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Occupy Turkey

Die wahrscheinlich härteste Kämpferin Istanbuls ist eine alte Frau

Das Titelbild der größten türkischen Zeitung zeigte eine alte Frau, die bei den Aufständen in Istanbul mit einer Steinschleuder schoss. Dieses Bild ging viral, machte die radikale Omi berühmt, aber brachte sie auch in den Knast. Jetzt ist sie wieder...

'Sapanlı teyze' bakın kim çıktı? http://t.co/hup0yfUjJx pic.twitter.com/8fW5jV3ckL

— TRT HABER (@trthaber) 14. Juni 2013

Meine Sicht auf die Gezi-Aufstände letzten Sommer wurde von einem Foto verändert. Weil man auf allen Bildern, die bis dahin in den Medien erschienen waren, Mädchen und Jungen sah, hatte ich den Widerstand vor allem für eine Rebellion der Jugend gehalten. Aber er gehörte nicht nur den Jugendlichen.

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Gegen Ende der Kämpfe zierte das Titelbild der größten Zeitung im Land das Foto einer älteren Frau, die mit einer Steinschleuder schoss. Dieses Bild ging plötzlich viral und wurde zum Profilbild vieler Facebook-Nutzer—meins inbegriffen. Die Türkei lernte durch dieses Foto Emine Cansever kennen. Und ich verstand, dass die Rolle der Alten sich bei den Aufständen nicht darauf beschränken musste, zu Hause zu sitzen und auf Töpfe und Pfannen zu schlagen.

Am selben Tag, an dem das Foto entstanden ist, wurde Cansever verletzt und nach ein paar Monaten festgenommen. Eigentlich bewundere ich sehr wenige Menschen. Ich kann aber guten Gewissens sagen, dass ich ein großer Fan von Cansever bin. Als ich erfuhr, dass sie am letzten Tag des Jahres 2013 überraschend wieder freigelassen wurde, machte ich mich auf den Weg, um sie zu treffen.

Wir warteten auf sie in der Nähe eines Friedhofes in ihrem Viertel, Gülsuyu, einem mehrheitlich von Aleviten bewohnten Istanbuler Ghetto (Emine gehört auch zur Minderheit der Aleviten, die lose dem Schiismus zuzuordnen sind und von der Regierung immer noch nicht offiziell anerkannt werden). In der Ferne, zwischen einer fünfköpfigen Männergruppe, nähert sich uns winkend eine sehr kleine Cansever. Obwohl sie so klein ist, strahlen ihre braun-grünen Augen eine enorme Energie aus. Sie begrüßt uns und nimmt uns mit an den Ort, wo sie mit ihren Geschwistern aufgewachsen ist: ein bescheidenes Haus, von dem der Blick über die Dächer des Elendsviertel bis zu den Prinzeninseln geht.

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Emine hat sehr viel zu erzählen. Jetzt, da ich sie getroffen habe, beeindruckt sie mich noch viel mehr. Das Leben war für sie schon immer ein Kampf. Sie hat nie geheiratet und nie Kinder gehabt, stattdessen kümmerte sie sich zu Hause um ihren schizophrenen Bruder—ich konnte Cansever nur bewundern.

Gleich zu Anfang erklärt die 53-Jährige, dass wir jetzt noch mehr Angst vor ihr haben müssen: „Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, war ich noch wütender als zuvor. Ich habe nicht die geringste Angst.“ Ihre Augen funkeln, während sie redet.

VICE: Wie hat sich bei Ihnen ein politisches Interesse entwickelt?
Emine Cansever: Mein Vater war Bürgermeister in unserem Dorf. Ungerechtigkeit akzeptierte er nicht. Ich wuchs in Armut auf, wir hatten kein leichtes Leben. Der Glaube der Aleviten erlaubt keine Individualität, wie leben in der Gemeinschaft. Wenn auf dem Feld Arbeit ansteht, machen wir das gemeinsam, wenn eine Hochzeit stattfindet, macht jeder von uns was zu essen—wir leben in einer Kommune. Auch in dieser Nachbarschaft helfen sich die Menschen gegenseitig. Wenn der Sohn meiner Nachbarin alleine zu Hause ist, kommt er zu mir, und ich sorge dafür, dass er satt wird. Wir haben unseren Strom selbst organisiert und uns um die Wasserversorgung gekümmert.

