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DIE SCHNITZEL UND STRUDEL AUSGABE

Unsere seltsamen Alpentraditionen

Eine Reise zu vergangenen Bräuchen aus unserer eigenen und Omas Kindheit.

Wir hoffen, ihr habt zu Ostern ein Ei über euer Haus geworfen, damit der Blitz nicht einschlägt, und euch an den kalten Apriltagen mit Schmalzbalsam gesund gehalten—andernfalls ist es reiner Zufall, dass ihr noch am Leben seid und ihr solltet zur Feier dieses Umstands eine Kuh schmücken oder einen Stelzentanz aufführen. Alternativ könnt ihr natürlich auch irgendeiner modernen Tradition nachgehen, für die man ein iPhone und ein Puber-Tag braucht und von der dann in der aktualisierten Version dieses Artikels im Jahr 2074 die Rede sein wird, wenn ihr jenseits der 80 seid und noch immer das halbe Leben vor euch habt, aber euch niemand mehr zuhören will.

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Genau das haben wir jetzt schon gemacht: Wir haben unseren Opas, Omas und Großtanten vierten Grades zugehört, um bei einem Krug Most zu erfahren, welche Bräuche sie und damit auch irgendwie uns als alpines Völkchen so ausmachen.

FEUER UND FLAMMEN
Nur wenig übt eine so große Faszination auf uns aus wie das Anzünden und Abfackeln von Dingen. Da wir uns aber seit der Erfindung von Gabeln und Schuhbändern für zivilisiert halten, brauchen wir zum Ausleben unserer allzu menschlichen Pyromanie immer einen rituellen Unterbau—am besten aus leicht brennbarem Holz und kruden Geschichten über Hexen. In Vorarlberg gibt es deshalb die sogenannten „Funkenfeuer“, bei denen sich eigene Funkenzünfte mit nichts anderem beschäftigen als damit, sich Konstruktionen in Kirchturmhöhe auszudenken und diese anschließend im Zuge eines riesigen Volksfestes zu verbrennen.

Dabei werden auch heute noch symbolisch Hexenfiguren in die Holz- oder Strohhaufen gestellt und im Beisein von Groß und Klein—sowie unter dem rituellen Verzehr mehrerer Liter Birnenschnaps und Glühwein—zu Asche kleingezündelt. Auch in der Steiermark gibt es im Sommer Feuerfeste, wie etwa den „Schilcherberg in Flammen“, bei dem alle Buschenschanken des Berges brennende Holzscheite in ihren Gastgärten anzünden und so vom Tal aus den wunderschönen Eindruck einer kollektiven Hexenverbrennung vermitteln. Dazu wird—für Kenner der menschlichen Natur wenig überraschend—in rauen Mengen „Schilchermischung“ getrunken. Aus persönlicher Erfahrung können wir berichten, dass an diesem besonderen Tag auch die urigsten Sprösslinge der lokalen Schilcher-Dynastien aus dem Keller geholt werden, um vor dem Feuer stundenlang „BRENN, DU HEX!!! BRENN!!!“ zu rufen.

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AUSTRIAN LIMITS: DIE RAUNÄCHTE
Kurze Tage, lange Nächte und eine Zeit, an der scheinbar alle Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind—das kennen die Großstädter unter uns gemeinhin als „Wochenende“. Im ruralen Österreich nennt man das Ganze aber „Raunächte“ und meint damit kein anhaltendes MDMA-Koma, sondern die Zeit zwischen Wintersonnenwende (21. Dezember) und der Erscheinung des Herrn (6. Jänner). Den Anfang macht die Thomasnacht, eine Art esoterisches Prä-Internet-Pendant zu den Singlebörsen von heute. Die Fülle an obskuren Bräuchen, die alle der Auffindung des zukünftigen Lebenspartners in exakt dieser Nacht dienen, ist endlos—und hat aus Gründen, die uns bisher niemand erklären konnte und die vermutlich irgendwie mit dem Sündenfall und der ganzen Schlangengeschichte zusammenhängen, ziemlich viel mit Äpfeln zu tun.

