Eine (Liebes-)Erklärung zu Linz
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Eine (Liebes-)Erklärung zu Linz

„Auf den Punkt gebracht ist Linz die Hauptstadt des Drecks. Du willst Opern, Ballette, Festspiele? Schau nach Wien, fahr nach Salzburg. Aber wenn du echte Abgründe willst, bist du hier richtig."

Nach den halb-ernstgemeinten Hass-Artikeln, die Markus Lust hier kürzlich zu Linz verfasst hat, bin ich nun auserkoren worden, um eine flammende Verteidigungsrede der Stahlstadt zu schreiben, die Zweifler, Zauderer und Linz-Zerleger vom Erdboden fegt. Falls ihr jetzt glaubt, das wäre alles ein von langer Hand geplantes Komplott, überschätzt ihr unsere Planungsfähigkeiten. In Wirklichkeit ist VICE nach einem kurzen Facebook-Austausch unter den beiden Linz-Texten auf mich zugekommen und meinte, ich sollte meine Brandrede doch bitte gleich in Artikelform gießen. Außerdem hieß es, ich dürfte mich ruhig hineinsteigern. Da wurde schon Schwierigeres von mir verlangt.

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Aber bevor ihr euch die Hände reibt, muss ich euch gleich mal in einem enttäuschen: Wenn ihr nur drauf wartet, dass ich Markus' teils böse Kritik an der Stahlstadt „wutentbrannt" entlarve und mit stolzgeschwellter Brust „die Ehre" der oberösterreichischen Landeshauptstadt verteidige—nah. Denn der Artikel „Gründe, warum Linz das Letzte ist" hat in gewisser Weise recht: Die Landstraße ist scheiße. Die Bäckerei Brandl ist gut, aber überteuert. Die Altstadt ist ein furchtbares Fortgehpflaster. Und die Liebeskind-Filiale kenn ich nur, weil … naja, eigentlich kenne ich sie gar nicht.

Es stimmt also alles, aber der Punkt ist: Das ist nicht mein Linz. Statt einer Vernichtung gebe ich euch also lieber eine Erklärung. Wie der Autor des ersten Textes selbst schreibt, klar: Wenn es einen nach langer Zeit wieder nach Linz verschlägt, springen einem natürlich zuallererst die neuen, grellbunten Frappucino-Shops ins Auge. Wie überall im Leben gilt auch hier—Schrott buhlt immer am lautesten um Aufmerksamkeit.

In Reiseprospekten wird New York auch immer mit Bildern vom Times Square beworben, der längst wie ein Disney-Funpark aussieht—inklusive „Naked Cowboy", der in den Augen der New Yorker Tourismus-Marketingstrategen wohl die „Craziness" der Stadt symbolisieren soll.

Aber genauso viel oder wenig wie der Disney-Times Square repräsentativ für das New York des Chelsea, des CBGBs, die Artist-Lofts von Williamsburg, Lower Eastside oder neuerdings Bushwick ist, steht auch die Landstraße nicht für das „echte Linz"—das ich doch der Einfachheit halber ab sofort „Stahlstadt" nenne. Da mag die gute alte Voestalpine längst ein „Mischkonzern" sein (mit „Eigentümerverhältnissen" und anderen Eigenarten, für die sich die Unternehmensführung meiner Meinung nach schämen sollte). Und es mag auch sein, dass außerhalb des Betriebsgeländes niemand mehr weiß, ob der Konzern nicht in Wahrheit längst Eislutscher herstellt.

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Aber wer einmal den brandigen Geruch von oxidiertem Stahl in der Nase hatte—und dazu Klänge, die in der Stahlstadt erschaffen wurden, ob von Willi Warma oder von Bruckmayr oder Fadi Dorninger, von Mefjus oder Florian Meindl—, der kann sich zeit seines Lebens nie mehr ganz der Magie dieses Moments entziehen. Zumindest nicht, wenn er nur einen Funken Anstand und Groove im Blut hat.

Auf den Punkt gebracht ist Linz die Hauptstadt des Drecks. Dreck unter den Fingernägeln, Dreck rund um den Hochofen, Dreck im LFO.

Die Zahl der mir persönlich bekannten Stahlbrand-Junkies ist Legion, ich weiß das. Und ganz ehrlich: Eine Stadt, die einen Hochofen hat, der wie Mordor aussieht, kann nie ganz schlecht sein. Mordor Rulez, halt. Wer dieses wahre Linz erst mal kennengelernt hat, löst sich schnell von jenem Linz, das vom Restösterreich als Potemkin'sches Dorf hingestellt wurde. Das ist mein Reiseführer ins Zentrum von Saurons Macht.

Wer wissen will, was die Stahlstadt wirklich ausmacht, der sollte sich am besten den inoffiziellen „Heimatfilm" von Linz anschauen: Es muss was geben von Christian Tod und Oliver Stangl, nach dem Buch von Andi Kump. (Der Titel bezieht sich auf einen „Wirtshaussager" von „Deladap"-Frontmann Stani Vana—auch so wird eben „Kultur" in Linz gemacht, aber das nur am Rande.)

