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​„Die Flüchtlinge“ gibt es genauso wenig wie „unsere Werte“

Tatsächlich aber haben viele von uns mit vielen Flüchtlingen weit mehr gemeinsam als mit vielen Menschen, die auf ihrer Geburtsurkunde zufällig ebenfalls einen rot-weiß-roten Vogel haben.

Ankommende Flüchtlinge am Westbahnhof. Foto von Christopher Glanzl.

Nach der ersten Welle der spontanen Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge beginnt nun wieder der rassistische Normalzustand. Gut festmachen lässt sich das an der Debatte um „unsere Werte", die „die Flüchtlinge" nun gefälligst einzuhalten hätten. Abgesehen davon, dass es ziemlich dumm ist, einfach mal alle Flüchtlinge in einen Topf zu werfen, wäre es auch interessant, was denn eigentlich „unsere Werte" sind.

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Beginnen wir bei „den Flüchtlingen". Wir sprechen hier von Menschen, die aus verschiedenen Ländern und aus unterschiedlichen Gründen nach Europa flüchten. Viele dieser Menschen sind Kriegsflüchtlinge, etwa aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Andere flüchten vor Verfolgung—etwa aus politischen und/oder religiösen Gründen, weil sie Minderheiten angehören, aufgrund ihres Geschlechts oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Wieder andere verlassen ihr Herkunftsland, weil ihr Leben dort schlicht scheiße ist und keinerlei Perspektive bietet. Alle diese Gründe sind völlig OK. Doch alle diese Menschen mit ihrer komplett unterschiedlichen persönlichen Geschichte über einen Kamm zu scheren, ist offensichtlich ziemlich unsinnig.

Sicher, es lassen sich ein paar Gemeinsamkeiten festmachen. Ein relevanter Teil der Menschen, die aktuell nach Österreich und Deutschland kommen, stammt aus Ländern mit muslimischer Tradition, konkret vor allem aus Syrien (wobei es in Syrien auch große religiöse Minderheiten gibt). Auf den muslimischen Hintergrund vieler Flüchtlinge wird ja auch oft fast schon penetrant hingewiesen. Das geht bis zur Vermutung, dass sich „Dschihadisten" unter die Flüchtlinge mischen würden.

Warum aber eine finanziell und logistisch gut ausgestattete Terror-Organisation ihre KämpferInnen zu Fuß losschicken sollte, in der Gefahr, auf dieser Reise ums Leben zu kommen, anstatt einfach ein paar falsche Pässe und Flugtickets zu besorgen, erschließt sich bei näherem Hinsehen nicht ganz. Natürlich, es mag einzelne solche Fälle geben, doch sogar der österreichische Geheimdienst sagt, es sei insgesamt „wenig wahrscheinlich", dass Terror-Gruppen Flüchtlingsrouten nützen würden.

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Vieles dreht sich in der aktuellen Debatte um „den Islam" und dessen angebliche Werte. Doch der Islam ist wie die meisten großen Religion sehr vielfältig, genau diese relative Beliebigkeit ist der Kern des Erfolgs. Natürlich, es gibt ein Glaubenshandbuch, den Koran, und einige gemeinsame Glaubenssätze. Kaum überraschend: diese sind im Kern genauso reaktionär wie bei anderen Weltreligionen. Im Christentum etwa finden wir alles von Terrororganisationen über enorm einflussreiche, extrem rechte Kräfte, bis zu einem Mann an der Spitze der katholischen Variante, dessen Verhältnis zu Militärdiktaturen, gelinde gesagt, Fragen aufwirft.

Wie in jeder Religion gibt es auch im Islam verschiedene Schulen und verschiedene Auslegungen. Der aufgeklärte Islam in Bosnien etwa hat eine komplett andere Geschichte, Ausrichtung und ideologische Grundlage als die vollkommen reaktionären Wahhabiten in Saudi-Arabien. Türkisch/kurdische (zumeist linke) AlevitInnen und der IS sind sogar buchstäblich Todfeinde. Das alles ist natürlich kein Zufall, Religionen sind eben ein Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Es haben ja auch nicht alle Menschen im christlich geprägten Teil der Welt gemeinsame Überzeugungen, nur weil sie als Baby mit Wasser übergossen wurden.