So steckte man sich früher in Oberösterreich am 21. Dezember einen Apfel unter die Achsel und trug ihn dort bis zu Weihnachten, ohne sich zu waschen. Wenn dann die Kirchenglocken die Geburt Christi einläuteten, zog man die angenässte Frucht unterm Arm hervor und gab einen Teil davon seinem zukünftigen Schatz zu essen, während man den salzig-schwitzigen Rest selbst verzehrte. Aber auch die übrigen Raunächte haben ihre gewöhnungsbedürftigen regionalen Traditionen. „Am 24. Dezember darf man zum Beispiel keine Wäsche aufhängen, weil sonst jemand aus dem Haus stirbt“, erzählt uns Bäuerin Kätti aus Straßwalchen in Salzburg. Warum? „Das ist einfach so.“ Genau so, wie man am „Altjahrstag“—dem Tag vor Neujahr—„das Haus und den Stall mit Weihrauch ausräuchern muss, um böse Geister zu vertreiben.“ Außerdem sind die Raunächte laut Kätti geschlechtstriebstechnische und soziale Off-Season: „Ein Freund von mir ist früher einmal in der Raunacht ausgegangen—was man auch nicht darf. In den nächsten Tagen wurde er ständig von einer schwarzen Katze verfolgt.“

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UNKENER STELZENTÄNZE
Dass der Winter den Menschen jedes Jahr viel zu lange dauert, ist nicht erst ein Phänomen unserer spaßgeilen, sommerversessenen Neuzeit. Schon vor Jahrhunderten waren die Leute der Meinung, dass es nach Weihnachten und Silvester ruhig wieder wärmer werden könnte, und stellten sich ab dem 6. Jänner auf Spring Break ein. Gefeiert wurde in jeder Alpenregion anders, aber in allen gleich energisch. In der Salzburger Gemeinde Unken wird das „Furcht austreiben und Fruchtbarkeit erbitten“ zum Beispiel in einer lebensbejahenden Zeremonie aus Stelzen und Schnaps begangen. Der Legende nach entstand der Unkener Stelzentanz im 17. Jahrhundert, als ein Hochwasser es den Bauern erschwerte, für den beliebten Perchtenumzug von Hof zu Hof zu kommen.

Weil es in Unken damals aber scheinbar sonst nicht viel zu tun gab und man sich seinen 6. Jänner nicht von so banalen Sachen wie einer Naturkatastrophe kaputtmachen lassen wollte, schnallte man sich einfach 60 Zentimeter lange Stöcke an die Schienbeine und tanzte sich seinen Weg ins Glück. Seither wird der Unkentanz als Schönperchten-Tradition immer noch jedes Jahr aufgeführt. „Und nicht nur bei uns in Unken“, wie Martin Fuchs senior vom lokalen Trachtenverein uns erzählt. „Auch in Wien und Stockholm waren wir damit schon. Das Besondere daran ist, dass es sich beim Stelzentanz ja um einen heidnischen Brauch handelt, den man deshalb sogar schon einmal verbieten wollte. Natürlich trinkt man auch bei jeder Station ein Bier oder einen Schnaps und am Ende ist es ein Kampf, aber darum geht es nicht ausschließlich.“

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FENSTERLN: WE CHOPPY CHOPPY THE WEEWEE
Seit die Evolution den Geschlechtstrieb entwickelt hat, sind die Alten damit beschäftigt, sich Geschichten auszudenken, um dem Nachwuchs selbigen wieder auszutreiben. Das zeigt sich am besten am Beispiel des „Fensterlns“, dem alpintraditionellen Äquivalent zu unserem heutigen „Du bist so schön, darf ich dir ein Wodka-Red Bull zahlen?“. Wobei der größte Unterschied darin besteht, dass der fortpflanzungsfreudige Jüngling damals vor der Angebeteten auch noch eine Leiter zu ihrem Zimmer besteigen musste. Dieser erhöhte Schwierigkeitsgrad des Balzens garantierte nicht nur (im wörtlichen und übertragenen Sinne) eine größere Fallhöhe, sondern bot auch Platz für alle möglichen Mythen zur Sexprävention.

