Bei diesem Geburtsvorbereitungskurs bringt der Mann das Kind zur Welt
Illustration by Ben Thomson

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Geburt

Bei diesem Geburtsvorbereitungskurs bringt der Mann das Kind zur Welt

Ich wusste vorher, dass ich nicht sonderlich spirituell bin. Dabei zuzusehen, wie sich erwachsene Männer durch eine imaginäre Geburt stöhnen, sprengte trotzdem all meine Erwartungen.

Ich sitze mit überschlagenen Beinen in einem kleinen, stickigen Raum und beobachte acht Männer, die gerade dabei sind, ein Kind zur Welt zu bringen.

Eine Sache vorab: Es handelt sich hierbei nicht um ein skurriles wissenschaftliches Experiment mit dem Ziel, Männer zu schwängern. Viel mehr ist es eine Meditationsstunde, die Männern die Erfahrung der Geburt näherbringen soll. Der Workshop soll ihnen helfen, den Prozess der Geburt selbst zu durchleben, bis sie schließlich unter Qualen ein Baby aus ihrer Fantasie pressen.

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Zu Beginn sitzen alle Teilnehmer in einem Kreis auf dem Boden. Einige von ihnen scheinen zu meditieren, andere unterhalten sich und berühren sich dabei beiläufig. Bisher lächeln noch alle gelassen.

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Christine, unsere Kursleiterin aus Dänemark, legt ein Kissen auf den Boden, setzt sich zu uns in den Kreis und beginnt, den Ablauf zu erklären. Sie spricht in aller Ausführlichkeit darüber, wie Geschlechterkonstrukte unsere Gesellschaft spalten und dass wir im Leben immerzu nach Halt suchen. Ein Unterfangen, das ihrer Einschätzung nach vollkommen fruchtlos bleiben wird, solange wir "keinen Halt in unserem eigenen Körper finden."

Der Workshop fand zum ersten Mal im Rahmen eines queeren Festivals in Berlin statt, erklärt mir Christine im Anschluss an den Kurs. Ursprünglich war das Ganze eigentlich mal als tänzerische Choreografie gedacht, aber sie haben leider keine Förderer gefunden. "Und da war ich nun: die einzige Frau auf dem Festival, die in einem Raum voller nackter oder halbnackter Männer durch den Vorgang der Geburt führte."

Bei den Kursen geht es allerdings nicht nur um den Vorgang der Geburt. "Ich ermutige sie dazu, sich fallen zu lassen", erklärt sie. "Sie sollen sich selbst die Möglichkeit geben, sich zu bewegen. Im Grunde soll das Ganze dazu dienen, die Kraft der Natur in sich zu spüren, sich selbst zu reinigen und bewusst zu machen, was einen davon abhält, ein Leben als ganzheitliches Wesen zu führen."

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Ich überlege, nach einem spirituellen Kaiserschnitt zu fragen.

Christine nickt regelmäßig, schließt andächtig die Augen oder lächelt mitfühlend, während sie sich mit anderen unterhält. Wenn Männer die körperlichen Veränderungen und den Prozess der Geburt genauso erfahren können würden wie Frauen, sinniert sie vor der Gruppe, vielleicht wäre die Gesellschaft dann bereit, sich grundlegend zu verändern. Der Kurs beweist, dass es auch in einer Welt, die von Gewalt und Chaos beherrscht wird, Mitgefühl geben kann, erklärt sie stolz. Obwohl ich selbst einen schmerzlichen Mangel an Spiritualität verspüre, beginne ich, ihre Weltanschauung zu verstehen und zu respektieren.

Das war natürlich alles noch, bevor ich eine Horde Männer dabei beobachtet habe, wie sie unsichtbare Babys durch ihre imaginäre Vagina pressen.

Der Kurs beginnt sehr ernst: Wir bekommen die Anweisung, uns auf den Rücken zu legen. Im Hintergrund sind leichte Sprechgesänge zu hören. Christine wandelt um uns herum durch den Raum und gratuliert uns zu den neun Monaten Schwangerschaft, die nun hinter uns liegen. Sie beruhigt uns, dass jede Geburt einzigartig ist.

Dann erklärt sie uns, dass wir nun die erste Phase der Geburt durchlaufen werden und dass sich unser Muttermund langsam öffnen wird, während wir leichte Kontraktionen verspüren. Als sie mit den Fingern schnippt ist unser Muttermund mit einem Mal schon bei drei Zentimetern. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn ich meine Tage bekomme. Gott weiß, was sich die Männer wohl gerade vorstellen: Versuchen sie sich in Erinnerung zu rufen, wie schmerzhaft es sein kann, wenn man Verstopfung hat?

