Eine Nacht im Matrix, Berlins bekanntester Großraumdisko
Foto: Vincent Bittner

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Eine Nacht im Matrix, Berlins bekanntester Großraumdisko

„Man ey, richtiger Idiot dieser Türsteher. Ich bin voll Achtzehn.“

Die ersten potentiellen Besucherinnen ziehen bereits eine Schnute. Eine hochgeschminkte Minderjährige nach der anderen dackelt beleidigt an der Schlange vor dem Club vorbei, in Richtung Heimat oder Happy-Hour-Bar. Weder das Pailletten-Kleid noch die angeklebten Wimpern haben geholfen. Um vor den immer noch wartenden Nachzüglern wenigstens den letzten Rest Würde zu behalten, meckern sie laut vor sich hin. „Was kann ich denn dafür, wenn meine kleine Schwester heute meinen Perso geklaut hat. Man ey, richtiger Idiot dieser Türsteher. Ich bin voll Achtzehn." Wir rauchen und beobachten die Türsteher. Diese verfahren offenbar nach dem bewährten Dorf-Prinzip: Wer volljährig ist und stehen kann, darf rein. In einem Auto mit Brandenburger Kennzeichen sitzen drei Mädchen und ziehen sich um. Wir lachen. „Lach mal nicht, komm mal lieber her." Ich gehe rüber und frage, ob man behilflich sein kann. „Ja klar, halt das mal. Und jetzt gib mal 'ne Kippe." Ich tue wie befohlen, halte einen Lockenwickler in der Hand und freue mich. Erstaunlich unprätentiös. „Geht ihr auch ins Matrix?" fragt sie und kippt Pfefferminzschnaps in ein leeres Behältnis, das verdächtig nach diesen Beuteln für Kochsalzlösung aus dem Krankenhaus aussieht. Ich nicke. Dann steckt sie sich den Tropf voller Pfeffi in den Schlüpfer. Ihre beiden Freundinnen schließen den Wagen ab, ich leg den Lockenwickler unschlüssig hinter einen der Autoreifen „Ich bin Altenpflegerin." sagt sie. „Wollen wir rein?" Ja, wollen wir.

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Der Matrix-Club in Berlin, standesgemäß an der Warschauer Brücke gelegen, ist unter anderem das Mekka der „Berlin Tag und Nacht"-Fans. Auf der bei Berlinern verhassten Brücke kann man sich schon mal warmkotzen, respektive warmprügeln, bevor man sich auf der Jagd nach Selfies mit den BTUN-Stars seine „extra Portion Endorphine" abholt (Eigenwerbung des Matrix). Ein Großteil der pseudorealistischen Show spielt nämlich in diesem Wodka Red Bull-Tempel und einige der Darsteller haben offensichtlich auch nach Feierabend noch nicht genug von dem Schuppen. Oder sie können einfach nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Wäre ihnen vielleicht sogar zu wünschen. Früher war ich oft hier. Wir waren jung und so, ihr wisst schon. Das Publikum bestand Größtenteils aus Lederjacken-Trägern mit Boxerschnitt und verpeilten Kiffern, wie wir es welche waren. Die wenigen Mädchen waren meist sehr früh sehr betrunken, weil sie sich pausenlos von allen auf Drinks einladen ließen. Diese Zeit führe ich heute immer noch an, wenn Menschen mir vorwerfen, ich hätte keine Ahnung von den Qualen einer Jugend auf dem Land. So muss sich das doch irgendwie anfühlen, oder? Irgendwann kamen wir dann nicht mehr rein, wir hatten angeblich zu oft Ärger gemacht. Dementsprechend graut mir vor dem heutigen Abend.

Drinnen angekommen der erste Schock: Die Typen sehen jetzt aus wie Joko Winterscheidt oder Daniel Aminati. Oder wie eine Mischung aus beidem. Wir haben unsere neue Begleitung nach wenigen Sekunden verloren, denn die Frauen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Wobei … hier tut man ihnen Unrecht, es gibt circa drei verschiedene Looks. Ist in irgendwelchen Szene-Clubs jetzt auch nicht anders, stimmt schon, aber die Unmassen an Schminke verhindern hier einfach, dass man die Mädels am Gesicht wieder erkennt. Also ab an die Bar. Nächste Beobachtung: Es gibt einen Clubfotografen und die Menschen drängeln sich reihenweise ins Bild. Clubfotografen sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Musik billig und der Alkohol schlecht ist (oder andersrum), so viel hab ich bereits gelernt in meinem Leben.