Als ich selbst bei der Premiere von Es muss was geben in der Wiener Arena war, habe ich außerdem zufällig im Gespräch mit einem (offensichtlich Wiener) Gast für mich selbst die perfekte Linz-Definition gefunden. Der Wiener Kollege gratulierte mir, was wir in Linz szenetechnisch geschafft und wie wir Linz in eine vibrierende, lebendige Stadt voller Magie verwandelt hätten. Ich bedankte mich und meinte: „Die Magie, die du meinst, hat nichts damit zu tun, dass Linz so superschön ist. Wir haben Linz nie als geografischen Begriff gesehen, sondern als Gegenentwurf—zu Mozartkugeln, Lipizzanern, Apfelstrudel und Almrausch-Skihütten. Und darum ist uns jeder willkommen, der damit was anfangen kann. Wenn du also jedes zweite Wochenende in die Stahlstadt gekommen bist, hat dich das sozusagen auch selbst zum Linzer gemacht."

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Zugegeben: Ich war an dem Abend schon ein bissl angflaschlt, wir haben auf dem Weg hin im Auto schon ein bissl vorgebürschtlt, aber auf diese Beschreibung bin ich im Nachhinein doch ganz stolz.

Denn auf den Punkt gebracht ist Linz die Hauptstadt des Drecks. Dreck unter den Fingernägeln, Dreck rund um den Hochofen, Dreck im Gitarrenverstärker, Dreck im LFO. Du willst Opern, Ballette, Festspiele? Schau nach Wien, fahr nach Salzburg. Du willst tolle Vernissagen, Kulturgeschichte und die besten Clubs am Puls der Zeit? Fahr nach München, Wien, Ibiza, Rom oder Berlin. Aber wenn du Dreck suchst, gibt es nur einen Platz: Linz. Hier in Linz kriegst du alles. Aber natürlich nicht in der Liebeskind-Filiale.

Die ist aber auch für andere Leute da als die Stahlstadt-Seite von Linz. Und das liegt zu einem guten Teil auch an einem Phänomen, das es in vielen anderen Städten dieser Welt—egal ob Berlin, Chicago, Wien oder London—gibt. Es hat ein bisschen mit der Weltstadt-oder-Provinz-Frage zu tun. Ja, Linz reimt sich auf „Provinz", sogar noch in Artikeln von 2015. Wir haben's gelesen und verstanden.

Aber lasst mich das so erklären: Genau wie überall sonst verschlägt es auch bei gehörig viele Leute aus dem Umland in die Stahlstadt. Und unter „Umland" verstehen wir—also die Linzer von Texta, Radio FRO, DorfTV, bis Mefjus, ND, D-Tex und wie wir alle heißen—natürlich auch die uns komplett wesensfremde „Region Altstadt und Landstraße". Wiener Lesern kann man das am besten damit erklären, dass sich Nazar und Makossa eher nicht im sozialen Umfeld von Wolfgang Schüssel und Ursula Stenzel selbst verorten würden, obwohl—rein geografisch betrachtet—alle im Hoheitsgebiet von Michael Häupl ansässig sind.

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Von daher kommen natürlich viele Gestalten. Sie kommen aus Gegenden und Kinderstuben, in denen Dreck etwas Schlimmes ist, wo die Mama jedes Staubflankerl immer gleich weggewischt hat. Klar, dass sie mit dem Konzept einer Stadtwerkstatt oder einer Kapu wenig anfangen können, egal wie oft man es ihnen auch erklärt. Diese Leute bauen sich lieber ein Lentos oder ein Musiktheater—also Kulturstätten, in denen die Inhalte eher wurscht sind, aber dafür sind sie blitzblank sauber und könnten so auch in Barcelona oder München stehen. Die haben auch weniger mit uns Linzern zu tun. Diese Teile sind eher etwas für Leute aus dem Umland. Sagen wir einfach—mit Ausnahme vom Ars Electronica Center, das wir schon ins Herz geschlossen haben—, jeder braucht was zum Hasslieben.

Wir Stahlstadtkinder haben eine fast schon genetisch bedingte Abneigung gegen alles, was sauber ist. Wenn etwas superschön ist, wissen wir, dass es darunter ganz arg superschiach ist. Aber wenn es schon an der Oberfläche desolat ist, dann will es erfahrungsgemäß keiner haben—und wir setzen uns mit Schweißgerät und Lötkolben drauf und machen es einfach passend.

Leider gehen viele Stahlstadtkinder mit ihren hitzigen Lötkolben nicht in die Linzer Stadtpolitik, sondern, wenn sie das Fernweh packt, gleich woanders hin: Wie Martin Reiter nach Berlin, der da das Tacheles gekapert und dann vorgezeigt hat, wie Berlin ausschauen soll. Oder der Krispel Rainer ins Chelsea nach Wien. Oder LeWo in New York. Oder in Wien der … naja, Christoph Leitl ist jetzt irgendwie ein blödes Beispiel, aber ihr wisst schon, was ich meine.