Der Gülsuyu-Bezirk gehört zu den kritischen Gegenden von Istanbul. Kommt es hier oft zu staatlicher Repression?
Ja. Der Staat versucht, uns von hier zu vertreiben, deswegen hat man die Drogenhändler hierher gebracht. Wir hatten früher schon ein paar Drogendealer in der Gegend, aber die wurden hier ihr Zeug nicht los, also zogen sie weiter nach Suadiye, um Geschäfte zu machen. Jetzt gibt es allein in meiner Straße sechs bekannte Dealer. Zum Verständnis: Gülsuyu entstand, als vor allem Aleviten sich in den späten 90ern hier ansiedelten und illegal Häuser errichteten. Der enorme Wachstum von Istanbul hat dazu geführt, dass Gülsuyu für Immobilienentwickler zunehmend interessant wurde. Ende September 2013 kam es in dem Viertel zu Zusammenstößen zwischen Drogendealern und Anhängern der „Revolutionären Volksbefreiungsfront“ DHKP/C, einer linksradikalen Aleviten-Partei, die sich in dem Viertel als die Bürgerwehr betätigt. Wir sind gegen die urbane Entwicklung an diesem Ort und wehren uns. Deswegen geben sie den Dealern Waffen in die Hand, die hier das Viertel durchkämmen. Wir machen weiter und lieben unsere Nachbarn. Ich habe noch nie gesehen, dass die Revolutionären Waffen auf die Bevölkerung gerichtet haben. Das sind die Kinder unseres Bezirks, sie sind auf unserer Seite und gegen die Gentrifizierung. Was haben Sie gemacht, als die Proteste im Gezi-Park anfingen?
Wir haben die Geschehnisse im Fernsehen verfolgt. Am Anfang haben wir auch nicht verstanden, wie das alles angefangen hat. Meine Freunde meinten: „Lass uns gehen, die Bäume werden gefällt.“ Als dann die Angriffe der Polizei losgingen, machten wir uns auf den Weg—eine Gruppe von Rentnern.

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Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie mit der Steinschleuder Steine warfen?
Ich schleuderte den Stein, aber wenn ich in dem Augenblick etwas anderes in der Hand gehabt hätte, dann hätte ich auch das geschmissen. Sie schossen auf uns und trampelten auf unserer Menschenwürde herum. Das Zeug, was die Polizisten auf uns spritzten, brannte überall auf unserer Haut.

Ein Junge fiel genau vor meine Füße. Ich reinigte das Gesicht des Jungen. Er konnte nur seinen Namen sagen. Ich war außer mir. Was denken die, wer sie sind, dass sie auf dieses Volk mit chemischen Waffen schießen?
Ich musste dann die Maske vom Gesicht nehmen. Ich leide unter Asthma, bekam einen Anfall und bin unter der Atatürk-Statue zusammengebrochen—meine Freunde von den Çarşı brachten mich ins Krankenhaus.

War das Ihre Steinschleuder?
Nein. Irgendeiner der Jungen hatte sie in einem Park gefunden. Er wollte sie gerade wegwerfen, da sagte ich: „Gib mal her, ich will auch mal!“ Haben Sie früher schon einmal bei solchen Protesten mitgemacht?
Bei vielen Gemeindestreiks, wo sie immer geschossen haben. Aber weil ich so klein bin, wurde ich nie getroffen. Aber ein Freund von mir z.B. schon.

In diesem Land wurden viele Revolutionäre umgebracht, und als wir auf die Beerdigungen gingen, schossen sie wieder auf uns. Wir sind an so etwas gewöhnt, aber Pfefferspray ist nicht aufzuhalten. Eine Kugel abzubekommen, ist besser, finde ich. Bei Pfefferspray siehst du nichts mehr. Schau dir meine Kopfhaut an—immer noch wund.

