Wir haben Türken in Zürich gefragt, wie sie zu Erdoğans Referendum stehen

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Wir haben Türken in Zürich gefragt, wie sie zu Erdoğans Referendum stehen

Am 16. April entscheidet sich, ob Erdoğan seine Macht in der Türkei weiter ausbauen kann.

Vor dem türkischen Generalkonsulat an der Zürcher Weinbergstrasse herrscht derzeit emsiger Betrieb: Viele der in der Schweiz wohnhaften über 95.000 stimmberechtigten Türken wollen bis am 16. April noch ihre Stimme zu Erdoğans umstrittener Verfassungsreform abgeben. Mit der Reform möchte der türkische Präsident seine Macht weiter ausbauen und gleichzeitig den Einfluss des Parlaments einschränken. Umfragen des türkischen Meinungsinstituts Gezici zufolge sind zwischen 57 und 59 Prozent der türkischen Stimmbürger gegen die geplante Verfassungsänderung. Vor dem Hintergrund dieser schlechten Ausgangslage bemüht sich Erdoğan auch um die Mobilisierung der im Ausland wohnenden Türken – zum Beispiel mit Informationsveranstaltungen, die in mehreren europäischen Städten von den lokalen Behörden verboten wurden.

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Um mehr darüber zu erfahren, wieso Türken in der Schweiz für oder gegen die Verfassungsreform stimmen, habe ich mit einigen von ihnen gesprochen. Vor dem türkischen Konsulat in Zürich habe ich diese Menschen getroffen:

Amed Sise, 37

VICE: Wie haben Sie abgestimmt?
Amed: Ich habe Nein gestimmt.

Wieso?
Ich bin gegen Erdoğan, weil er eine Diktatur einrichten will. Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat und ich möchte, dass alle Völker dieselben Rechte haben. Aber Erdoğan möchte das nicht, er vertritt eine sunnitische Ideologie und lässt nicht zu, dass andere Religionen und Ethnien gleichberechtigt sind. Nicht alle Bürger haben dieselben demokratischen Rechte: Über 150 Journalisten sind derzeit inhaftiert, mehr als 50.000 Oppositionelle sitzen im Gefängnis [Amnesty International spricht im Jahresbericht 2016/17 von 40.000 Menschen, die wegen vermuteten Verbindungen zum Putschversuch verhaftet wurden, zudem von 118 verhafteten Journalisten]. Ausserdem kontrolliert Erdoğan die Medien und lässt somit keine oppositionellen Stimmen in der Öffentlichkeit zu. Wenn das so weiter geht, gibt es bald einen Bürgerkrieg zwischen Kurden und Türken. Und das will ich verhindern. Ich will, dass Erdoğan weggeht. Wohin ist mir egal.

Glauben Sie, die Reform wird angenommen?
Ich schätze, rund 70 Prozent der Türken sind dagegen. Aber bei Erdoğan weiss man nie, er manipuliert. Er behauptet, die Mehrheit der Stimmbürger stehe hinter der Reform, aber ich bin mir sicher, dass er lügt. Als die pro-kurdische Partei HDP im Sommer 2015 30 Prozent der Parlamentssitze holte, hatte Erdoğan das nicht akzeptiert, und kurzerhand neue Wahlen ausgerufen. In der Zwischenzeit führte er Krieg gegen die Kurden in Suruc und attackierte einen Friedensmarsch der kurdischen HDP in Ankara [Gemäss Al Jazeera sagt die türkische Regierung, der IS, die PKK oder die Linksaussenpartei DHKP-C könnten einen solchen Anschlag mit rund 97 Toten durchführen. Die HDP rief dazu auf, statt Rache das Ende von Erdoğans Macht anzustreben].

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Sie denken, Erdoğan steht hinter dem Anschlag in Ankara?
Ja, genauso wie hinter dem Militärputsch. Er inszeniert das alles, um sich als Garant für Sicherheit darstellen zu können. Dabei wurden viele Demonstranten getötet. Ich denke, Erdoğan steht dahinter. Er redet den Türken auch ein, dass ganz Europa gegen sie ist. So versucht er, das Volk hinter sich zu vereinen. Doch Erdoğan ist nicht nur für die Türkei gefährlich, sondern für die ganze Welt. Er unterstützt den IS und indirekt auch die Terroristen, die in Berlin in einen Weihnachtsmarkt gefahren sind.

Finden Sie es richtig, dass die AKP-Veranstaltungen in der Schweiz verboten wurden?
Ja, das finde ich gut. Denn er beansprucht die Meinungsäusserungsfreiheit, welche er bei sich in der Türkei der Opposition selbst nicht gewährt. Also hat er es nicht verdient, dieses Recht im Ausland in Anspruch zu nehmen.

Özgür, 45

Özgür wollte seinen richtigen Namen nicht nennen, ein Foto sei aber in Ordnung.