Der Islam ist die dominante Religion in einem Gebiet, das von Bosnien bis in den Sudan, von Marokko bis Indonesien reicht. In diesem riesigen Teil der Welt leben Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebensbedingungen und gesellschaftspolitischen Überzeugungen, es gibt Unterschiede zwischen Regionen, zwischen gesellschaftlichen Schichten, zwischen Stadt und Land und vieles mehr. Viele Menschen in dieser Weltregion gehören auch anderen Religionen an oder sind schlicht atheistisch.

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Die pure Logik sagt, dass es nicht funktionieren kann, für alle diese Menschen einfach mal kurz gemeinsame Werthaltungen anzunehmen. Es haben ja auch nicht alle Menschen im christlich geprägten Teil der Welt gemeinsame Überzeugungen, nur weil sie als Baby mit Wasser übergossen wurden.

Was ebenfalls zumeist „vergessen" wird: Ein Großteil der Menschen, die jetzt nach Europa flüchten, ist genau vor diesen FundamentalistInnen geflüchtet. In Syrien und dem Irak flüchten die Menschen vor allem vor dem IS (wobei viele aus Syrien auch dem ebenfalls mörderischen Assad-Regime entkommen wollen). In Afghanistan ist es oft eine Flucht vor den Taliban—oder vor dem NATO-gestützten Regime, das allerdings kaum weniger fundamentalistisch ist.

Die meisten Menschen, die nach Europa kommen, haben also verständlicherweise mit Fundamentalismus genau nichts am Hut. So berichtet etwa der Kurier in der Printausgabe vom 29. September 2015 davon, dass einige Salafisten versucht hätten, in der Flüchtlingsunterkunft am Wiener Westbahnhof unter den syrischen Flüchtlingen zu agitieren. Die Reaktion laut Kurier-Bericht: Sie flogen hochkant hinaus. Generell stellen sich Berichte, die einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Fundamentalismus suggerieren, oft als Fälschung heraus.

OK, es gibt also „die Flüchtlinge" als eine Art mysteriösen Geheimbund vielleicht doch nicht. Doch wie sieht es dann mit „unseren Werten" aus?

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Demonstrationsteilnehmerin in Graz. Foto von Alexander Danner.

Die Forderung, dass Flüchtlinge „österreichische Werte" übernehmen sollten, wird in diesen Tagen medial und politisch stark getrommelt. Im August wurde dazu sogar ein Maßnahmenpaket der Bundesregierung verabschiedet. Auch viele Medien steigen auf diesen Zug auf.

Der Bezug auf ein gemeinsames Wertegebäude erfolgt oft mit dem Hinweis auf eine „christlich-abendländische" Kultur. Wer wissen will, was Christentum an der Macht bedeutet, sollte mal die Begriffe „Hexenverbrennung", „Inquisition" oder „Kreuzzüge" nachschlagen. Und wer dabei nicht so weit in die Vergangenheit blicken will: auch die katholisch geprägten faschistischen Diktaturen in Österreich (1934-1938) oder Spanien (1939-1975) vermitteln ganz gute Eindrücke. Jenseits des Katholizismus war Europa in den letzten hundert Jahren mit zwei Weltkriegen, dem Holocaust und dem Kolonialismus ebenfalls nicht unbedingt ein Vorbild für weltweite Werte-Nachahmung. Und auch heute führen EU-Staaten weltweit Krieg, in den letzten Jahren etwa im Irak, in Afghanistan, in Mali oder am Horn von Afrika.

Klingt nicht sehr fein, ist es auch nicht. Nun wissen wir aber immer noch nicht, was „unsere Werte" sind. Bei genauerem Hinsehen werden zumeist Frauenrechte und etwa seltener die Rechte sexueller Minderheiten als zentrale Bestandteile genannt. Die Rechte von MigrantInnen sind übrigens interessanterweise als „Wert" nie ein Thema.

Ein gutes Beispiel für die aktuelle Diskussion liefert Hans Rauscher vom Standard, der die Werte-Debatte immer wieder aufgreift. In einem seiner „Einserkastln" schreibt er: „Wenn tausende Syrer oder Iraker neu hinzukommen, wird man diesmal von Anfang an klar sagen müssen: Hier ist es anders, hier gelten die Werte der Aufklärung und der Moderne. Hier geben einander Frauen und Männer die Hand, hier sind arrangierte Ehen (obwohl es sie gibt) nicht in Ordnung. Hier steht der Clan nicht über dem Recht. Hier ist der Westen."

