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Wenn Lesben und Transsexuelle Text-Adventures schreiben

'Twine' ist nicht nur ein geniales Tool zum Schreiben von Text-Adventures, es bringt auch bisher selten gehörte Stimmen in den Computerspiel-Diskurs ein.

Aus HIGH END CUSTOMIZABLE SAUNA EXPERIENCE von Porpentine. (Screenshot)

Wer kann sich eigentlich noch an die sogenannten Spielbücher oder Leseabenteuer erinnern? Statt eine lineare Geschichte von vorne bis hinten durchzulesen (was ja sooo 19. Jahrhundert ist), war man hier selbst Protagonist und musste ständig Entscheidungen treffen: „Willst du das linke Portal durchschreiten? Dann lies weiter bei Abschnitt 127. Willst du nach Hause gehen und vor deinem Liam-Neeson-Poster onanieren? Abschnitt 34." Oder so ähnlich.

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In den Achtzigern und frühen Neunzigern war diese Form der interaktiven Unterhaltung ein ziemlicher Renner. Die Nerds unter uns kennen die Fighting Fantasy-Bücher wie Der Hexenmeister vom Flammenden Berg, anderen hat man in ihrer Jugend sogar mittels Franz Sales Sklenitzkas Der Schatz im Ötscher österreichische Landeskunde beibringen wollen. Heute haben wir es in jeder erdenklichen Hinsicht besser: Statt mühsam hin und her zu blättern, können wir mittlerweile einfach auf einer Webseite die Links anklicken und das dann ein Text-Adventure oder Hyperfiction nennen.

Das momentan angesagteste Tool um solche auf Links basierende Text-Adventures zu schreiben, heißt Twine. Und ja, ich verwende „angesagt" und „Text-Adventures" tatsächlich im gleichen Satz. Denn mit Twine entstehen weder die aus den Spielbüchern bekannten Fantasy-/Horror-/SciFi-Geschichten noch die akademisch-abgehobenen Literaturexperimente, die man bisher oft mit dem Begriff Hyperfiction verbunden hat. Twine hat unter anderem Spiele wie CRY$TAL WARRIOR KE$HA hervorgebracht, das dir die Wahl lässt zwischen „spray glitter from every orifice" und „drain your boyslave's virile energy to fuel your slutwave mantis transformation".

Twine zieht eine bestimmte Sorte von Leuten an: Randgruppen, Querdenker, darunter überdurchschnittlich viele Frauen, Homo- und Transsexuelle. Also generell Leute, die mit der etablierten Nerd-Kultur—einer Domäne des gut situierten, weißen Hetero-Mannes—nicht viel anfangen können.

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Die Spiele sind meistens recht kurz und erzählen tendenziell absurde, surreale und manchmal sehr persönliche Geschichten. Themen wie Sexualität, Identität und virtuelle Realität tauchen dabei immer wieder auf. Merritt Kopas' positive space erzählt von der Erfahrung, in seine Leistenkanäle gefingert zu werden. In Kat Chastains' rat chaos werden Videospieltropen dekonstruiert. Porpentinestheir angelical understanding trägt die Warnung „Suicidal ideation, ableism, abuse, possible epilepsy trigger".

Foto via Motherboard

Eigentlich hat Twine für recht wenig Aufsehen gesorgt, als es 2009 von Chris Klimas—ebenfalls ein Autor von Text-Adventures—veröffentlicht wurde. Populär wurde es erst dank der Spielemacherin und -theoretikerin Anna Anthropy.

In Ihrem 2012 erschienenen Buch mit dem schönen Titel Rise of the Videogame Zinesters: How Freaks, Normals, Amateurs, Artists, Dreamers, Dropouts, Queers, Housewives, and People Like You Are Taking Back an Art Form plädiert sie für eine größere Vielfalt an Stimmen und Perspektiven in der Spieleentwicklung und hebt Twine als simples, zugängliches und demokratisches Tool besonders hervor. Daraufhin kam es zu einer regelrechten Explosion an Twine-Spielen. Porpentine, unter anderem Autorin von CRY$TAL WARRIOR KE$HA und Stil definierende Speerspitze der Bewegung, deklarierte „the twine revolution":

Twine ist nicht nur umsonst herunterzuladen und kommt ohne lästige Lizenzbestimmungen aus, sondern ist auch tatsächlich watscheneinfach zu bedienen. Programmierkenntnisse sind überhaupt keine notwendig. Ohne mich jemals zuvor mit dem Tool beschäftigt zu haben, ist es mir innerhalb eines Nachmittags gelungen, eine kleine interaktive Kurzgeschichte für meine Freundin aus dem Boden zu stampfen, mit diversen Variablen, Verzweigungen und vier unterschiedlichen Enden.

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TOWN von Anna Anthropy. (Screenshot)

Im Twine-Editor selbst sieht so eine Geschichte wie eine Karte aus, auf der die einzelnen Stationen als Kästchen dargestellt und mit Linien untereinander vernetzt sind. Das Programm zu benutzen ist also ein bisschen wie eine Brainstorming-Session auf einem Flipchart. Man kann die einzelnen Stationen so anordnen, gruppieren und umherschieben, wie man möchte, ohne dass es irgendeinen Einfluss auf die fertige Geschichte hat.

Anna Anthropy hat ihr Spiel Town zum Beispiel wie einen Plan des titelgebenden Städtchens angeordnet. Manche Twine-Karten wie die zu Dan Wabers a kiss, könnte man sich glatt als Kunstwerke an die Wand hängen. Anders als in der traditionellen Spieleentwicklung ist bei Twine nicht etwa effizienter Progammier-Code König sondern die eigene Kreativität.

Sogar die Distribution der fertig getexteten Spiele—oft eine Hürde für Amateur-Entwickler—ist kinderleicht. Die Twine-Stories sind einfache, handelsübliche HTML-Dateien, die man so, wie sie sind, im Internet hochladen oder problemlos mit Freunde teilen kann. Und wer ein wirklich schönes, konzises Tutorial sucht, wird auf Anna Anthropys Blog fündig.

Zu guter Letzt: Twine kann man hier herunterladen. What are you waiting for? Join the revolution!

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