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Alltagsrassismus

Was ist heutzutage eigentlich alles rassistisch?

Ein Guide für alle, die sich ganz ernsthaft nicht mehr sicher sind.

Irgendwie wirkt es oft so, als hätten viele Leute heute einfach keine Lust mehr, sich Rassismus vorwerfen zu lassen. Der Vorwurf geht Leuten auf die Nerven. Überhaupt sei der Begriff zu einem "Kampfwort" verkommen, das viel zu inflationär verwendet werde, hört man immer wieder.

"Eine übertriebene politische Correctness geißelt alles, was vom linken Mainstream auch nur ein wenig abweicht", erklärte uns der österreichische Außenminister Sebastian Kurz gerade erst in einem Interview mit der Presse. Und die FIFA hat einen großen Teil ihrer Anti-Rassismus-Arbeit letztes Jahr überhaupt gleich eingestellt. Man habe "die Ziele erreicht".

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Eines wird immer deutlicher: Menschen haben ganz offensichtlich sehr unterschiedliche Vorstellung davon, was Rassismus überhaupt ist. Einerseits gibt es Leute, die ihn nur als solchen zu erkennen scheinen, wenn er ihnen mit Hakenkreuz-Fahne und in Ku Klux Klan-Robe ins Gesicht springt.  Andererseits sollte man sich tatsächlich sehr gut überlegen, wann und warum man etwas als rassistisch kritisiert. Immerhin reden wir hier von einem ziemlich massiven Vorwurf, der noch dazu sehr schnell seine Wirkung verliert, wenn er unüberlegt verwendet wird.

Obwohl ich in meinem Leben sowohl mit den kleinen, alltäglichen Vorurteilen, als auch dem richtigen, ordentlichen Rassismus der alten Schule konfrontiert war, bin ich selbst bis heute nicht in jeder Situation sicher, wann es angebracht ist, wirklich von Rassismus zu reden. Nachdem ich mich mit der Problematik aber gezwungenermaßen öfter beschäftigen musste als die meisten Leute, will ich versuchen, ein wenig Klarheit dazu zu schaffen—anhand von einigen Fragen, die man zu dem Thema immer wieder gestellt bekommt und mit einiger Expertenhilfe.

"Ist es Rassismus, wenn Österreicher über Deutsche herziehen?"

Beginnen wir mit dem Grundlegenden und einer Frage, die man immer wieder hört: Wo fängt Rassismus überhaupt an? Wenn weiße Menschen als "Ginger" bezeichnet werden, weil sie rothaarig sind, oder Österreicher Deutsche als "Piefke" beschimpfen, ist das dann nicht eigentlich auch schon eine Form von Rassismus? Für Susan Arndt ist diese Frage relativ schnell beantwortet. Sie ist renommierte Anglistin und Afrikawissenschaftlerin an der Universität Bayreuth und die Autorin mehrerer deutschsprachiger Standardwerke zum Thema, die sich insbesondere mit Rassismus in unserer Sprache beschäftigen. "Natürlich gibt es in allen Gesellschaften auch Diskriminierung – insbesondere unter Nachbarinnen, aber auch darüber hinausgehend", erklärt sie. "Der Unterschied zu dem, was wir als Rassismus bezeichnen, ist, dass diese Dinge nicht auf diesem Jahrhunderte alten Narrativ von 'Rassen' beruhen. Deswegen definiere ich solche Formen von Diskriminierung auch nicht als Rassismus."

Viel eher sei es laut Arndt so, dass Österreicher wie Deutsche – insofern es weiße Österreicher oder weiße Deutsche sind – durch den Rassismus dieselben Privilegien erhalten haben. "Für mich ist die Rassismus-Definition eine, die an die Geschichte der Erfindung von Rassen gebunden ist: Das Wort 'Rasse' wurde erst von Europäerinnen Ende des 16. Jahrhunderts von Tieren auf Menschen übertragen und wurde im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung theoretisiert. Und zwar von Anfang an gebunden an die Selbstaufwertung, es gäbe eine 'weiße Rasse', die den anderen überlegen ist."

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Diese "anderen" waren zu Beginn vor allem drei: Die "Roten", die "Gelben" und die "Schwarzen". Später kamen weitere hinzu. "Im Kern stand dabei aber immer dieselbe Absicht: das Weißsein zur überlegenen Norm zu erklären, die das Recht hat, andere Menschen zu versklaven und Menschenrechtsverbrechen zu begehen", so Arndt. "Es ging darum, bestimmte Menschen aus dem Menschsein auszuschließen. Deshalb tauchte das Ganze ja auch im 16. Jahrhundert auf: um eine Legitimierung für das Christentum zu schaffen, all diese Verbrechen der Kolonisierung zu begehen, die man ja eigentlich nicht an den Humanismus oder an die Werte der Aufklärung binden konnte."