In Tirol erzählte man sich, dass der Teufel junge Männer auf dem Heimweg vom Fensterln quer durch die Ortschaft jagt und heimtückische Hexen sie nach dem Liebesbesuch so lange durch die Sträucher schleifen, bis sie komplett nacktgepeinigt sind. Eine andere Legende besagt, dass sich ein vom nach dem Fensterln fliehender Tiroler Bub am Gartentor kastrierte—und zwar nicht vor gefühlten Äonen im gebirgig abgeschirmten Mittelalter, sondern erst vor relativ Kurzem. Im Flachgau hingegen sieht man das Fensterln eher als feigen Shortcut. „Das war mehr was für die Schüchterneren“, erklärt die ehemalige Schneiderin Maria. „Wer sich vor der Konkurrenz nicht verstecken musste, der hat nicht gefensterlt, sondern bei der Nåchtroas mitgemacht.“

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Bei dieser Battle Royal-Variante des ruralen Balzrituals, die auf Hochdeutsch „Nachtreise“ bedeutet, trafen sich gleich mehrere Jugendliche gleichzeitig im Kinderzimmer der Angebeteten und bestätigten damit, was Kulturanthropologen seit Langem vermutet haben: dass es in der österreichischen Dorfwelt des (vor)vorigen Jahrhunderts ziemlich genau so zugegangen ist wie in Dawson’s Creek. Außerdem hätte man bei der Nåchtroas einen ganz pragmatischen Vorteil gegenüber seinen Mitstreitern gehabt, sagt Maria. „Beim Fensterln kam es schon auch vor, dass Burschen abstürzten, weil ihnen Konkurrenten einfach die Leiter weggezogen hatten.“ Dann doch besser den Feind im eigenen Bett haben.

HAUPTSACHE, ES GIBT SCHNAPS
Obwohl der Katholizismus in Oberösterreich eigentlich eine ausgesprochen wichtige Rolle spielt, haben wir sonst so bibeltreuen Alpenlandbewohner es irgendwie geschafft, das 8. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ so umzudeuten, dass daraus „Du sollst nicht stehlen, außer du bietest dem Geschädigten die Möglichkeit, das Diebesgut mit viel Schnaps und Bier zurückzukaufen.“ wurde. Seither darf alles gefladert werden, was in Ansätzen so etwas wie Penisneid auslöst. Hat die Nachbargemeinde zum Beispiel den größeren Maibaum—kein Problem, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion werden die Aufpasser überwältigt und schon ist man selbst im Besitz des längsten. Stellt man voller Entsetzen fest, dass der Stall—oder, noch schlimmer, das Haupthaus—eines dörflichen Konkurrenten etwas überdimensioniert konzipiert ist, entwendet man den essenziellen Dachgiebel. Auch vor Menschen wird nicht Halt gemacht.

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Bei Hochzeiten werden Braut und Bräutigam entführt, bei der Taufe wird das Kind gestohlen und wir warten nur darauf, dass jemand auf die Idee kommt, bei einem Begräbnis die Leiche mitgehen zu lassen. Zur Verteidigung dieses Brauchs muss gesagt werden: In der Regel wird immer alles zurückgegeben—aber natürlich nicht, ohne den Bestohlenen ein letztes Mal zu demütigen. Fiacht und Maibaum werden geschmückt und erst nach einer Prozession durchs Dorf, die selbst Caesar neidisch gemacht hätte, an den Ursprungsort zurückgebracht—wenn der Besitzer genug Schaps bezahlt hat. Und dasselbe gilt natürlich auch für Entführungen von Menschen.

THE PURGE AUF ÖSTERREICHISCH
Die ganze Derbheit unserer morbiden Seele kam früher nur an einem Tag im Jahr zu voller Blüte: dann, wenn die Grundfesten unserer Zivilisation aufbrachen wie die Mauern des alten Reichskrankenhauses in Lars von Triers Geister und sich die ganze Aggression der zugeschnürten Landgemeinde in einem einzigen Masken und-Ruten-Exzess namens „Perchtenlauf“ entlud. Dieser Umzug fand jedes Jahr am 5. Dezember statt und war wie die österreichische Dorf-Version von The Purge. An diesem Tag wurde der örtlichen Jugend die perfekte Ausrede geboten, sich einen Abend lang ungestraft und unter dem Deckmantel der Anonymität (der die Form eines bösartigen Furry-from-Hell-Kostüms hatte) in Schläger zu verwandeln und kleinen Kindern mit ihren Ruten Blutergüsse bis Weihnachten zu verpassen. Steffi, unsere Frau für Events und gleichzeitig auch diejenige mit der umfassendsten ruralen Vorbildung in unserem Umfeld, hat noch heute manchmal panische Angst am Land: „Wenn ich im Winter Kuhglocken höre, fange ich immer noch an zu laufen.“

