FYI.

This story is over 5 years old.

Walls of Sound

Ein Leben fürs Diggen – Zu Besuch bei einem der grössten Vinyl-Sammler der Schweiz

Fünf Tonnen schwarzes Gold: Der Lausanner Vinyl-Sammler Rodolphe Lajude über seine Passion, seltene Platten und den Vinyl-Boom.

Diese Story aus der Serie "Walls of Sound" wird dir präsentiert von Basler Versicherungen.

Lausanne, die schöne Hauptstadt des Waadtlands, am nördlichen Genferseeufer gelegen, ist um einen Plattenladen reicher. Rodolphe Lajude eröffnete Anfang 2016 an der wohlklingenden Adresse Avenue de Beaulieu seinen kleinen und feinen Spezialitätenladen für ausgewählte Kunst auf schwarzem Gold. Nebst zahlreichen Raritäten aus vielen Genres bietet er im YouDooRight-Records auch einen Grundstock an populären Scheiben von 1960 bis in die 00er-Jahre an. Lediglich Neuerscheinungen finden in seiner Bibliothek kaum Platz. Wir trafen Rodolphe für ein Gespräch über sein Leben im Zeichen des Vinyls in seiner Privatwohnung und begleiteten ihn im Anschluss in seinen Plattenladen.

Anzeige

Beim Briefing für das Treffen mit Rodolphe Lajudie war noch unklar, ob der Termin wirklich stattfinden wird. Rodolphe konnte von der Redaktion nämlich einige Tage nicht erreicht werden. Infos über ihn sowie über seinen Laden gibt es nur wenige und die Öffnungszeiten beschränken sich auf einige Stunden zwischen Donnerstag- und Samstagnachmittag.

Schliesslich klappte doch alles wie geplant und ich begab mich mit Fotografin Mina im Schlepptau nach Lausanne. Ein letzter Rechercheversuch im Zug scheiterte mangels Informationen, die im Netz verfügbar sind. Einzige Erkenntnis: Eine französische Bulldoge ziert das Anzeigebild des Facebook-Auftritts. Wir fragen uns, was es damit wohl auf sich hat und ich meine lachend, dass ich die Frage stellen werde, ob der Laden bewusst so "Underground" gehalten sei. Eine weitere Frage, die uns auf der Hinfahrt beschäftigt, ist Rodolphes Alter. Wie alt muss man sein, um eine 6.000 Vinyl starke Plattensammlung sein Eigen nennen zu können? Wir schätzen ihn beide zu alt ein, wobei Mina mit "gegen 50" deutlich übers Ziel schoss.
Unser Zug hat rund 20 Minuten Verspätung; ich lasse es Rodolphe wissen. "Kein Problem", entgegnet er per SMS. Er komme uns am Bahnhof abholen und habe einen alten, roten Volvo-Kombi – für seine Vinylschieberei. Kurze Zeit später treffen wir in Lausanne ein, finden den roten Kombi und werden von Rodolphe herzlich begrüsst. Das erste Geheimnis lüftet sich gleich auf der Fahrt zu seiner Privatwohnung: Die süsse französische Bulldogge, das Logo, respektive Maskottchen von YouDooRightRecords sitzt hinten auf der Sitzbank des Autos. Sie heisst Lola.

Anzeige

Gleich zu Beginn der Autofahrt entschuldigt sich Rodolphe für die Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme: "Lola war krank, sie musste notfallmässig zum Arzt und dann war ich noch in der halben Schweiz unterwegs für ein paar Scheiben. Lola geht es nun wieder gut und die Scheiben habe ich gekriegt."

Ich nutze die Autofahrt gleich für meine etwas ironische Frage, nach der schwierigen Auffindbarkeit seines Ladens. Zu meinem Erstaunen gibt Rodolphe tatsächlich an, dass der Laden absichtlich so "versteckt" sei: "Zum einen ist das historisch bedingt, weil ich früher den Laden als Lager brauchte und dort nur Freunde empfing – damals sollte die Öffentlichkeit noch nichts darüber wissen. Zum anderen bin ich noch heute froh darüber, weil ich dadurch keine Idioten in meinem Laden habe und mich über ein sehr affines Publikum freuen darf."

Nach knapp fünf Minuten Autofahrt treffen wir in der Privatwohnung des leidenschaftlichen Vinylsammlers ein. Ein schöner Altbau, Stuck an der Decke, ein grosser Balkon. Im geräumigen Wohnzimmer der im schmucken Quartier Bellevaux gelegenen Wohnung befindet sich auch schon, was wir gesucht haben: 6.000 Scheiben Vinyl, schön gereiht in mehreren der legendären Ikea-Expedit-Regalen – die aber nach Wunsch des Sammlers schon lange hätten einer massgeschneiderten Lösung weichen sollen. Ebenso fallen zwei grosse Plattenspieler auf, die ausnahmsweise nicht von einem Mischer getrennt nebeneinander stehen, sondern sich an zwei verschiedenen Orten im Raum befinden. Nebst den Regalen des schwedischen Möbelgiganten ist das Zimmer schön und im Retro-Stil eingerichtet. Zu einem antiken Radiomöbel gesellen sich fünf weitere, teils mobile, ältere, teil auffallend schrille Design-Radios, die den Raum an verschiedenen Orten dekorieren.