VICE: Wie haben Sie abgestimmt?
Özgür: Das möchte ich lieber für mich behalten. Es ist aber erst das zweite Mal in meinem Leben, dass ich abstimmen gehe. Ich bin extra aus Deutschland angereist, weil Zürich näher ist als Karlsruhe. Ich finde es einfach wichtig, dass alle Menschen ihre Meinung äussern können.

Weshalb möchten Sie nicht sagen, wie Sie abgestimmt haben?
Was ich an der politischen Kultur in Deutschland schätzte, ist die Diskretion. Man respektiert sich gegenseitig, aber behält die politische Meinung für sich. So gehen die Leute auch brüderlich miteinander um, wenn sie nicht dieselbe politische Gesinnung haben. Politik ist etwas, was man sich nicht gross auf die Fahne schreiben soll, sondern besser für sich behält.

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Was halten Sie vom Verbot der AKP-Veranstaltungen in der Schweiz, aber auch in Deutschland?
Jeder sollte für seine Landsleute sprechen dürfen. Auch im Ausland. Da sollen sich die Schweizer und auch die Deutschen besser nicht zu sehr einmischen. Alle Menschen sollten Brüder sein. Jeder Mensch soll so leben dürfen wie er will. Ob er sich jetzt bedecken möchte oder nicht.

Ich arbeite und zahle meine Steuern in Deutschland und darf noch nicht mal wählen, weil ich auf meinen türkischen Pass bestehe. Ich respektiere das. Aber jetzt, wo ich einmal wählen darf, mischt sich plötzlich jeder ein, das regt mich so auf. Ganz Europa macht Stimmung gegen Erdoğan. Dabei sollen die doch einfach mal sprechen, sagen was sie tatsächlich wollen, die sollen doch einfach ihre Argumente artikulieren und die anderen auch, damit sich die Leute selbst eine Meinung bilden können. Alle Menschen sollen einfach reden.

Hakan, 30

 Hakan wollte seinen richtigen Namen auf Grund der geäusserten Kritik an Erdoğan nicht preisgeben.

VICE: Wie haben Sie abgestimmt?
Hakan: Ich habe Nein gestimmt, weil das Präsidialsystem, das Erdoğan in der Türkei aufbauen will, nicht dazu da ist, um die Demokratie in der Türkei zu stärken, sondern um alle demokratischen Züge, die bisher im politischen System verankert waren, abzubauen.

Denken Sie, er kommt damit durch?
Wenn die Verhältnisse andere wären, also wenn die Lage ruhiger wäre, die Menschen mit reinem Gewissen abstimmen könnten, ohne Angst dass ihnen etwas widerfahren könnte, und wenn die Opposition dieselben Voraussetzungen wie die AKP-Regierung hätte, dann würden bestimmt 80-90 Prozent der Türken Nein stimmen. Aber Erdoğan und die AKP-Regierung haben ihr ganzes Hab und Gut in dieses Referendum gesteckt. Ich denke, die werden mit allen Mitteln versuchen, dieses Referendum für sich zu entscheiden. Denn sollte ein Nein beim Referendum herauskommen, würde das heissen, dass die AKP-Regierung und Erdoğans Herrschaft zusammenstürzen würde.

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Sie gehen also davon aus, dass die Abstimmung nicht fair nach demokratischen Prinzipien durchgeführt wird?
Nein, auf keinen Fall.

Rechnen Sie damit, dass Erdoğan unter diesen Umständen mit dem Referendum durchkommt?
Es gibt in der Türkei ein Sprichwort, das besagt, dass bei den Osmanen die Spielchen nie enden. Auch dieses Mal wird Erdoğan pfuschen, wo er nur kann. Er wird repressiv sein, vor allem in den kurdischen Gebieten wird er die Menschen einschüchtern und auch Gewalt anwenden, damit die Menschen in seinem Sinne abstimmen, oder gar nicht am Referendum teilnehmen.

Die AKP wollte ja auch in der Schweiz Informationsveranstaltungen abhalten, die von den lokalen Behörden jedoch abgesagt wurden. Ist das Ihrer Meinung nach richtig?
Natürlich war es richtig, die Veranstaltungen abzusagen. Erdoğan ist ein faschistischer Diktator, der die Minderheiten in seinem Land nicht anerkennt und hier in Europa sollte man einem Diktator, der faschistisch gesinnt ist, keine Plattform geben. Man sollte sogar noch härter gegen ihn vorgehen.

Inwiefern?
Durch Boykotte und wirtschaftliche Sanktionen. Erdoğans Regierung hat in den kurdischen Teilen grosse Verbrechen an den Menschen begangen. Deswegen sollte Erdoğan und seine Regierung vor dem Gerichtshof für Menschenrechte zur Verantwortung gezogen werden, denn das waren Kriegsverbrechen.