"Bin ich Rassist, weil ich mein halbes Leben lang veraltete Begriffe verwendet habe?"

Jetzt leben wir aber im Jahr 2017, und viele Menschen wissen heute, dass das Konzept von Rassen pseudowissenschaftlicher Müll ist. Das Problem ist dabei nur, dass dieser verfluchte Rassismus mit all seinen Auswüchsen genug Zeit hatte, um sich in alle Ecken unseres heutigen Lebens einzuschleichen – und wir oft gar nicht merken, wie wir uns aktiv daran beteiligen. Am besten wird das vielleicht an unserer Alltagssprache sichtbar.

Bis vor ein paar Jahrzehnten gab es für den Rassismus in unserer Sprache in Europa de facto gar kein Bewusstsein. "Erst nach der Befreiung von Kolonien aus der europäischen Herrschaft in den 1960er-Jahren – einige waren immer noch kolonisiert – begann man sich in der Wissenschaft mit der Problematik der Wörtern zu beschäftigen, mit denen wir andere Menschengruppen und Kulturen bezeichnen. Und mit der Frage, wie viel Gewalt und Geschichte in diesen Worten steckt", so Arndt.

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Aber dieser Prozess verlief schleppend. Selbst wenn du, wie ich, in den Neunzigern geboren bist, war eine ganze Reihe von heute weitgehend verpönten Begriffen, in deiner Kindheit noch Gang und Gebe: Roma bezeichnete man oft noch als "Zigeuner" und Dr. Oetker verkaufte noch Eis mit dem Namen "Negerlein".

"Vor allem in den letzten zehn Jahren hat sich eine umfassendere öffentliche Diskussion entwickelt", erklärt Arndt. "Gerade die mediale Thematisierung ist ein sehr junges Phänomen, eben weil die zivilgesellschaftlichen Proteste auch immer massiver werden. Heute wird es vor allem über soziale Medien thematisiert wird, wenn solche rassistischen Wörter irgendwo auftauchen."

Oft wird dabei angenommen, dass viele dieser Begriffe früher einmal ganz neutral verwendet wurden und erst im Laufe der jüngeren Geschichte ihre negative Bedeutung bekamen. Das ist eine Theorie, die ich selbst sogar noch von manchen meiner Lehrer zu hören bekommen habe: Neger komme lediglich vom lateinischen "niger", was so viel wie "schwarz" bedeute. Unsere Urgroßeltern hätten sicher nicht Böses gemeint, wenn sie von Negern redeten. Das stimmt so aber nicht ganz. "Um Legitimation für all diese Menschenrechtsverletzungen zu schaffen, prägte man in der Kolonialzeit gezielt Begriffe, die andere aus diesem zivilisierten Menschsein ausschlossen", meint Susan Arndt. "Es wurde bewusst auf Begrifflichkeit zurückgegriffen – sie sollten ganz klar abwerten." Über die Jahrhunderte hätten sich haufenweise solche Wörter in unserer Sprache etabliert – samt ihrer von jeher abwertenden Bedeutung. Und dabei geht es nicht nur um die offensichtlichen Beispiele wie das N-Wort, sondern auch um Begriffe wie "Mischling" oder "primitiv".

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"Ist der 'Mohr' etwas Negatives?"

Zumindest darüber, dass das N-Wort ein Schimpfwort ist, scheinen sich, abgesehen von ein paar ganz grusligen Härtefällen, die meisten Leute heute einig zu sein. Aber dann gibt es da ja noch einen ganzen Haufen andere Begriffe, die in den Augen vieler schon irgendwie durchgehen – wie eben der "Mohr". Zugegeben, mich hat noch nie jemand als "scheiß Mohr" beschimpft, und wenn es passieren würde, müsste ich mir wahrscheinlich hauptsächlich das Lachen verkneifen. Trotzdem bringt es mich immer ein bisschen zum Zusammenzucken, wenn die Leute am Dreikönigstag vom Mohren reden, weil sie meinen, dass das ja nichts Abwertendes sei.

"Im Fall von diesem Wort gibt es zwei Theorien, woher der Begriff stammt", erklärt Arndt. "Eine Herleitung ist, dass es von 'töricht' oder 'dumm' kommt. Was aber fest steht, ist, dass es auf jeden Fall mit dem Islam verbunden ist. Moslems, vor allem Mauren, wurden früher so bezeichnet." Später wurde der Begriff dann immer unspezifischer für Nicht-Weiße eingesetzt – egal woher genau sie kamen. "Hier tritt ein Phänomen auf, das im Rassismus immer wiederkehrt: Biologie, Geografie und Religion werden auf irgendeine Weise miteinander vermischt."