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Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie Ihr Bild im Internet gesehen haben?
Ich weiß gar nicht, wie man das Internet bedient. Der Sohn eines Freundes hatte mir das Bild geschickt. Ich hab das gesehen und dachte mir: Oooh. Meine Nichte rief mich an und sagte mir, dass mich so und so viele Menschen „anstupsen“. Ich verstand nicht und sagte: „Es gibt hier neben mir niemanden, der mich anstupst!“ Dann bekam ich Anrufe von überall aus dem Land. Professoren von Universitäten hätten mein Foto als Facebook-Profilbild genommen und angefangen, mein Foto an die Wand zu hängen. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Ich schäme mich. Glauben Sie, dass Ihre späte Festnahme einen Zusammenhang mit dem Bild stand?
Natürlich. Sie konnten mich erst nicht festnehmen, weil die Öffentlichkeit auf mich blickte.

Wie wurden sie festgenommen?
Ich war bei einem der Proteste im Viertel und als ich abends wieder nach Hause ging, wurde mir gesagt, dass ein Dealer jemanden aus unserem Viertel erschossen hatte.

Am 30. September wurde bei einer Demonstration gegen die Drogendealer der 21-Jährige DHKP/C-Aktivist Hasan Ferit Gedik erschossen.

Am nächsten Tag gab es einen Protestmarsch. Wir waren eine große Gruppe und gingen los. Plötzlich wurde geschossen. Jemand half mir, mich in einem Supermarkt zwischen den Kassen zu verstecken. Fünf Minuten später erschossen sie einen weiteren Jungen, den ich kannte.

Wir waren schon wieder auf dem Weg nach Hause, als ein weißes Auto anhielt und auf uns geschossen wurde. Neben mir wurde einer am Bauch getroffen, seine Mutter fiel in Ohnmacht. Der Bäcker zog mich rechtzeitig in ein Haus und half mir. In diesem Moment brach die Hölle los. Die Jungs erwiderten das Feuer mit Feuerwerken. Gemeinsam trugen wir die Leiche fort. Als die Kämpfe am nächsten Tag anhielten, wusste ich schon, was passieren würde. Am nächsten Morgen um vier klingelte es an meiner Tür.

Waren es viele?
Sehr viele. Hubschrauber schwebten überall. Sie waren auch an den anderen Häusern. Sie nahmen den Enkel meiner Nachbarin mit. Sie brachten uns aufs Polizeirevier. Die Nachbarschaft begann mit einem Hungerstreik, aber da ich unter Diabetes leide, konnte ich nicht mitmachen. Mit 40 Grad Fieber und Entzündungen in den Augen ging ich mit auf die Wache. Ich musste aussagen—der Staatsanwalt zeigte mir Fotos, auf denen ich abgebildet war.

Waren die Fotos vom Gezi-Park auch dabei?
Ja. „Das ist meins“, sagte ich. „Hat der Stein das Ziel erreicht?“, fragte er. „Nein, er hat das Ziel leider nicht getroffen“, sagte ich. „Aber nehmen sie es ihm nicht übel.“ Dann wurde ich festgenommen. Wurden Sie da zum ersten Mal verhaftet?
Ja.

Was haben Sie im Gefängnis gemacht?
Im Gefängnis gibt es sehr viel zu tun, da reicht die Zeit nicht aus. Ich habe sehr viele Bücher gelesen. Ich habe angefangen, Gedichte zu schreiben. Aus dem Ausland bekam ich Briefe von anderen Gefangen, denen habe ich zurückgeschrieben. Ich habe vorher ungern Briefe geschrieben, das habe ich mir jetzt abgewöhnt. Was denken Sie nach all dem über die Jugend? Sind Sie traurig, weil Sie nicht mehr jung sind?
Sicher. Ich kann jetzt nicht mehr wegrennen. Manchmal habe ich gesundheitliche Probleme. Dennoch versuche ich, so viel zu tun, wie nur geht. Was haben Sie jetzt vor?
In meiner Nachbarschaft gibt es Menschen, die noch nie Huhn oder Käse gegessen haben. Solange in diesem Land Armut und Hunger herrschen, werde ich weiterkämpfen. Die anderen wollen mich zur Gemeindevorsitzenden machen, aber ich denke, das will ich nicht. Ich bin kein Mensch, der sich an einen Ort festlegt. Ich kann nicht im Büro sitzen.