Anzeige

Rodolphes Wohnung – ein Paradies für jeden Musikliebhaber. (Alle Fotos: Mina Monsef)

Rodolphe serviert Espresso in einer klassischen Bialetti-Kaffeekanne. Seine Hündin Lola sitzt brav daneben. Ich beginne das Gespräch damit, dass wir ihn aufgrund seiner Sammlung deutlich älter geschätzt haben. Lachend entgegnet er, dass er bereits mit 23 Jahren über eine gleich grosse Sammlung verfügte, wie er heute als 33-Jähriger bei sich zu Hause habe. Wir sind sofort beim Thema. Rodolphe erklärt mir, wie es mit dem Sammeln des schwarzen Goldes begann: "Ich habe aus einem praktischen Grund angefangen, Platten zu sammeln. Als etwa 15-Jähriger konnte ich die Plattensammlung meiner Mutter übernehmen. Eine kleine Sammlung aus 60er- und 70er-Rock und -Pop. CDs waren das neue Medium, doch für mich mit rund 30 Franken pro Disc nicht wirklich erschwinglich. Entweder hast du versucht, einen Track aus dem Radio auf Tonband aufzuzeichnen oder du hast dir Platten gekauft. Platten wollte zu dieser Zeit keiner mehr, doch jeder hatte noch Unmengen davon irgendwo rumstehen. Logischerweise konntest du dir Vinylscheiben für wenige Franken einzeln oder in grösseren Chargen zu absoluten Spottpreisen kaufen. Zu Beginn war ich lediglich ein Musikfreak, der sich aus finanziellen Gründen seine Musik auf Platten anstatt auf CDs kaufte. Mein Musikgeschmack war von Beginn an breit und ging von Acid-Jazz über psychedelisches, bis Hiphop und Garage – mit den Jahren wurde er immer breiter und so auch meine Sammlung."

Anzeige

Mit etwa 20 Jahren erweiterte sich sein bereits vorher breites Musikspektrum um ein weiteres Genre, das ihm bisher fremd war: Black Music. Er war fasziniert und eignete sich von da an entsprechend Werke aus diesem breiten Musikstil an. Die nächste nennenswerte Begeisterung fand Rodolphe einige Jahre später in afrikanischer Musik, die ihn wenig später auch zu brasilianischer und lateinamerikanischer Musik brachte. Obgleich der Lausanner bereits in frühen Jahren regelmässig als DJ unterwegs war, tat er dies nie als Genre-DJ sondern auch hier mit einer breiten Auswahl, die er präsentierte. Bis vor drei Jahren fand elektronische Musik, im Besonderen House und Techno, keinen Platz in seiner Sammlung. Das änderte sich schlagartig, als Rodolphe die 15.000 Vinyl schwere Sammlung eines bekannten DJs, dessen Namen er nicht nennen möchte, übernahm. In den letzten eineinhalb Jahren triagierte der Sammler davon einen Teil und führt ihn mittlerweile auch in seinem Laden. Die meisten Vinyls liegen aber noch fast unberührt im Keller seiner Mutter und warten sehnsüchtig darauf, den Weg in den Verkaufsraum zu schaffen, in Rodolphes privater Sammlung aufgenommen zu werden oder gemeinsam mit anderen Scheiben, als Paket, einen neuen Besitzer zu finden.

Obwohl der sympathische Lausanner einst bloss Platten kaufte, wie sich andere CDs besorgten, ist er mittlerweile nicht nur mehr Musikfreak sondern auch Vinylsammler. Aus purer Leidenschaft. Das merke ich schnell und eindrücklich. Seine Sammlung ist sehr breit und weisst Werke fast jeden Genres auf. Die Kollektion sei vielfältig, aber weise in vielen Bereichen keine grosse Tiefe aus, sagt er. Berücksichtigt werden bei dieser Aussage immer nur die sortierten Platten. Seine private Sammlung, die teilweise an der Grenze zu 10.000 Scheiben stand, hat sich mittlerweile bei der magischen Zahl 6.000 eingependelt. So magisch sei die Zahl zwar gar nicht, denn oft seien auch 6.000 Scheiben für zu Hause einfach zu viel, fügt er an. Weniger werden es trotzdem nicht. Auch das hyperradikale Aussortieren, das er sich selbst vorgeschrieben hat, hilft nicht viel weiter. So muss der Sammler zugeben, dass er sich wohl noch nicht ganz alle Platten seiner Sammlung zu Gemüte führen konnte.