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Rauscher hätte natürlich auch schreiben können: „Wenn tausende Syrer oder Iraker neu hinzukommen, wird man diesmal von Anfang an klar sagen müssen: Hier ist es anders, hier gelten die Werte der Aufklärung und der Moderne—vor allem österreichische Waffen- und Aufklärungssysteme sind echt modern. Mit denen wird in ihrer alten Heimat übrigens gerade der Krieg geführt, vor dem sie flüchten. Hier geben einander Frauen und Männer die Hand, hier sind arrangierte Ehen (obwohl es sie gibt) nicht in Ordnung. Passen Sie aber bitte auf, dass Ihr Partner Sie mit der Hand, die er ihnen gibt, nicht schlägt und bedenken Sie, dass Gewalt gegen Frauen in diesem Land alltäglich ist. Hier steht die Bank über dem Recht. Hier ist der Westen."

Das zeichnet zugegeben ein wenig tolles Bild „des Westens". Die Behauptung, dass „hier" (offenbar im Gegensatz zu „dort") die Werte der Aufklärung regieren würden, ist aber auch an sich ziemlich dreist, wenn wir etwa an Anschläge auf Flüchtlingsheime, die Morde an den Grenzen der Festung Europa oder die alltägliche Gewalt gegen Frauen oder Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung denken.

Selbstverständlich, nur weil jemand aus einem Krieg geflohen ist, ist die Person nicht automatisch nett, fortschrittlich und menschenfreundlich. Es werden auch Menschen kommen, die nicht wahnsinnig sympathisch sind. Warum sollte es auch anders sein? Wenn in Österreich ein Krieg ausbrechen sollte und einige hunderttausend Menschen flüchten, wären unter den Flüchtenden zweifellos auch mehr als genug Irre mit Werthaltungen, die völlig indiskutabel sind.

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Doch wenn wir künftig das Recht auf ein Leben in Sicherheit von einem Gesinnungs-Test in Sachen Sexismus und Homophobie abhängig machen, sollten sehr viele gebürtige ÖsterreicherInnen wohl besser schon mal anfangen, die Koffer zu packen—vom Stammtisch bis zur Millionärsvilla. Über die Frage von Toleranz und Rassismus reden wir da noch gar nicht. Gleichzeitig gibt es aber extrem viele Menschen in diesem Land, die sich auf vielfältige Weise und sehr positiv engagieren.

Eine 17-jährige, links denkende Schülerin aus Graz wird wahrscheinlich anders über Homosexualität denken als ein 67-jähiger, ÖVP-wählender Pensionist aus Vorarlberg. Ein Arbeiter aus dem niederösterreichischen Industriegebiet wird vermutlich einen anderen Zugang zum Thema Solidarität im Betrieb haben als sein Chef im Wiener Büro. Jene, die heute Flüchtlingen helfen, denken anders als jene, die am liebsten den rechten Bürgerkrieg beginnen wollen. Die Schlussfolgerung: so etwas wie gemeinsame „österreichische Werte" gibt es einfach nicht.

Mehr Aufklärung über Menschenrechte also? Mehr Aufklärung zu Themen wie Rassismus, Sexismus und Homophobie? Selbstverständlich, das ist bitter notwendig. Aber dann bitte für alle in diesem Land. In der aktuellen Debatte geht es aber real um etwas ganz anderes: „Die" sollen sich „uns" anpassen, denn „die" sind angeblich anders als „wir". Damit wird ein bewusster Gegensatz aufgemacht.

Doch es gibt weder ein „die" noch ein „wir". Auf dem Rücken von Flüchtlingen wird hier so etwas wie eine nationale Einheit zelebriert und behauptet. Tatsächlich aber haben viele von uns mit vielen Flüchtlingen weit mehr gemeinsam als mit vielen Menschen, die auf ihrer Geburtsurkunde zufällig ebenfalls einen rot-weiß-roten Vogel haben. Alle Flüchtlinge hingegen in einen Topf zu werfen, ist eine völlig unzulässige Verallgemeinerung—und damit nichts anderes als Rassismus.

Folgt Michael auf Facebook und Twitter: @michaelbonvalot.