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Und das nicht ohne guten Grund: „Der Bruder meiner Oma wurde einmal so zusammengeschlagen, dass er bewusstlos im Schnee liegen geblieben ist.“ Perchtenläufe gibt es zwar heute auch noch, aber inzwischen sind die Akteure längst nummeriert und in Vereinen organisiert. „Damals hatten die Perchten teilweise noch Reißnägel in den Ruten“, erzählt Steffi. „Manchmal kam es zu Messerstechereien—auch Genickbrüche durch das Herumreißen der Perchten an den Hörnern hat es gegeben.“ In Anlehnung an ein Sprichwort von Woody Allen stimmt wohl auch hier, dass man den Job eigentlich nur Leute machen lassen sollte, die ihn nicht wollen. In Leoben hat man sich genau das zu Herzen genommen und überlässt deshalb den Kindern den ganzen Dresch- und Verkleidungsspaß. Ein Leobener erinnert sich an einen seiner Perchtenumzüge so: „Als Kind musste ich mich mit meiner Tante als alte Frau verkleiden, eine Strumpfhose übers Gesicht ziehen und im Dorf spätabends von Haus zu Haus gehen, um bei fremden Leuten zu putzen und die Bewohner mit einer Rute zu schlagen. Man durfte dabei nicht reden, aber dafür bekam man Geld.“

BÄREN UND STROH SCHNEIDEN
Ein sehr weises Sprichwort, das seinen Ursprung in Oberösterreich haben könnte, lautet: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Im „Hoamatland“ von Franz Stelzhamer tritt man nämlich besonders gerne diejenigen, die schon am Boden liegen. Oder die als Letzte mit der Mahd (also: dem Mähen der Felder und Wiesen) fertig geworden sind—wie bei der Tradition mit dem wohlig klingenden Namen „Bären schneiden“, bei der die schnellsten Feldarbeiter ihren Arbeitseifer ausdrückten, indem sie die nackten Ärsche in Richtung der noch mähenden Kollegen streckten und auf Kommando losfurzten wie ein wilder Bär.

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Und mit nackten Ärschen meint Hertha, eine rüstige 70-Jährige aus dem Innviertel, die Sense und statt zu furzen hat man das Mähwerkzeug extra laut gewetzt, aber für den geschmähten Nachbarn war das vermutlich einerlei. Noch schlimmere Blüten trug die Schadenfreude eigentlich nur, wenn ein Mann den anderen in Liebesdingen ausstechen konnte. Derjenige, der am Ende durch die Finger schaute, sollte das nämlich nicht unbeobachtet tun und am Tag der Hochzeit seiner Angebeteten auch noch was davon haben weshalb es Tradition war, dass der Bräutigam eine Strohspur vom Haus der Braut zum Hof des leer ausgegangenen Liebeswerbers legte. So gemein das wahrscheinlich auch ist, hat selbst das Strohschneiden seine guten Seiten. Zum Beispiel sorgte es für Suspense und Spaß im ganzen Dorf und gab der alten Gretchenfrage „Warum liegt hier Stroh rum?“ eine ganz neue Bedeutung.

ZÜRCHER BONZEN LASSEN ES LÄUTEN
Das Sechseläuten ist die Zürcher Antithese zur Fasnacht. Lässt man die ganze Traditionssache einmal außen vor, handelt es sich bei beiden Brauchtümern grundsätzlich um etwa dasselbe: Ein kostümierter Mob schleift seinen kollektiv geschmückten Körper völlig versoffen und mit ganz viel Krach durch die Straßen seiner Altstadt. Damit bedankt man sich indirekt bei den 26 sogenannten Zünften, die in viel Kleinarbeit den vierstündigen Umzug des Frühlingsfests ausgerichtet (und den Vorwand für den Traditionssuff geliefert) haben. Männer stolzieren in höfischen Kostümen um das Limmatbecken, während ihre Frauen applaudierend am Rand stehen und darauf warten, den geliebten Gatten das wohlverdiente Blumensträußchen zu überreichen. Der Höhepunkt besteht anschließend darin, einen mit Sprengstoff gefüllten Kunststoff- Wintergeist, den Böögg, um Punkt 18:00 Uhr in Brand zu setzen und zu warten, bis der Kopf explodiert.