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Christine schnippt erneut: Nun sollen wir uns vorstellen, wie sich der Schleim vor unserem Muttermund lockert und Flüssigkeit aus unserer Vagina zu tropfen beginnt. Unser Muttermund erreicht dabei langsam die sieben Zentimeter. Wir werden immer wieder daran erinnert zu atmen. Mit der Zeit durchdringt ein immer lauter werdendes Stöhnen die Ruhe in dem kleinen Raum. Ich ziehe meine Knie an den Körper heran und versuche, eine Gebärposition einzunehmen, wie ich sie aus Filmen kenne. Ich sehe, dass die anderen dasselbe machen.

Die Sprechgesänge im Hintergrund werden immer lauter, während uns Christine erklärt, dass der Schmerz immer intensiver wird, je stärker die Wehen werden. Die Männer beginnen immer lauter zu stöhnen. Die imaginären Qualen scheinen manchen von ihnen regelrecht den Atem zu rauben. Einer der Männer lehnt mit weit geöffneten Beinen an der Wand. Er schwitzt sichtbar und sinkt immer weiter in die Hocke.

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Wir sind mittlerweile bei zehn Zentimetern. Das Stöhnen und Jammern wirkt schon jetzt ziemlich bedrohlich. Christine ist dazu übergangen, durch die Reihen zu gehen und den Männern den unteren Rücken zu massieren – so wie sie es als spirituelle Hebamme gelernt hat. Wir sollen pressen. Aus dem lauten Stöhnen wird ein einziger großer Schrei. Der Mann zu meiner Linken umklammert seinen Bauch mit beiden Händen und wiegt sich hin und her. Der Mann zu meiner Rechten hat es hingegen allem Anschein nach geschafft einzuschlafen.

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Das Baby – genauer gesagt die Babys, denn Christine sagt, unserem Gefühl nach könnten es auch Zwillinge werden – beginnt in den Geburtskanal abzusinken, während wir das vierte Stadium der Geburt erreichen. Ich überlege an dieser Stelle kurz, nach einem spirituellen Kaiserschnitt zu fragen. Wir sollen uns Zeit nehmen und mit der Geburt warten, bis es sich richtig anfühlt, sagt Christine. Es könnte sehr schnell gehen oder auch überhaupt nicht passieren.

"Es sind ein Junge und ein Mädchen!", ruft einer der Männer.

Sein Vorfahr hatte eine Warze am Kinn und er konnte sie spüren. Das hat ihn beruhigt.

Nachdem wir endlich alle unser imaginäres Kind in den Armen halten, erklärt uns Christine, dass wir unsere Babys eng an unsere Brust drücken sollen, um sie zu beruhigen. Christine kommt zu mir und beginnt, sanft meinen Bauch zu massieren. Es fühlt sich ziemlich gut an. Ich halte die ganze Zeit über meine Hände vor die Brust und tue so, als hätte ich ein kleines Baby in den Armen.

Zum Schluss setzen wir uns alle wieder zurück in den Kreis. Unsere unsichtbaren Babys haben wir wortlos entsorgt. Zeit, über unsere Geburtserfahrungen zu sprechen. Einige der Männer weinen, andere wirken einfach nur ein wenig entrückt. Eine Frau erzählt, dass sie schon zwei Kinder hat. Doch aufgrund von Komplikationen sind beide per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Für sie war die Meditation eine sehr wertvolle Erfahrung.

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Nach ihr meldet sich ein Mann zu Wort und erzählt, dass er die Geburt tatsächlich körperlich spüren konnte. Ich muss mir vorstellen, wie eine Frau, die 48 Stunden lang in echten Wehen lag, den Raum betritt und ihm den Kiefer bricht.

Ein anderer sagt, dass er sich seiner Frau nun noch näher fühlt. Die Beiden versuchen gerade, ein Kind zu bekommen. Als er das der Gruppe anvertraut, beginnt er zu weinen. Während er immer wieder über sein Kinn streicht, erklärt er uns, dass er während der Meditation das Gefühl hatte, einen Knubbel an seinem Kinn zu spüren. Er ist überzeugt, dass er die Warze seines Vorfahren spüren konnte, die ihm während der Geburt Trost spenden sollte.

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Ich spreche Christine später noch einmal darauf an. "Sein Vorfahr hatte eine Warze am Kinn und er konnte sie spüren. Das hat ihn beruhigt", antwortet sie nüchtern. Alles klar.

Christine ist eine selbsterklärte "Lichtkriegerin" und sagt, dass es bei einer solchen Erfahrung vor allem darum geht, "die Verbindung zu einer fundamentalen Lebenskraft herzustellen, welche weit über Konstrukte wie Geschlecht oder sexuelle Orientierung hinausgeht".

Auf meine Frage, wie der Workshop von den Leuten aufgenommen wird, erzählt sie mir, dass die meisten Männer eine sehr wertvolle und emotionale Erfahrung machen. Ein ehemaliger Teilnehmer, Andreas, hat ihr nach einem Kurs mal geschrieben: "Du hast die Grenzen ins Unbekannte eingerissen. Du hast das Unmögliche möglich gemacht."