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Während von den Dancefloors das übliche Rummel-Gewummer herüberdröhnt und sich zwei Go-Gos in gelben Smiley-Badeanzügen auf der Bühne räkeln, beschließe ich, die Barkeeper zu schocken. I'm Prada, you're nada und so. Einstellungskriterium ist offenbar ein lila T-Shirt mit V-Ausschnitt, eine rasierte Brust und ein paar Kalligraphie-Tattoos. Das ist praktisch, dann können diese RTL2-Schauspieler hier anfangen, falls Sie aus der Serie geschrieben werden. Bestellt werden die üblichen Longdrinks, bekommen tut man einen Plastikbecher voller Eis mit irgendeinem Gemisch. "Hauptsache es knallt!" brüllt jemand und ich muss ihm zustimmen. Ich bestelle einen Isländer. Kennt keiner. Wusste ich. Ach du Fresse, bin ich schnöselig. Merkt auch der sichtlich überforderte Tresenangestellte. Also dirigiere ich ihn hin und her, bis ich Sambucca, Sektglas und Feuerzeug habe, zünde den Sambuca an, rieche an dem erhitzten Getränk, trinke ihn fast aus, kippe den Rest auf das umgedrehte Sektglas und zieh die warme Brühe durch die Nase. Ein Isländer halt. Der Barkeeper ist kurz davor, den Türsteher zu rufen. „Das war das letzte Mal" sagt er und bedient lieber eine Gruppe Karohemdenträger, die gerne einen Eimer mit Füllung hätten. Inhalt? Ist egal, Hauptsache Strohhalme. Es wird Zeit, die Umgebung auf sich wirken zu lassen.


Aus dem VICE-Netzwerk: Big Night Out: Ibiza:


Das Backsteingewölbe des Clubs hat den Charme eines mediterranen Restaurants in Bottrop-Kirchhellen. Und zwar bevor Christian Rach da war um nach dem Rechten zu sehen. Vor der Garderobe ist das Chaos ausgebrochen, also lasse ich die Bomberjacke an und gehöre damit automatisch zu dem Klientel, das nicht tanzt und von den Winterscheidt-Doubles gemieden wird. Neben mir zwei Mädchen, die sich von einem Hobby-Pumper im Piraten-Outfit keinen Drink ausgeben lassen wollen. „Wir nehmen nichts von Fremden." sagt die eine. Laden die sich also den ganzen Abend gegenseitig ein? Sehr mysteriös. Früher war das anders. Aber der Freibeuter hat eine adäquate Lösung für das Dilemma: „Ach so. Na sagt das doch. Ich bin der Marcel!"

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Ich quetsche mich an gewölbten Oberarmen und ausgestopften BH's entlang und gelange in einen Raum, der optisch einem Super-Mario-Bonus-Level gleicht. Kennt ihr das? Dieses Level in dem überall Goldmünzen sind und man hüpft nur sinnlos rum und ist total glücklich, weil man ununterbrochen Punkte sammelt? Jetzt müsst ihr euch nur noch vorstellen, dass ihr nicht alleine in diesem Raum seid, sondern noch weitere 500 Marios, Warios, Schildkröten, Prinzessinnen und Donkey Kongs. Und die Goldmünzen fehlen. Die Musik allerdings ist fast identisch. Neben mir eine leichte Rangelei, irgendwer fängt sich eine Backpfeife und kriegt eine Panikattacke, weil ihm dabei sein Handy aus der Hand gefallen ist. Der DJ dreht am Zeiger, ich bin überfordert, alles flackert. Und das ohne MDMA oder dergleichen. Ich checke das Abendprogramm auf meinem Smartphone, bin mir aber nicht sicher, ob gerade MC Caramel oder DJ EM-TEE spielen. Was ich weiß, ist dass die Veranstaltung „Berlin Insane" heißt. Ansonsten gibt es hier noch so wunderbare Party-Reihen wie „United Campus", „Generation Wild" oder „I LOVE 2 BANG!". Es riecht nach pubertärem Schweiß. Vier Typen, die alle wie Shindy aussehen kommen herein und kennen hier jeden. Vielleicht sind sie Shindy. Im Halbsuff bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob das jetzt vier Typen mit einer Frisur sind oder ein Typ mit vier Frisuren. Was solls. Ich zieh mich auf die Toilette zurück, normalerweise ein Hort der Kommunikation in Berliner Clubs. Fehlanzeige. Hier kann man nur mit der Klofrau reden. Aber nach einem kurzen Smalltalk muss sie einen Kiffer zurechtweisen: „Mach deine Kokain-Zigarette aus" schimpft sie und duldet weder Widerspruch noch einen Grundkurs in Drogenlehre.