Anzeige

Rodolphe mit seiner Dogge Lola.

Um sich das Ausmass Rudolphs kompletter und vielfältiger Kollektion schwarzen Golds vorstellen zu können, komm ich nicht drum herum, seine Sammlung in Zahlen festzuhalten: rund 6.000 Vinylscheiben weilen repräsentativ in seiner Privatsammlung zu Hause, rund 25.000 weitere befinden sich in seinem Store. Weitere 10.000 Vinyls lagern im Keller seiner Mutter und die letzten 4.000 Stück im eigenen. Insgesamt sind das rund 45'.00 Scheiben. Mit dem Wissen, dass es sich mehrheitlich um 12" Scheiben mit einem Gewicht von durchschnittlich gegen 140 Gramm – ohne Hülle – handelt, kommt man je nach Berechnungsweise auf ein Gesamtgewicht von fünfeinhalb bis sechseinhalb Tonnen.

Obwohl seine private Vinylkollektion nur noch langsam wächst, meint Rodolphe, er würde umziehen, sollte seine Sammlung einmal zu gross werden. Mittlerweile hat er mit dem Lager seines Ladens eine Ausweichmöglichkeit – dieses vergrössert er aber wöchentlich. Sein persönliches Wochenziel, das er im Durchschnitt erreicht, sind 500 neue Scheiben. Natürlich gibt es gelegentlich Grosskäufe von über 1000 bis gar 15'000 Platten. Dies sei leider sehr selten geworden. Sein ursprünglicher Beweggrund fürs Vinyl ist nämlich nicht mehr gegeben: der Preis. "Der Vinylhype macht die Menschen wieder zu Konservatoren, die alles behalten wollen. Keiner gibt mehr gerne und vor allem billig seine Sammlung ab – das hat meinen Job und die Suche nach neuem Material erheblich erschwert", sagt der 33-Jährige.

Anzeige

Noch hat Rodolphe nicht alle seine Platten gehört. Diese Latin-Platte aus dem Jahr 1982 legte er für uns auf.

Rodolphes Weg vom Musikfreak, zum Sammler bis hin zum Besitzer des neuesten und mittlerweile fünften Lausanner Plattenladens verlief progressiv. Bereits vor seinem Studium der Anthropologie und Soziologie an der Uni Lausanne, verkaufte er Vinylscheiben privat, um sich vom Erlös neue zu kaufen. Während des Studiums konnte er damit schon einen kleinen Nebenerlös erzielen. Plötzlich kam der glückliche Moment, in dem er in einem Gemeinschaftsraum, in dem Freunde von ihm unter anderem ein Record Label betreiben, eine eigene, abgetrennte Fläche mieten konnte. Das war der Grundstein für den heutigen YouDooRight-Record-Store. Zuerst verwendete Rodolphe den Raum als Lager, er hatte Platz für sechs bis maximal sieben Leute. Mittlerweile konnte er seine Ladenfläche verdoppeln und hat aus seinem Lager, in dem er nur Bekannte empfing, einen richtigen Plattenladen gemacht.

Die Öffnungszeiten des jüngsten Lausanner Plattenladens sind jedoch beschränkt: von Donnerstag bis Freitag ist er von 15.00 Uhr bis 19.00 Uhr geöffnet und am Samstag von 13.30 Uhr bis 18.00 Uhr. "Am Anfang gab es Probleme, mittlerweile verstehen es die Leute. Ich schmeisse den Laden alleine; ab und an hilft mir ein Freund. Ich kann neben meinen restlichen Aufgaben nicht mehr Zeit im Laden verbringen", verteidigt er seine kurzen Öffnungszeiten.

Das Verkaufen im Laden macht dem Musiknarr zwar Spass, besonders wenn Leute finden, was sie suchen. Mittlerweile kann Rodolphe auf eine treue Stammkundschaft zählen, die nebst anderen Musiknarren aus DJs sowie auch Produzenten besteht. Letztere seien oft auch nur auf der Suche nach speziellen Klängen oder Geräuschen, die sie verarbeiten können, meint er. Obschon Rodolphe kein Marketing betreibt, sieht er jede Woche neue Gesichter in seinem Laden – das Konzept scheint aufzugehen.

Anzeige

Klein aber fein: Der YouDooRight-Records-Store.

