Menschen, die zwanghaft alles vollkritzeln müssen, leiden an Graphomanie
Schreibwut. Bild: cometstarmoon, FlickRCC BY 2.0.

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Menschen, die zwanghaft alles vollkritzeln müssen, leiden an Graphomanie

Ohne die manische Schreibwut wären viele epochale Werke der Literaturgeschichte nie verfasst worden. Doch der Wahn kann auch lähmend sein.

Als ich noch in der Kölner Südstadt gewohnt habe, konnte es passieren, dass das Straßenbild vor der Haustür über Nacht plötzlich vollkommen anders aussah. Wo mich gestern noch einfarbig beklebte Plakatwände, Litfaßsäulen und hässliche Kachelfassaden begrüßten, war am nächsten Morgen alles mit hektischen Symbolen und apokalyptischen Wörtern aus schwarzem Edding übersät. Ein Kritzler oder eine Kritzlerin tobten sich seit Jahren in der Stadt aus. (Der Einfachheit halber werde ich das Phantom im Folgenden einfach als der Kritzler bezeichnen.) Fand er eine Fläche und wähnte sich sicher, wurde zugeschlagen. Niemand, den ich kenne, hat diesen Menschen je gesehen, aber die Schreibwut war omnipräsent und breitete sich jahrzehntelang hartnäckig über das ganze Stadtgebiet aus.

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Er war kein Writer und verfügte auch über kein spezielles Tag, das er wie OZ in Hamburg stoisch verbreitete. Dafür hinterließ er mystische Nachrichten und Textzeilen, die zwar keinen direkten Sinn ergaben, aber auch nicht völlig zusammenhangslos waren. Eines der Themen war die Religion. Häufig wurde aber auch mit subtilen Veränderungen der Schreibweise bekannter Begriffen gespielt. Mal schrieb der Kritzler in vertikalen Wortkaskaden, mal in engen Zeilen. Eine Zeitlang begannen die Nachrichten mit Psalmen, dann wiederum verschwand das Gekrakel plötzlich und die Werke tauchten schließlich am anderen Ende der Stadt wieder auf. Was genau die Nachrichten uns sagen sollten, war nie ganz klar, aber sie bildeten einen faszinierenden Kontrast zu den Botschaften auf Werbeflächen im öffentlichen Raum, die ja meistens ebenfalls ihren ganz eigenen Nonsens vermitteln. Vielleicht ist der Kritzler also ein Konzeptkünstler—vielleicht sucht ihn aber auch das Leid der Graphomanie heim.

Bei der Hypergraphie oder Graphomanie überkommt den Betroffenen ein überwältigender Drang, sich schreibend auszudrücken—egal auf welchem Untergrund. Diese Schreibwut kann sogar durch die bloße Verfügbarkeit von Flächen getriggert werden. Jede Wand und jeder Zettel wird als Schreibaufforderung verstanden. Menschen mit bipolarer Störung, ganz besonders in manischen oder hypomanischen Phasen, schreiben oft für viele Stunden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was geschrieben wird, kann sehr unterschiedlich sein: Manchmal handelt es sich um ungeordnete Listen, einzelne Worte oder Tagebucheinträge bei anderen sind es Artikel, ellenlange E-Mails oder sogar Romane—einige Menschen schreiben ganze Bücher ab, während eine Freundin von mir auf ihr Bettlaken zwanghaft die gleichen Worte schrieb.

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In ihrem Buch „The Midnight Disease" beschriebt die Neurologin Alice Flaherty vom Massachussetts General Hospital, wie sie nach dem Tod ihrer frühgeborenen Zwillinge plötzlich von Graphomanie befallen wurde. Als Neurologin behandelte sie hauptberuflich Menschen, die an genau dieser Störung leiden, bevor es sie selbst traf. Flaherty glaubt, dass Schreibzwänge mit extremen Gefühlsschwankungen verbunden sind und durch diese ausgelöst werden können. In einem Interview mit dem Radiosender NPR erzählte sie, wie urplötzlich und allmächtig die Krankheit über sie kam:

„Am zehnten Tag nach dem Tod meiner Jungs wachte ich mit einem Schlag auf und die Welt hatte sich vollkommen verändert. Ich war voller Ideen und dachte, ich platze, wenn ich sie nicht aufschreibe. Für vier Monate stand ich mitten in der Nacht auf und schrieb Post-Its voll, mit denen ich die Wände tapezierte. Mein Mann sagte mir später, dass ihm die Ernsthaftigkeit meiner Krankheit bewusst wurde, als ich noch nicht einmal mehr die normalgroßen Post-Its nahm, sondern die kleinsten, die es zu kaufen gab."

Flaherty, die mittlerweile nicht nur dank medizinischer Hilfe ihre graphomanische Phase in den Griff bekam, sondern auch zwei gesunde Zwillingsmädchen zur Welt bracht, schreibt in ihrem Buch außerdem, dass ihr die Hypergraphie dabei half, Ideen zu generieren—oft jedoch auf Kosten der Qualität.

Auch Lewis Carroll, dem Autor von Alice im Wunderland, wird häufig Hypergraphie nachgesagt. So schrieb er in seinem Leben mindestens 98.000 Briefe in verschiedenen Formaten; gern auch mal rückwärts. Andere Graphomanen schreiben in Mustern, zum Beispiel spiralförmig von der Kante des Blattes in Richtung Mitte, oder gleich spiegelverkehrt. Wieder andere listen sämtliche Gegenstände in ihrer Wohnung auf oder müssen auf zwanghafte Weise Reime verfassen.

