Die Kinder vom Sonnenhof: Ein Besuch im Kinderhospiz

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Die Kinder vom Sonnenhof: Ein Besuch im Kinderhospiz

„Wir haben uns die Arbeit ausgesucht. Die Menschen, die hier sind, haben sich das nicht ausgesucht."

Die Stimmung in der zweiten Etage ist gedrückt. Auf einem Stuhl im Gang sitzt ein Plüschbär. Das ist das Zeichen für alle Mitarbeiter: Im Kinderhospiz Sonnenhof ist heute ein Gast gestorben. Dieses Schicksal trifft alleine in Deutschland jährlich etwa 5.000 unheilbar kranke Kinder und Jugendliche. Das kurze Leben wollen diese Kinder und ihre Familien auskosten. Damit das funktioniert, werden sie von 70 ambulanten und stationären Hospizdiensten unterstützt.

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An dieser Wand im Kellergeschoss hängen die Mitarbeiter für jeden verstorbenen Gast ein Teelicht auf. Einige Zimmer weiter liegt der Raum, in dem sich die Familien verabschieden können. Bis zu drei Tage können sie dort den Leichnam des toten Kindes besuchen. Wenn nicht anders angegeben, alle Fotos von der Autorin

„Kranke Kinder bzw. Jugendliche wollen etwas lernen, ihrer Familie nah sein, und auch ihre Angehörigen brauchen psychosoziale Unterstützung. Das läuft alles momentan auf Spendenbasis, die Krankenkassen zahlen das nicht", sagt die Leiterin vom Kinderhospiz Sonnenhof in Ostberlin, Pia Heinreich.

Deren Möglichkeiten sollen sich jedoch 2016 verbessern, der Bundesverband Kinderhospiz spricht sogar von einem „historischen Durchbruch". Grund ist ein neues Gesetz: Knapp 20 Jahre nach Eröffnung des ersten stationären Kinderhospizes dürfen die Einrichtungen endlich eigenständig Rahmenvereinbarungen mit den gesetzlichen Krankenkassen verhandeln. Dadurch soll vor allem die Finanzierung gerechter und angemessener werden, sagt die Geschäftsführerin des Bundesverbands Sabine Kraft.

Das Gedenkzimmer: Ein Raum für die Trauer

Was der Sonnenhof in der Zwischenzeit aus den Spendengeldern macht, berührt. Auf den drei lichtdurchfluteten Etagen verteilen sich Spielzimmer, Beratungszimmer, Therapieräume und die Zimmer der Gäste. Bunte Wandgemälde zieren die dunkleren Gänge, in der kleinen Kantine können sich Familien und Angehörige eine Auszeit gönnen. Obwohl in diesem Haus so viele Kinder leben, ist es außergewöhnlich ruhig. Doch von dieser Ruhe geht eine Wärme aus. Für jedes Gefühl ist man hier dankbar.

Informatik-Student Marcel Glab (19) erzählt mir, wie er aufgeregt in dem kleinen Sportflugzeug hoch über Berlin saß. „Schau mal! Da drüben ist ein ehemaliger Bunker", hat der Pilot neben ihm gerufen und die Maschine nach rechts gelenkt. Marcels, teilweise gelähmt, ist langsam auf die Seite gerutscht, um besser sehen zu können.

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Marcel im Urlaub in Dänemark. Manchmal wünscht sich Marcel mehr Spontaneität im Leben, aber das funktioniert nur selten. Mindestens drei Tage vorher muss er den Fahrdienst organisieren, sonst muss sein Vater einspringen. Foto privat

Damit Marcel sich diesen Traum erfüllen konnte, mussten sich die Helfer der Björn-Schulz-Stiftung und sein Vater ziemlich ins Zeug legen. Die Stiftung organisiert Marcels Betreuung zu Hause und leitet auch das Hospiz Sonnenhof, in dem seine Schwester gelegentlich untergebracht wird.

Die spinale Muskelatrophie, ein tückischer und seltener Gendefekt, lähmt Marcel und seine Schwester zunehmend. Da immer mehr Nervenzellen im Rückenmark absterben, werden Impulse aus dem Gehirn nicht mehr an die Muskelgruppen weitergeleitet.

Wie viel Zeit Marcel bleibt, wissen die Ärzte nicht. Schon seit dem ersten Lebensjahr bestimmt die Krankheit seinen Alltag: Sein Vater, ehrenamtliche und ambulante Begleiter helfen ihm beim Anziehen, Waschen, Schreiben—auch in der Uni. „So ziemlich die normalen Sachen, die man eigentlich schafft", nennt er das.

Die Drei leben in einer bescheidenen, aber gemütlichen Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Mariendorf. Die Wohnungstür öffnet automatisch, die Dusche ist groß genug für den Rollstuhl und nachts ist immer eine Pflegerin zu Besuch.