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Im Gewühl taucht ein ehemaliger Fernsehmoderator auf, der am Tag zuvor gegen Zahlung von 7.000 Euro den Gerichtssaal als freier Mann verlassen durfte. Er hatte angeblich eine Klofrau mit Tränengas angegriffen. Ich denke kurz an meine ehemalige Gesprächspartnerin im weißen Kittel und bin beruhigt. Mit dem wird die fertig. Trotzdem bleibt bei soviel Langeweile um mich herum die Frage: Was macht der hier? Im Schlepptau hat er einen Modeblogger und andere Menschen, die das hier wahrscheinlich eher so ironisch abfeiern. „Guck mal, Proleten." Ich weiß es nicht, ist mir inzwischen auch Latte. Ich bin ja selber nicht viel besser. Obwohl, ich werd immerhin dafür bezahlt, vor Ort zu sein. Vielleicht ist es auch vollkommen egal, wo man sich betrinkt. Oder wie es die alten Sorben formulierten: „Feuchte Gesellschaft weicht dich bald ein." Ich will die Altenpflegerin mit dem Pfeffi-Beutel im Slip finden, die Barkeeper haben mir bei der letzten Bestellung zu viel Geld abgezogen, aber ich war zu faul zum Diskutieren. Deshalb strafe ich sie nun mit Missachtung, was sie offensichtlich total schockiert. Also gar nicht halt.

Auf der Tanzfläche ist eine Art BWL-Sodom und Gomorrha ausgebrochen. Einige wollen gar nicht tanzen, sie wollen nur durch, aber niemand bemerkt es. Also werden Sie zum Spielball der Massen und drehen sich jetzt unfreiwillig im Kreis. Die Käfige, eigentlich für professionelle Stripper und Stripperinnen gedacht, sind gefüllt mit angetrunkenen Außenseitern, die von ihren Freunden erst in das Gehege genötigt und nun mit dem Handy gefilmt werden. Die Menge grölt „I got a Hangover" und „Umbrella, …ella, …ella" oder zappelt ekstatisch zu diesem einen Song von Panjabi MC. Könnt ihr googeln, ich weiß den Songtitel nicht mehr.

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Ich breche meinen Bar-Boykott. Ein paar Schnaps später bin ich endgültig auf mich allein gestellt, und ich beginne zu realisieren dass ich wahrscheinlich einfach nur ein Stinkstiefel bin, der es gewöhnt ist, sich in doppelt so bescheuerten Schickimicki-Clubs mit Moskau Mule zu betrinken. „Jetzt hau dir halt ein paar Sangria-Eimer rein und tu so, als ob du auch gerade dein Taschengeld auf den Kopf haust um den Nebentisch mit deinem Wunderkerzen-Sektkühler zu beeindrucken," versuche ich mich selbst zu motivieren. Das Problem sind ja gar nicht mal die Menschen. Also allgemein schon, global betrachtet. Aber hier und heute, bin ich eigentlich ganz angetan von den einzelnen Erscheinungen. Irgendwie ganz amüsant. Teilweise auch wirklich nett. Aber diese Masse und dieser Herdentrieb, das macht die Leute irgendwie unsympathisch. Heiner Müller formulierte es einst wie folgt: „Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche." Und er hat natürlich recht.

Mein Handy piept. Ich werde per SMS zu einem Absacker in einer Bar eingeladen. Von exakt einem Deutschen. Das sind vier weniger als Fünf. Die Bar hat schwere Eichenschränke und einen Barkeeper im 20er Jahre-Outfit, der irgendwann immer mittrinkt. Ich sage zu und verabschiede mich mit einer ausladenden Geste bei sämtlichen Anwesenden. Als ich endlich am Ausgang angekommen bin, treffe ich die Altenpflegerin. Sie hat einen Ellbogen ins Gesicht bekommen, ist aber weiterhin gut gelaunt. Das nächste Mal will Sie zur Halloween-Party wiederkommen. „Sehen wir uns da?" Ich verneine. Ich mag Halloween nicht. Das ganze "Nimm keine Bonbons von fremden Onkels"-Prinzip wird zu Halloween komplett ad absurdum geführt und auf den Partys erkennt man niemanden. Also genau wie heute eigentlich. Vielleicht komm ich ja doch noch mal rum. Ich verspreche ihr, drüber nachzudenken, verlasse die Disko und bin entzückt über die in ihrer eigenen Kotze liegenden Alkoholleichen auf dem Kopfsteinpflaster. Endlich normale Leute.

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