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Manchmal jedoch werden die Graphomanen zu Chronikern unserer Zeit. Der vielleicht am meisten unterschätzte von ihnen war der zurückgezogen lebende, erfolglose Schriftsteller Arthur Inman. Sein 17-Millionen-Wörter-Tagebuch, das sich von 1919 bis 1963 erstreckt, beschreibt in 155 Bänden vier Jahrzehnte Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts (Inman befand sich im permanenten Krieg gegen den Schrecken der Moderne). Eine Geschichte, die sogar einen Kinofilm wert ist—nur, wie adaptiert man 115 Bände?

Der Begriff „Mitternachtskrankheit", auf den sich Flaherty in ihrem Buch bezieht, wurde von Edgar Allen Poe geprägt und beschreibt das Bild eines Schriftstellers, der um Mitternacht über seinem Schreibtisch gebeugt manisch und unnachgiebig Seite um Seite füllt.

Zwei berühmtere Patienten sind Victor Hugo und Alfred Krupp. Ersterer kritzelte die Wände seines Hauses in Jersey voll, letzterer erfreute sein Umfeld mit mehreren Dutzend Briefen am Tag. Nur in seltenen Fällen kann Hypergraphie auch in einer depressiven Phase auftreten. Die Betroffenen schreiben dann allerdings eher düstere Poesie. Viele Autoren haben mit Hilfe von Hypergraphie Jahrhundertwerke verfasst, zum Teil auch angetrieben von Drogen: So zum Beispiel hackte Robert Louis Stevenson mit Hilfe von sehr wenig Schlaf und sehr viel Kokain in sechs Tagen die 60.000 Worte in die Schreibmaschine, die wir heute als „Dr. Jekyll und Mr. Hyde" kennen.

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Doch ist es wirklich fair, jemanden für geisteskrank zu erklären, der von seiner Arbeit besessen ist? Die Verbindung zwischen Kreativität und Wahnsinn ist einer der fruchtbarsten Garanten für Output, die der Mensch überhaupt kennt. Es gibt Studien, nach denen fast 70 Prozent aller hauptberuflichen Dichter zumindest an einer milden Form der Hypergraphie leiden. In leichten Formen sind Zwänge im Alltag manchmal sogar nützlich oder stören kaum, doch die Grenzen zur Versklavung sind oft fließend.

Selbst in Manie-Foren sind die Nutzer von der Graphomanie überfordert, als ein Patient sein Leiden in geschlagenen 52 Posts erörtert.

Ein Ort, den man bekanntlich vollschreiben kann, ohne dass es irgendjemanden stört, ist das Internet. Wir können nur spekulieren, wie viele undiagnostizierte Hypergraphen sich in den Feedback-Spalten von Tageszeitungen, Foren und Blogs tummeln. Schreibwütige Kommentatoren mit unerschütterlichem Mitteilungszwang, die besonders aggressiv daherkommen—das klingt nach einer exakten Beschreibung des typischen Internettrolls.

Dass die Graphorrhö, wie sie auch genannt wird, zu den Zwangssymptomatiken zählt, lässt sich beispielsweise im Selbsthilfeforum zwangserkrankungen.de ablesen. Selbst da sind die betroffenen Teilnehmer irgendwann schlicht überfordert von dem Schreibzwang eines Users, der seine Diagnostik nicht in einem, sondern in 52 elaborierten Posts hintereinander erörtert, bis niemand mehr zu Wort kommt.

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In dem klinischen Standardwerk „Die Epilepsie. Grundlagen, Kliniken, Behandlung" beschreibt der einflussreiche Neurologe Norman Geschwind die Hypergraphie als eine der zentralen Persönlichkeitsveränderungen, die durch Epilepsie ausgelöst werden können: Dabei handelte es sich

„nicht einfach um ein zwanghaftes Schreiben, (…) sondern um eine im Umfang vermehrte schriftsprachliche Äußerung, die auch inhaltlich von (…) Umständlichkeit oder verstärkten philosophischen Inhalten geprägt ist. Sie tritt mit mit affektiven Störungen, zumeist depressiven, aber auch maniformen Verstimmungen und computertomographisch nachweisbaren Temporallappenläsionen assoziiert auf."

Drei weitere Kardinalsymptome treten bei Epileptikern besonders häufig auf, wenn der Temporallappen geschädigt wurde: Hyposexualität, Aggressivität, aber ganz besonders häufig eine verstärkte Religiosität. Ein interessanter Zusammenhang, der bislang noch kaum erforscht ist.

Die Schreibwut kann durch verschiedene Drogen induziert werden, doch besonders verdächtig ist in diesem Zusammenhang das Alzheimer-Medikament Donepezil. Das Problem an einer ausgeprägten Hypergraphie ist leider häufig auch, dass die Betroffenen im Rahmen einer bipolaren Störung unter einer lähmenden Mischung aus Selbsthass, Paranoia, Überschätzung und anderem obszessiv-zwanghaften Verhalten leiden—und währenddessen alles aufschreiben müssen, ob sie wollen oder nicht.

In Köln kennt jeder das Werk des mysteriösen Menschen, der die Häuser, Bauzäune und U-Bahn-Stationen der Stadt mit rätselhaften Psalmen und Zeichen versieht. Ich hoffe jedenfalls, dass er noch immer mit einem Edding bewaffnet im öffentlichen Raum unterwegs ist und falls er das liest: Könntest du dich bitte für ein Interview bei uns melden? Oder sogar mal einen Artikel schreiben?

PSYCHOMANIA ist eine neue Motherboard-Kolummne über Neurosen des Alltags. Schließlich gibt es keinen Wahnsinn, den es nicht gibt—und die Grenzen zwischen gesund und pathologisiert sind fließend.