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Was ich damit sagen will: Ganz oft machen die Linzer „Stadt-Marketingexperten" ihre oft dummen Projekte nicht, um die Welt zu verblüffen—sondern eben für uns Stahlstadtkinder. Aber wir Stahlstadtkinder bemühen uns außerordentlich um Bescheidenheit. Wir wissen: Die schiere Anzahl an international erfolgreichen Acts aus der Stahlstadt würde Restösterreich zutiefst deprimieren. Da sind Texta, Parov Stellar, La Rochelle, Mefjus, Deladap, Bruckmayr, Mono&Nikitaman und, und, und. Gerade unsere Wiener Nachbarn zucken da gerne völlig aus, wenn sie das statistisch hochrechnen und draufkommen, dass sie trotz vierfacher Einwohnerzahl auch nicht mehr nennenswerte Acts haben.

Für uns Linzer hat Österreich zwei Großstädte—Wien und Linz. Warum sollten wir Wien hassen?

Was mich auch zu der Sache mit Linz und Wien bringt. Zunächst mal: Für uns Linzer hat Österreich zwei Großstädte—Wien und Linz. Egal, wie viele Einwohner einzelne Städte auf Wikipedia haben mögen, jeder weiß, dass Linz bei Enns anfängt und kurz vor Wels aufhört: „Los Angelinz" eben. Korrekt gesagt: „Linz ist das Zentrum des mit 758.220 Menschen zweitgrößten Ballungsraumes der Republik Österreich". So, ich bin mit Wikipedia wieder versöhnt.

Während Grazer, Innsbrucker, Bregenzer oder Kärntner gemeinhin mit großem Trara nach Wien „ausziehen"—verbunden mit dem Familienkoffer und Abschiedstränen—, „geht" der Linzer einfach nach Wien. Maximal mit Zahnbürste und Laptop unterm Arm, denn Wien ist für den Stahlstadtlinzer praktisch nur eine anderer Stadtteil.

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Vom uns gegenüber Wien „Hauptstadtgefühle" zu erwarten, ist in etwa so, als von Ottakringern Ehrfurcht vor dem Ring zu erhoffen. „Minderwertig", „unterlegen" oder „aubrunzt" fühlt sich das Stahlstadtkind also maximal gegenüber einzelnen Personen, aber welchen Grund gäbe es zu einer solchen Attitude gegenüber Wien als Ganzes?

Das Stahlstadtkind ist sich völlig seiner Verantwortung bewusst, die ihm aus seiner schieren Existenz als Kind Österreichs zweiter Metropole gegenüber Wiener Freunden erwächst. Würde man einen Linzer fragen, wie er seine Stadt am besten beschreibt, käme wahrscheinlich ziemlich oft ein Ausdruck vor, das ein bisschen das sprachliche Idiom von Linz ausmacht: nämlich „passt", ausgesprochen wie „baaaaasst". Und damit ist eigentlich auch alles gesagt.

„Nicht gepasst" haben lediglich die 2000er, allem voran das Kulturhauptstadtjahr 2009, das leider eine subkulturelle Wüste hinterlassen hat: Ja, Rechtsruck, Gentrifizierung und „Liberalisierung" haben auch hier ihre Narben hinterlassen. Aber die wahren Helden der Stadt haben sich aus den Trümmern von 2009 wieder nach oben gegraben und sind—fast vollständig, und verstärkt durch so manchen großartigen Newcomer—alle wieder da.

Die Clubs heißen Strom, Kapu, Paul's, Tabakfabrik, Sputnik, Tischlerei, Salonschiff Fräulein Florentine, Raumschiff, Solaris—und egal, was ich jetzt da oder dort zu bemäkeln hätte: Bis ich damit fertig bin, hat man sich doch ohnehin wieder „zusammengestritten". Auch das ist das Schöne an Linz.

Und wenn wir schon beim Schönen sind, kommen wir doch gleich zum Schönsten, das im Gegensatz zu vielem anderen hier wirklich nur die Stahlstadt hat: Die Schlote der Voestalpine. Wer sie erlebt hat und zu der Sorte Mensch gehört, die nicht mit Entsetzen die Nase gerümpft, sondern es in sich hineingesogen hat, verlässt Linz nie mehr ganz.

Wenn die Voestalpine-Schlote ihre Schlacke-Gase nachts in den Himmel fackeln, fühlt sich der Linzer zuhause. Schon zehn Kilometer vor der Stadt kann man erkennen, wie sich der Nachthimmel über Linz blutrot färbt. Und wer schon einmal den Geruch von verbrannt-oxidiertem Stahl in der Nase hatte, den verlässt dieser Augenblick nie.

Manch einen von außerhalb „reißt's" bei dem Erlebnis, aber diejenigen, die es verstehen, ergreift tiefer Schauer und sie begreifen: Hier leben und werkeln die wahren Kinder des Hephaistos. Also, warum bitte sollten wir uns vorm Rest des Landes oder der Welt fürchten?

Hilmar Gamper, aka Hillberg, ist gebürtiger Wiener, aber seit 50 Jahren eingefleischtes Stahlstadtkind. Er ist Musiker und freier Journalist in Linz.