Leuten, die überzeugt sind, beim Mohr von nichts Negativem zu sprechen, rät Arndt zu einem Selbstversuch: Sie sollen doch mal die Augen schließen und sich den Menschen einfach vorstellen, der mit dem Wort gemeint ist – einfach, um zu zeigen, wie man dabei eben doch meistens alte Kolonial-Fantasien vom dienenden Schwarzen vor Augen hat. Die Tatsache, dass Österreichs bekanntester und beliebtester "Kammermohr", Angelo Soliman, nach seinem Tod ausgestopft und im Kaiserlichen Naturalienkabinett als halbnackte Kuriosität ausgestellt wurde, sagt auch einiges über die Geschichte des Begriffs und die Einstellung gegenüber den Bezeichneten aus.

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Mit welcher Vehemenz Menschen sich nichtsdestotrotz an die Verwendung von solchen Ausdrücken klammern, kann auch für Arndt immer wieder erstaunlich sein. "Ich kann mir das ein bisschen so erklären: Jetzt habe ich 30 Jahre lang einen Begriff verwendet, und plötzlich kommt jemand und sagt: 'Hey, das ist rassistisch!' Wenn ich das jetzt sofort zugebe und ändere, dann stelle ich ja auch mein altes Ich extrem in Frage. Ich muss praktisch zugeben, dass ich 30 Jahre lang Rassistin war." Zugegeben etwas, das sich die wenigsten gerne eingestehen.

Die etwas unangenehme Wahrheit ist aber, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der praktisch jeder bis zu einem gewissen grad Rassist ist. "Deswegen versuche ich auch immer zu erklären: Wenn ich sage, dass ich Rassistin bin, meine ich nicht, dass ich bösartig bin. Sondern dass ich Teil eines Diskurses und eines Wissenssystems bin, das über Jahrhunderte hinweg über alle möglichen Wege – durch Kinderbücher, die Schule, das Elternhaus – derartig in uns eingedacht wurde, dass ich mich jetzt einfach trauen muss, Fragezeichen zu setzen. Und zwar ganz ohne dabei zu meinen, dass ich als Kind böse war und mich jetzt geißeln muss, weil ich ein bestimmtes Wort so unkritisch verwendet habe. Das ist ein Lernprozess, zu dem muss ich stehen, und der verbessert mich."

"Was ist falsch daran, wenn Weiße schwarze Frisuren tragen?"

Je mehr man sich sich der Tatsache bewusst wird, dass systematischer Rassismus ein Teil unserer Geschichte ist, desto verständlicher wird auch, warum viele Betroffene so sensibel auf scheinbar unbedeutende Symbole im Alltag reagieren. Wer sich auch nur ein bisschen Wissen darüber aneignet, was Europäer mit den amerikanischen Ureinwohner angestellt haben, während sie parallel dazu eine völlig falsche und verdrehte Darstellung von ihnen verbreiteten, der versteht, wo das Problem liegt, wenn Leute heute zu Fasching Indianer-Federkronen zu tragen und sich Farbe ins Gesicht zu schmieren, um ein bisschen exotisch zu wirken.

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Oder eben auch, warum es Leute aufregt, dass weiße Musiker in Musikvideos regelmäßig Flechtfrisuren und Dreads tragen, um hip und ausgeflippt zu wirken und ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu generieren, während sich schwarze Menschen heute immer noch ernsthaft Sorgen machen müssen, mit den selben Frisuren einen Job finden können. Und das, obwohl diese Frisuren Teil ihrer Kultur sind.

Gleichzeitig kommen wir bei dieser Debatte um Cultural Appropration aber auch an einen Punkt, an dem man sich einfach sehr gut überlegen muss, ob man einer Einzelperson wirklich Rassismus vorwerfen will. Gerade, weil sich viele Leute in unseren Breitengraden über diese Dinge in vielen Fällen ganz offensichtlich noch nicht einmal Gedanken gemacht haben und das Bewusstsein dafür häufig noch komplett fehlt. Das macht die Sache nicht besser, aber die einzelnen weniger schuldig. "Gerade bei einem Thema wie Kultureller Aneignung muss man wahrscheinlich einfach im Einzelfall unterscheiden, wann Kritik angebracht ist", meint Arndt dazu. "Die Menschen müssen auch die Möglichkeit haben, das Problem zu verstehen. Nur zu sagen: 'Du darfst das nicht!' oder 'Wenn du dieses oder jenes machst, dann bist du rassistisch!', macht Leute schnell wütend. Der Schritt von: 'Ich schäme mich', zu: 'Ich bin stinksauer, dass du mich verschämt machst', ist so klein, dass ich immer wieder auch versuche, solche Problematiken im Einzelnen zu erklären."