Mittlerweile ist der Lausanner vom breit bewanderten Musiknerd zum Experten für die Suche nach Musik auf Vinyl herangewachsen. So hat er ab und an auch schon seltene Exemplare auf Auftrag ausfindig gemacht. Rodolphe lebt für das Diggen, für das Suchen und Finden von Musik – sein Job ist das Verkaufen im Laden und die wenigen administrativen Arbeiten, die anfallen. Eine Abwechslung und ein Ausgleich zum Ganzen sind seine Auftritte als DJ, doch seine Passion ist und bleibt das Sammeln von Vinyl. Eine Arbeit, die laufend zeitintensiver und schwieriger wird – doch das tut der Passion von Rodolphe Lajudie keinen Abbruch.

Seine wertvollste Platte ist eine alte Blues-Scheibe. Sie stammt aus dem Jahr 1962 und ist vor allem aufgrund ihrer Seltenheit im Wert hoch. In tadellosem Zustand, so wie es seine ist, würde er dafür mindestens 4.000 Franken kriegen. Der bisher schmerzhafteste Verkauf war in seiner Studentenzeit, als er die Psyrock-Scheibe von The 13th Floor Elevator, die ihm sehr am Herzen lag, verkaufte. Es war eine seiner ersten Platten – Psyrock hat er generell nicht viel behalten. "Ich könnte mir die Platte eigentlich wieder holen, aber sie lag mir vor allem am Herzen, weil es eine der ersten war und weniger aus musikalischen Gründen – deswegen lasse ich es wohl bleiben. Man sollte sowieso nicht zu sehr an Materiellem hängen."

Von Rodolphe kann man lernen, wie vielschichtig die Faszination für Vinyl sein kann und wie man mit Faszination seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Zum einen ist da der Musikfanatiker, der ein Stück unbedingt in seinen Besitz bringen will, zum anderen versteckt sich hinter jeder Platte eine Geschichte und ein persönlicher Wert. "Einmal hatte ich eine Platte lange gesucht. Auf Discogs.com, der Plattform für Vinylhandel, gab es sie. Doch ich wollte sie selbst finden. Schliesslich fand ich sie in einem Laden in New York City – richtig authentisch. Es war Lie: The Love and Terror Cult von Charles Manson (Anm. d. Red.: amerikanischer Serien-Killer) – ziemlich verrückt. Manchmal ist die Geschichte aber auch traurig – beispielsweise wenn man die Sammlung einer verstorbenen Person ersteht. Manchmal musst du dir ein Vinyl für teures Geld kaufen, weil du es einfach haben musst. Das ist dann zwar weniger emotional, aber es schmerzt, weil du tief in die Taschen greifen musst", sagt Rodolphe lachend.

Für die Zukunft seines Ladens hat er keine grossen Pläne: Er will versuchen, eine Nachmittagseventreihe aufzuziehen und richtet dafür gerade eine kleine DJ-Booth im Store ein. Eventuell stehe mal eine weitere Vergrösserung an, meint er. Hauptsächlich will er sich aber weiterhin dem Diggen widmen. Hobbys hat er nämlich keine und braucht sie auch nicht: Er lebt für sein Vinyl.

Nach unserem ziemlich genau einstündigen Gespräch gibt es die ersten Fotos vor seiner beeindruckenden Kollektion. Auch Lola posiert artig mit und kann sich wohl bald von Hunde-Model-Aufträgen nicht mehr retten. Wir verlassen den schönen Altbau und steigen erneut in den roten Volvo. Dieses Mal ohne Hund. Beim Shop angelangt, halten wir mit Warnblinker auf dem Gehsteig und begleiten Rodolphe für die letzten Fotos in seinen Laden. Ein schöner, schlauchartig, langgezogener Raum, der randvoll mit ordentlich sortiertem Vinyl bestück ist. Um die untersten Scheiben zu durchforsten, sitzt du vorzugsweise auf den Boden und die oberen Reihen erreichst du wohl nur mit einem kleinen Steg. Gleich am Eingang springt mich eine knallbunte Platte an: Tanz mit dem Herzen, unversehrt, in Plastikhülle, aus dem Jahr 1982. Mit "Das Model" von Kraftwerk und was mich noch viel mehr interessiert und unübersehbar auf einem Post-It auf der Hülle des Vinyls steht: "Eisbär" – dem legendären Track von Grauzone. Kurzum schenkt mir Rodolphe die Scheibe, steht für die letzten Fotos Model und fährt uns im Anschluss wieder zurück an den Bahnhof Lausanne, wo ich mit dem Versprechen, ihn bald in seinem Laden wieder zu besuchen, verlasse.

Der Name YouDooRight-Records leitet sich vom fast gleichnamigen Titel vom Sänger Can ab. 
Rodolphe liess sich für uns dazu hinreissen, sich für einen aktuellen Lieblingsinterpreten zu entscheiden: er hat sich für Brian Eno entscheiden.


Dino auf Facebook Noisey Schweiz auf Facebook