße sitzt", fährt Syd fort, „dann war niemand mehr da, der einem da raushelfen konnte oder wollte."


Foto: reinaldoabdo | Deviantart | CC BY 3.0