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Es braucht keine Bilder der Opfer, um die Katastrophe von Paris zu verstehen

Ja, es ist furchtbar zu sehen, wer in Paris starb. Aber der Nachrichtenwert von Opfer-Fotos ist und bleibt überschaubar.

Schaut euch das Foto oben an. Der Mann, den ihr links auf dem Foto seht, lebt seit Freitag nicht mehr. Sein Leben, das wie jedes menschliche Leben geprägt war durch Freude, Schmerz und Hoffnung, wurde im Kugelhagel des Bataclan plötzlich ausgelöscht. Die Vorstellung ist traurig, fast ekelerregend. Und jetzt stellt euch bitte kurz die Frage: Würde sie trauriger werden, wenn wir dieses Bild nicht verpixelt hätten?

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Angesichts der etwas mehr als 130 Toten wirkt es fast ein bisschen banal. Aber die Terroranschläge von Paris schoben auch eine der ältesten und kompliziertesten Diskussionen in der Medienethik wieder auf die Tagesordnung: Darf ich die Opfer von Verbrechen oder Katastrophen abbilden? Ist das ein No-Go, oder muss ich es vielleicht manchmal sogar?

Der Umgang mit Bildern und persönlichen Informationen von Opfern ist schwierig. Es können sich immer alle Medien sehr schnell darauf einigen, dass man ihnen „ihre Würde" lassen sollte. Aber was heißt das konkret? Es gibt da auch gar nicht so viele Regeln, an denen man sich entlang hangeln kann. Der Ehrenkodex des österreichischen Presserats nennt auch nur die Wahrung der Würde als Ziel. Der deutsche Pressekodex wird ein bisschen expliziter: „Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- beziehungsweise Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich."

Das ist natürlich richtig. Und doch rücken Medien immer wieder Opfer von Verbrechen oder Katastrophen ins Rampenlicht. Das Argument „Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf" ist relativ böswillig—das hat sie nämlich fast nie. Aber nicht alle Motive sind so einfach von der Hand zu weisen. Oft ist das Argument, man wolle einer ansonsten anonymen Grausamkeit ein Gesicht geben. Oder eben den Opfern gerade durch die Sichtbarmachung Würde verleihen. Oder den Fokus auf die Opfer statt auf die Täter legen.

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Können Fotos anonymen Katastrophen ein Gesicht geben?

Das Problem ist hier, wie so oft: Es gibt keine endgültige Antwort auf die Frage. Als die BILD-Zeitung nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich Opferfotos aus dem Internet zusammensuchte, berief sie sich auch auf dieses Argument: Eine Katastrophe sei nur durch die Personalisierung zu verstehen. Der deutsche Presserat sah das vollständig anders und verurteilte das Vergehen entschieden.

Unklarer war der Fall, als Anfang September ein syrischer Junge vor der türkischen Küste ertrank. Das Bild des Opfers, das mit dem Gesicht nach unten im Sand lag, ging nicht nur durch die sozialen Medien, sondern fand sich auch auf vielen Titelseiten wieder. Selbst zahlreiche Befürworter eines strengen Opferschutzes waren sich in der Diskussion plötzlich nicht mehr sicher: Seit Monaten ertrinken hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer, ohne das die europäische Öffentlichkeit wirklich Anstoß daran nimmt. Könnte ein Foto eines toten Jungen und seine ganz konkrete Geschichte vielleicht helfen, die humanitäre Katastrophe aus der Anonymität herauszuholen?

Man kann davon ausgehen, dass Mashable eher Gutes will. Und das Projekt ist sehr gut gemacht, keine Frage. Aber es ist nicht unproblematisch. Wie aus dem Ausgangsartikel klar wird, sucht sich Mashable die Informationen aus anderen Artikeln und den sozialen Medien zusammen. Damit machen sie im Grunde nichts anderes als das, was Bildblog, Kobuk und andere immer an den Boulevardmedien kritisieren: Opferfotos aus dem Netz veröffentlichen.

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Ja, natürlich habe ich bei Mashable auch irgendwie ein besseres Gefühl als bei BILD, Krone oder Österreich. Aber die Tatsache, dass ich den Unterschied nicht konkret benennen kann, deutet darauf hin, dass es vor allem ein gefühlter ist. Die an für sich großartige Internetseite Mashable hat jetzt einen Twitter-Account namens Paris Victims eingerichtet, der nacheinander Fotos der Getöteten mit positiven Zitaten über sie tweetet.

Es hilft nichts: Der Nachrichtenwert von Opfer-Fotos ist und bleibt überschaubar.

In Zeiten von Social Media wird das alles noch viel komplizierter. Jahrzehntelang galt die Regel: Wenn Hinterbliebene zustimmen, dürfen Medien Bilder von Opfern problemlos darstellen. Nach den Anschlägen von Paris stellten zahlreiche panische Menschen Fotos von Bekannten auf Twitter, weil sie nicht wussten, ob sie noch leben. Manche taten das auch im Nachhinein, als Statement. Ja, diese Fotos wurden mit der Öffentlichkeit geteilt. Aber ist es deshalb OK, wenn Medien das kapitalisieren? Der Nachrichtenwert von Opfer-Fotos ist und bleibt überschaubar.

Letztlich ist das Ganze natürlich eine Frage des Framings—sowohl in der Darstellung durch das Medium als auch in der Rezeption durch den Leser. Wenn Medien das Bild vermitteln, die Opfer nicht abzubilden, um das Leid zu kommerzialisieren, ist schon viel geholfen.

Ein eigener Twitter-Account wie im Fall der Paris Victims wäre dafür eigentlich gut geeignet. Leider macht es sich Mashable mit dem eigenen Artikel, in dem die Opfer-Bilder eben neben Werbung stehen, ein bisschen kaputt. Die Kritik anhand der Konfliktlinien Boulevard- vs. Qualitätsmedien zu bestimmen, führt allerdings—wie so oft—nicht weiter. BILD ist nicht grundsätzlich böser als andere Medien, nur weil die Überschriften größer sind.

Im ganz konkreten Fall sehe ich keine Notwenigkeit, diesen Twitter-Account so toll zu finden. Ja, manchmal ist es notwenig, einer anonymen Masse an Opfern ein Gesicht zu geben, um eine Katastrophe erfahrbar zu machen. Aber in Paris sind allein im Bataclan knapp 90 Menschen kaltblütig erschossen worden, als sie auf einem Konzert waren. Wehrlos. Jeder kann sich vorstellen, was für grauenhafte Szenen sich dort abgespielt haben müssen. Wer Opfer-Bilder braucht, um das furchtbar zu finden, dessen Probleme fangen ganz woanders an.

UPDATE: AFP hat eine kleine Datenbank ohne Fotos über die Opfer zusammengestellt. Das ist sicher ein positives Beispiel.

Dem Autor auf Twitter folgen: @L4ndvogt