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"Ist es rassistisch, Leute zu fragen, woher sie kommen?"

Leuten das Problem an ihrem Handeln zu erklären, kann mit der Zeit auch sehr, sehr anstrengend werden. Aus persönlicher, gefühlt hunderttausendfacher Erfahrung, kann ich beispielsweise sagen, dass man auch heute noch regelmäßig daran scheitert, den weltoffensten Leuten klarzumachen, dass die Haare einer Schwarzen Person nicht da sind, damit weiße Leute sie permanent begrapschen oder kommentieren können. Genau diese permanenten Alltagssituationen sind es übrigens, die einen auf Dauer fast genau so fertig machen wie der offene Rassismus.

"Es gibt viele Codes, Leute aus diesem weißen, christlichen Kollektiv auszuschließen. Dieses 'Woher kommst du?', 'Nein, woher kommst du denn wirklich?' oder 'Oh ich wär gern so schön braun' bis hin zu 'Lass mich mal in die Haare greifen' – das hat immer auch diesen Kodex von: 'Du gehörst nicht wirklich hier her'", meint Susan Arndt. "Das ist nicht niedlich. Und das ist eben genau die Subtilität, die man oft bei Leuten findet, die sich selbst als total liberal sehen und dabei nicht merken, dass sie Teil dieses gewaltsamen Systems sind."

Auch hier stehen wir vor einem ähnlichen Problem wie vorhin bei den Frisuren: Natürlich ist es nicht per se rassistisch, jemanden nach seiner Abstammung zu fragen. Letztendlich ist es aber eine Sache des Fingerspitzengefühls – und vor allem kein Freibrief. Solltest du jemanden eben erst vor 10 Minuten kennengelernt haben, ist es auf jeden Fall eine gute Idee, sich die Stammbaum-Fragen noch einige Zeit zu verkneifen.

"Ist es rassistisch, den Islam zu kritisieren?"

Wie tief das Rassismus-Problem in unserer westlichen Gesellschaft wirklich sitzt, zeigt sich in der aktuellen Islam-Debatte wahrscheinlich am deutlichsten. Auch sachliche Kritik am Islam wäre logischerweise ganz und gar nicht rassistisch – genauso wenig, wie Kritik am Christentum automatisch rassistisch ist. Im Gegenteil: Religionskritik ist sogar mehr als dringend notwendig. Das Problem liegt aber woanders: Wir vermischen ununterbrochen Religion mit dem Aussehen von Menschen und Abstammung mit ihrer Einstellung. Kaum jemand scheint auf dem Radar zu haben, dass es einerseits weiße Muslime und andererseits auch arabische Christen gibt. Und auch das wird in Europa seit Jahrhunderten systematisch so betrieben, erklärt Susan Arndt.

"Es hat von jeher diese Versuche gegeben, Religion biologisch zu kodieren und das auch dann auch in Wertigkeiten und Hierarchien zu übersetzen", sagt die Expertin. "Ein gutes Beispiel dafür ist van Eschenbachs Epos Parzival: Parzival hat einen Halbruder, und der wiederum ist der Sohn eines weißen Vaters und einer Schwarzen Mutter. Sie wird in der Geschichte deswegen als schwarz bezeichnet, weil sie keine Christin, sondern Moslem ist. Das wird auch klar so benannt. Und weil dieser Halbbruder eine Schwarze Mutter hat, kann er den Heiligen Gral in der Geschichte auch nicht sehen. Erst als er sich taufen lässt, wird der Gral für ihn sichtbar." Am Ende der Geschichte erklärt Parzival seinem Bruder übrigens, dass er nicht nach Europa gehört, und rät ihm, in den Orient zu gehen. Apropos Moral von der Geschichte.

Die nahezu selben Dynamiken – also diese Vermischung von Religion, Hautfarbe und  geografischem oder kulturellem Raum – zeigen sich für Arndt heute immer noch. Etwa, wenn man sich die Nafri-Debatte Ende 2016 ansieht. "Wenn hier von nordafrikanischen Straftätern die Rede ist, dann ist das eigentlich nur ein Synonym für Araber, und das wiederum ein Synonym für Islam. Das Problem liegt eigentlich darin, dass wir das aus unserem alltäglichen Sprechen gar nicht mehr herausbekommen. Das ist über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende so gewachsen. Und egal welcher Begriff nach Nafri als nächstes verwendet wird – das eigentliche Problem bleibt."