Aber Marcel macht das nichts aus. Er konzentriert sich auf die schönen Dinge im Leben: ein Eishockeyspiel der Eisbären, ein Konzert von AC/DC, die Weltmeisterschaft des Games League of Legends, ab und zu Urlaub im Ausland. „Das klappt nicht immer", sagt er. Manchmal komme ein Infekt dazwischen. Aber von Hindernissen lasse er sich nicht abschrecken, denn es gebe immer Menschen, die ihm helfen und zur Seite stehen. Besonders sein Vater.

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Marcel beim Linkin-Park-Konzert. Foto privat

Artur Glab kämpft „wie ein Pitbull" für seine Kinder—und gegen die AOK Nordwest. Seinen Job als Koch hat er dafür aufgegeben. Alles muss er beantragen: Rollstühle, Alltagshilfen, Transporte, … „Man hat hier einen Fulltime-Job, Widerrufe zu schreiben, Anträge zu stellen, Begründungen zu schreiben … Grundsätzlich kommt immer erst eine Ablehnung. Auch beim Sozialgericht musste ich schon klagen", sagt er.

Anfangs wollte er die Diagnose nicht wahrhaben, ist mit den Kindern sogar in die USA gereist für eine teure, wirkungslose Therapie. Dazu hat Marcel inzwischen seine eigene Meinung: „Ach, da macht man sich doch selber verrückt. Ich weiß, es gibt noch nichts dagegen. Ich lebe mein Leben einfach so gut, wie es geht—bisher ganz erfolgreich."

Wie stellt sich Marcel seine Zukunft vor? „Es ist eine progressive Krankheit, das sagt schon alles. Besser wird's nicht, es wird nur schlimmer. Aber bis dahin mach ich halt mein Ding." Er wolle sein Studium beenden, in der Stadt bleiben, vielleicht irgendwann mal eine WG aufmachen. „Die Zukunft ergibt sich dann halt einfach."

Die meisten Familien im Sonnenhof würden gerne so mit ihren Kindern zusammenleben, doch das geht nicht immer. Die aufwändige Pflege kann nicht jeder bewältigen. Manche Gäste machen eine Chemotherapie durch und brauchen ärztliche Aufsicht. Andere sind schwerbehindert und ihre Eltern brauchen eine Pause.

Juri vor dem Ausbruch seiner Krankheit

Juri Muchalla ist elf Jahre alt und lebt seit weniger als zwei Jahren im Kinderhospiz. Auf dem Bett liegt sein Kuschel-Igel, an der Wand hängen die Fotos von seinen Kletter-Abenteuern, seine Mutter Ines liest ihm jeden Tag vor und Otto Waalkes hat ihn besucht. Davon bekommt Juri nicht mehr viel mit. Er ist bewegungsunfähig, blind und stumm.

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Er leidet unter der vererbten Stoffwechselstörung Adrenoleukodystrophie: Durch sie kann Juris Körper keine überlangkettigen Fettsäuren mehr abbauen. Die haben sich in seinem Gehirn, seinem Rückenmark und in der Nebennierenrinde abgelagert. Das behindert Impulse. Juris Körper und Geist bauen immer mehr ab.

„Juri ist schon deutlich länger Gast im Kinderhospiz, als wir das anfangs gedacht haben", sagt Sonnenhof-Leiterin Pia Heinreich. Intelligent, beliebt und sportlich—das war Juri, bevor seine Krankheit ausgebrochen ist. Was davon heute noch in ihm steckt, kann er nicht mehr zeigen.

Juri mit seiner Mutter Ines

Mit sonnengebräunter Haut, himmelblauen Augen und blonden Haaren liegt er in seinem Rollstuhl im Sonnenhof neben seiner Mutter Ines. Ihre Nähe beruhigt ihn. Straßenlärm könne er nicht ausstehen, sagt sie.

„Er war eine abgefahrene Persönlichkeit. Er hat unheimlich schnell gelernt, da hatte ich überhaupt keinen Anteil daran. Nach der Einschulung sollte er gleich in die dritte Klasse kommen", sagt Ines Muchalla und streicht ihm eine Strähne aus dem Gesicht.

Wenn sie von ihm erzählt, dann klingt es, als habe Juri sein kurzes Leben voll ausgekostet. Klettern, Schwimmen, Kung-Fu, Ausflüge mit den Pfadfindern, viele Freunde … „Ein beeindruckender kleiner Junge. Wir hatten ein sehr schönes Leben", sagt Ines.

Die unheilbare Krankheit hat die Familie eines Tages vor vollendete Tatsachen gestellt, immer wieder hatten Ärzte die ersten Anzeichen übersehen. Im Hospiz Sonnenhof konnte sich Ines Muchalla nach Juris Zusammenbruch Mut holen und Kraft tanken.