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Währenddessen jagen etliche Reitergarnisonen ihre Rösser um den lodernden, knallenden Strohhaufen. Eine todlangweilige Geschichte eigentlich, wenn es wirklich nur das wäre. Die Spannung aber entsteht durch ein ausdifferenziertes System an Trinkstufen, die das Event umhüllen wie ein Film aus ausgeschwitztem Alkohol. Bereits eine halbe Woche vor dem eigentlichen Fest sieht man die ersten mit Trachten ausstaffierten Witzfiguren johlend in die Büsche kotzen. Es gibt ein offizielles „Eintrinken“, ein „Voreintrinken“ und davor ein „Vor-Voreintrinken“. Eine Ballnacht und ein Kinderumzug sind die Wetterleuchten des Anlasses. Die Altstadt wird abgesperrt. Das Limmatbecken ist derweil belagert von Schaulustigen, Polizei und B-Promis, Raclette-Ständen, Achterbahnen und Zünftern, die mit rohen Fischen werfen. Noch nie waren sich altehrwürdige Erhabenheit und

Lächerlichkeit so nahe wie jedes Jahr beim Sechseläuten. Für das gemeine Fußvolk bleibt das mittelalterliche Spektakel ein vorbeiziehendes Ufo—ein wandelnder Anachronismus, der es liebt, dieses biedere Treiben zu betonen, und gleichzeitig so tut, als existiere es (oder das 1952 eingeführte Umzugsverbot für Frauen über sechzehn) schon seit Anbeginn des gut über 200 Jahre alten Brauchtums. Mitmachen ist nicht, außer man wird hineingeboren oder hat Beziehungen zum Zürcher Noblessenfilz. Die Schweizer „Bonzenfasnacht“ halt.

HAUSMITTEL ZUR ABHÄRTUNG
Für viele ist es heute eine akzeptierte Tatsache, dass Bauern vor 200 Jahren nicht sonderlich viel Ahnung von Medizin hatten und deshalb mehr oder weniger zufällig Haushaltszutaten zu Tinkturen zusammenmischten, um zumindest mehr als gar nichts zur Genesung beizutragen. Für alle anderen gibt es auch heute noch Homöopathie und Granderwasser. Aber selbst unter den aufgeklärten Familien hält sich so manches Heilmittel mehr aus Tradition denn aus Glaube an die Wirkung—so wie bei manchen Familien seit Generationen der Mythos umgeht, Cola und Soletti würden gegen Krankheit und Durchfall helfen. Die gute Nachricht daran ist, dass Cola und Soletti zumindest gut schmecken, was man zum Beispiel von Schweinebraatz nicht behaupten kann.

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Dafür wurden Zwiebeln in Schweinefett ausgekocht und die daraus resultierende Masse wie Wick VapoRub auf die Brust aufgetragen. Das Ganze sollte gegen Husten helfen und, so eine Schweinebraatz-Geschädigte, „hat wie Sau gestunken“. Auf der anderen Seite sorgte die widerliche Fettsauce auch für den einen oder anderen aufmunternden Lacher: „Mein Bruder hat öfter einen Husten vorgetäuscht, nur damit er Schweinebraatz aufgelegt bekam—weil ich es so grausig fand.“ Vom Spaßfaktor her also doch wieder wie Cola und Soletti. Gegen Fieber wickelte man übrigens gern gekochte und zerdrückte Kartoffeln in ein Tuch und legte es den Erkrankten um den Hals. Danach musste der Abfall vorm Haus vergraben werden. Immerhin steckte da ja die Krankheit drin.