Bei der Umfrage vor dem türkischen Konsulat wollte niemand der Reformbefürworter öffentlich Stellung beziehen. Es scheint, als seien die Befürworter kurz vor der Reform vorsichtig geworden, sich gegenüber Medien zu äussern. Als Grund haben einige angegeben, dass sie es sich nicht mit ihrem Arbeitgeber und Nachbarn verscherzen wollen.

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Um doch auch die Argumente der Befürworter kennenzulernen, verschickte ich zahlreiche Kontaktanfragen über türkische Freunde und Kollegen. Doch auch diese mündeten in einer Sackgasse. Zu heikel schien die Thematik zu diesem Zeitpunkt. Schlussendlich wurde ich an einen Zürcher Coiffeur-Salon verwiesen, der von Befürwortern frequentiert werden soll. Und tatsächlich: Ich traf dort einen Befürworter, der nach seiner Rasur bereit war, mir ein paar Fragen zu beantworten:

Baris, 29

Baris wollte nicht, dass sein Arbeitgeber seinen richtigen Namen hier lesen kann.

VICE: Wie hast du über das Referendum abgestimmt?
Baris: Mit Ja. Weshalb?
Ich habe mir angeschaut, welche Veränderungen die Reform mit sich bringen würde. Grundsätzlich geht es einfach darum, dass Entscheidungsprozesse der Regierung vereinfacht und beschleunigt werden, was angesichts der aktuellen Situation im Land meiner Meinung nach keine schlechte Idee ist. Die kurdischen Sezessionsbestrebungen und der Terrorismus der PKK bedrohen die Einheit des Landes. Deswegen ist es gut, wenn Erdoğan mehr Verantwortung bekommt, denn er ist ein Garant für Stabilität. Zudem habe ich grosses Vertrauen in den Mann. Ich denke, bei einem Ja wird die Türkei unabhängiger und dadurch freier sein.

Woher kommt das Vertrauen?
Weil er bisher seine Wahlversprechen gehalten hat. In meiner Familie ist es Tradition, dass die Frauen ein Kopftuch tragen. Vor Erdoğan war es gläubigen Mädchen an türkischen Schulen allerdings verboten, das Kopftuch zu tragen. Viele wurden dadurch diskriminiert, ihre Religionsfreiheit zu leben. Dank Erdoğan dürfen diejenigen, die wollen, nun ein Kopftuch tragen, und diejenigen die es nicht tragen wollen, müssen es nicht. Er gewährt den Menschen Entscheidungsfreiheit, was ich gut finde. Zudem hat er das Land stark wirtschaftlich vorangebracht. Wenn du ländliche Regionen heute damit vergleichst, wie es vor 20 Jahren dort aussah, würdest du das nicht mehr wieder erkennen. Erdoğan hat das Land aufgebaut. Ich bin aber kein sturer AKP-Wähler, wenn er unser Vertrauen missbraucht, würde ich ihn auch wieder abwählen.

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Kurden kritisieren an Erdoğan, dass sie unter seiner Regierung nicht dieselben Rechte haben wie Türken. Was hältst du von dieser Anschuldigung?
Ich bin Türke, komme selber aber aus Adiyaman, einer Stadt, die in der kurdischen Region liegt. Soweit ich das beurteilen kann, funktioniert das Zusammenleben zwischen den einzelnen Volksgruppen sehr gut. Ohne Probleme. Ich habe auch viele kurdische und alawitische Freunde dort. Diejenigen, die sich benachteiligt fühlen, sind PKK-Unterstützer. Ich habe überhaupt kein Problem mit Kurden. Wer unser Land destabilisieren und auseinandernehmen will, ist fehl am Platz. Wenn die Kurden unabhängig werden, dann wollen das auch alle anderen Minderheiten. Was bleibt dann von der Türkei noch übrig? Die Kurden, die du befragt hast, besitzen ja auch einen türkischen Pass, mit dem sie abstimmen durften. Die haben dieselben Rechte wie ich.

Findest du es nicht problematisch, wenn Erdoğan weitere zwei Amtszeiten Präsident sein könnte?
Nein, überhaupt nicht. 2023 wird der Vertrag von Lausanne auslaufen, in dem die Türkei nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg Ländereien abtreten musste. Lieber habe ich dann immer noch Erdoğan an der Macht, der den Vertrag sicherlich nicht verlängern wird, als die Leute, die hinter dem Putschversuch oder den Gezi-Protesten standen.

Was hältst du davon, dass die AKP-Wahlveranstaltungen in der Schweiz von den Behörden verboten wurden?
Ich finde das unfair, weil Veranstaltungen anderer Parteien nicht verboten wurden. Zudem ist das schlecht für das Image der Schweiz. Ich verstehe nicht, wieso die Schweiz im Falle der AKP die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ignoriert hat. Das ist eine Doppelmoral.

Denkst du, die Reform wird angenommen?
Ja, denke ich schon. Und selbst wenn nicht, wäre das nicht so schlimm. Es würde sich an der Situation ja nichts ändern. Es ist nicht ein Kampf von Erdoğan, sondern ein Kampf der Türkei.

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