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Juris Lieblingsstofftier in seinem Zimmer

Was genau damals geschah, darüber wollte sie nicht sprechen. Die Bundesärztekammer beschreibt den Verlauf der Adrenoleukodystrophie wie folgt: „In den ersten Lebensjahren entwickeln sich die Kinder altersgerecht. Plötzlich verändert sich ihr Verhalten und Wesen: zum Beispiel können sie sich nicht mehr konzentrieren, sie werden unruhig und die Schulleistungen lassen nach. Die Beschwerden verschlechtern sich rasant—es kommt zu Blind- und Taubheit, Lähmungen und Schluckstörungen." Die Kinder werden schwerbehindert, pflegebedürftig—und viele sterben.

Acht Monate lang haben Juris Eltern ihn zu Hause gepflegt. Als Juri sein Essen nicht mehr schlucken konnte, brachten sie ihn ins Hospiz. Den überwältigenden Pflegeaufwand konnten sie nicht mehr leisten.

„Am Anfang hatte ich schon ein schlechtes Gewissen, ihn einfach abzugeben", sagt seine Mutter. Aber im Sonnenhof hat sie sehr schnell erfahren, dass ihr Kind gut aufgehoben ist. „Mit Hilfe der Stiftung habe ich immer eine Lösung gefunden und mich irgendwie mit der Situation arrangiert. Ein unheimlich empathisches Team kümmert sich um Juri und damit konnte ich loslassen", erzählt sie.

Das war auch nötig, sagt Ines Muchalla. „Das ist ein markerschütterndes und niederschmetterndes Ergebnis, das einem von den Ärzten auf einem Stück Papier unter die Nase gehalten wird. Man ist natürlich unheimlich zornig, man ist wütend, man versucht, Entschuldigungen zu finden, man kann sich damit nicht abfinden und dadurch durchläuft man das gesamte Repertoire an Gefühlen. Man ist von Ängsten gesteuert. Man schläft nicht mehr. Die Beziehungen werden auf den Prüfstand gestellt—zum Mann, zur Familie, zu den sozialen Kontakten und man weiß nicht, wohin man damit soll."

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Aber das habe sich irgendwann beruhigt und in kleinen Schritten konnte sie die Krankheit akzeptieren. „Mit der Gewissheit, dass Juri hier sehr gut behandelt wird, kann ich inzwischen meinen Alltag gestalten und ganz in Ruhe am Abend nach Hause fahren. Meiner Arbeit nachgehen, meinen Hobbys und meinen Freiräumen. Das ist ein unheimliches Privileg, was ich sehr zu schätzen weiß", sagt sie. Drei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen kümmern sich um ihren Sohn, wenn seine Eltern nicht da sind. Dazu gibt es Pfleger, Physiotherapeuten, Psychologen und die Ärzte.

Juris Krankheit ist unberechenbar: Sie kann zwei oder 18 Jahre dauern—oder stehen bleiben. Er kommt nun in die Pubertät, da bringen Hormone den Stoffwechsel noch mehr durcheinander. Ein Arzt sollte das im Auge behalten, aber das sieht selbst das neue Palliativ- und Hospizgesetz nicht vor.

Im Sonnenhof ist zwar eine Ärztin festangestellt, dazu gibt es vier ambulante Ärzte, aber die werden durch Spenden finanziert. „Laut Gesetz ist ein Hospiz eine pflegerische Einrichtung, die keinen eigenen Arzt haben muss. Das heißt, dass theoretisch jeder Hospizgast seinen eigenen Arzt hat. Aber kaum ein niedergelassener Kinderarzt kommt zu uns", sagt Pia Heinreich.

Dennoch habe sich in den vergangenen zehn Jahren im Sonnenhof sehr viel getan. Pia Heinreich kann mehr Personal einstellen und den Gästen intensivere Pflege bieten. Doch qualifiziertes und empathisches Pflegepersonal sei schwer zu finden: „Ich glaube, das wird uns auch zukünftig sehr bewegen, nicht nur im Kinderhospiz. Das sind ganz besondere Menschen, die hier arbeiten. Unsere Mitarbeiter müssen bereit sein, sich mit dem Thema Tod und Sterben auseinanderzusetzen—auch mit dem eigenen."

Wie sich das anfühlt, weiß sie selbst. Pia Heinreich ist vor zehn Jahren „zufällig reingeraten" in den Sonnenhof, weil sie enger mit Familien und Kollegen zusammenarbeiten wollte. Sie ist dankbar für das, was sie erleben darf. „Ich selbst hatte einmal die Situation: In einer Begleitung bin ich so dicht an dem Gast gewesen, dass ich mehr empfunden habe als Mitgefühl. Da konnte ich die professionelle Distanz nicht wahren. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass das auch ab und zu sein muss. Aber man muss dabei gut auf sich selbst achten."

Was sie am meisten bewegt? Wenn sich eine Familie verabschiedet, empfinde sie immer eine gewisse Demut. „Wir haben uns die Arbeit ausgesucht. Die Menschen, die hier sind, haben sich das nicht ausgesucht."