GEISSLECHLEPFER
Heidnische Kulturgüter sind im Traditionsfundus der Alpen eher selten. Abgesehen vom schon erwähnten Unkentanz in Salzburg, gibt es hier auch noch ganze acht Verse vorchristlicher Literatur: die Merseburger Zaubersprüche. Der eine Spruch dient dazu, einem Pferd das Bein zu heilen, der andere soll von Gegnern befreien. Ein bisschen wie Dungeons & Dragons in echt. Da bekommt man als Region schon mal Minderwertigkeitskomplexe, wenn man im Vergleich dazu die Odyssee oder die altnordische Edda liest. Umso bewahrenswerter ist hier jeder vorchristliche Brauch, der sich in die christliche Tradition herübergerettet hat.

Einer davon ist das „Geisslechlöpfe“, bei dem in der Vorweihnachtszeit durch das Knallen von peitschenartigen Seilen Wintergeister und böse Dämonen vertrieben werden sollten. Mit der Wintersonnenwende soll sich dann das Totenreich geöffnet haben und der Krach der Geisseln sollte dafür sorgen, dass jeder, der bereits im Totenreich war, brav auch dort blieb. Inzwischen ist der Brauch längst in unsere Adventszeit eingebettet worden. Ein bis zu fünf Meter langer Hanfstrick an einem Stiel ist das Rüstzeug für diese Form von Gewohnheitsrechtslärm.

Der Strick wird eingefettet, am Stiel befestigt und am Ende um den Zwick, den eigentlichen Knallkörper, ergänzt. Die Geisseln erreichen eine Lautstärke von 100 Dezibel und können von unerfahrenen Hörern ziemlich leicht mit einem Schuss verwechselt werden. Obwohl der Vorgang einfach aussieht, ist das „Geisslechlöpfe“ eine Kunst. Der Knall wird nicht etwa durch den Aufschlag am Boden erzeugt, sondern durch einen abrupten Richtungswechsel, der zu einer Luftdruckveränderung führt (mind. 340 Meter/Sekunde). „Geisslechlöpfer“ schaffen also aus dem Stand Überschallknall um Überschallknall.

Ob sie jetzt „chlepfe“ oder „chlöpfe“, in jeder Region gibt es Leute, die ihre Geisseln vor allem des sportlichen Wettkampfs oder des alkoholisierten Balztanzes wegen schwingen. Natürlich wird das „Geisslechlöpfe“ heute kontrolliert und kaputt reguliert: Die Gemeinde Kriens etwa kennt seit 1979 ein „Reglement über das St. Niklausklöpfen“, in dem Ruhezeiten und Strafbestimmungen bei Zuwiderhandlung festgelegt sind. Alle paar Jahre machen sie die Mittagsruhe noch eine Stunde länger.

AUF UND AB DIE ALM
Für Städter mag es überraschend klingen, aber auch wenn alle Bilder, die ihr jemals von einer Alm gesehen habt, Kühe drauf haben, sind Kühe trotzdem nicht das ganze Jahr über hier anzutreffen. Sie grasen dort nur, während bestes Fotowetter herrscht, und müssen für die langen, dunklen Wintermonate dann in einem besser geschützten Stall verstaut werden. Weil das Auf- und Abtreiben der Kühe aber eine ziemlich mühsame, monotone Arbeit ist und trotzdem jedes Jahr wiederholt werden muss, haben sich die findigen Bauern einen Brauch drumherum gebastelt, der—wie so oft—mit bunten Verkleidungen und viel Alkohol zu tun hat.

Und weil in der gebirgigen Alpenwelt alles seinen Platz hat, ist jedes der beiden Events mit einem eigenen Gimmick belegt, wobei der Auftrieb für die Saufgelage und der Abtrieb für die Verkleidung (nämlich die der Kühe) zuständig ist. „Getrunken wird prinzipiell bei den Pausenstationen und am Ende auf der Alm“, erzählte uns eine Freundin, die jedes Jahr beim elterlichen Kuhtreiben auf der Koralm (Steiermark) mithilft. „Es gibt aber immer ein paar Party-Auftreiber, die schon in der Früh trinken. Auch Abstürze gehören dazu.“ Auf der Koralm ist der Brauch aber inzwischen „säkularisiert“ und die Kuhtreiber (so paradox das klingt) im 21. Jahrhundert angekommen, weshalb hier mehr getrunken als geschmückt wird. Richtig kitschige Kuh-Kostüme—samt wuchtigem, aztekisch anmutendem Kopfschmuck—gibt es aber nach wie vor in der Obersteiermark und in Salzburg. Beef Bling!