Auch bei VICE: Polens Freizeitkämpfer
Ursuleanu gehörte zu den wenigen Glücklichen, die im Ausland behandelt wurden und überlebten. Sie verbrachte fast drei Monate komatös in einem Wiener Krankenhaus. Später, im Sommer 2016, deckte der Journalist Cătălin Tolontan einen Skandal auf: Das Unternehmen Hexi Pharma belieferte rumänische Krankenhäuser seit zehn Jahren mit verdünnten Desinfektionsmitteln, die kaum wirksamer waren als Spülmittel, was unzählige vermeidbare Infektionen und Todesfälle verursachte. Ein weiterer Fall skrupelloser Geschäftemacherei, der die Bürger in Rage versetzte. Der Chef von Hexi Pharma starb in der Nacht vor seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft in einem Autounfall, was Spekulationen um Korruption auf noch höheren Ebenen anfachte.
Marinescu spricht aus Erfahrung. Vor zehn Jahren schlug ihn die Bukarester Polizei nach einem Streit mit einem Taxifahrer brutal zusammen. Sein Fall wurde acht Jahre lang verschleppt und erst bearbeitet, als er damit vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zog, der zu seinen Gunsten entschied und ihm 7.500 Euro Entschädigung zusprach. 2013 hatte er ein weiteres einschneidendes Erlebnis mit dem System, nachdem er mit Kollegen einen Architekturpreis zur Umgestaltung des zentralen Platzes der Stadt Râmnicu Vâlcea gewonnen hatte. Der Bürgermeister der Stadt rief nachts an, um ein Treffen zu vereinbaren. Offenbar wollte er einen Teil der Geldprämie. "In Rumänien ist das nichts Ungewöhnliches. Wenn ein Bürgermeister sich merkwürdig verhält, weiß man gleich, was los ist", lacht Marinescu. Seine Freunde rieten davon ab, doch er nahm an einer verdeckten Ermittlung teil, die den Bürgermeister für vier Jahre ins Gefängnis brachte.Rumäniens Nationale Antikorruptionsbehörde DNA lehrt die Mächtigen das Fürchten, indem sie Tausende Politiker, Oligarchen, Firmenchefs und Multimillionäre anklagt.
Die Redaktion steht allen unabhängigen Journalisten der Stadt offen. Eines Abends werde ich Zeuge, wie eine studentische Praktikantin von einem Mitglied des Kollektivs ihren ersten Auftrag bekommt. Ihr Traum, Journalistin zu werden, geht endlich in Erfüllung. Sie sitzt mit einer angebrochenen Dose Bier an ihrem Schreibtisch, reißt die Arme hoch und jubelt: "Ja! Ich hab eine Story! Ich hab eine Story!"Ursulean erzählt mir: "Meine Arbeit besteht zurzeit vor allem darin, Geld abzulehnen. Von Unternehmern, Politikern, Oligarchen, anderen Zeitungen. Sie brauchen frischen Wind in ihren Redaktionen und versuchen, uns mit Geld zu ködern." Auf meine Frage, warum er das Geld nicht annehme, erwidert er: "Das ist schmutziges Geld. Sauberes Geld kommt nur von den Abonnenten. Die sagen sich: 'Diese Story hat mein Leben verändert. Ich möchte dazu beitragen, das Leben anderer Menschen zu verändern.'" Bevor er dem System den Rücken kehrte, war Ursulean jahrelang Teil des journalistischen Mainstreams. Gerade hat er in Boston einen kurzen Aufenthalt am New England Center for Investigative Reporting beendet. Dort kam er bei der Arbeit an einer Story über Fracking in Osteuropa zu dem Schluss, dass so etwas von Bukarest aus viel besser geht.Meine Arbeit besteht zur Zeit vor allem darin, Geld abzulehnen. Von Unternehmern, Politikern, Oligarchen, anderen Zeitungen. Sie brauchen frischen Wind in ihren Redaktionen und
versuchen, uns mit Geld zu ködern.
Einige der wichtigsten Enthüllungen von Casa haben Schlaglichter auf das korrupte Gesundheitssystem geworfen. Dank einer umfangreichen, dreiteiligen Reportage von Luiza Vasiliu konnte Rumäniens bekanntester Arzt für seine experimentellen und schädlichen Operationen an Kindern endlich vor Gericht gestellt werden. Vor zehn Jahren habe ich den unglaublich düsteren Film Der Tod des Herrn Lazarescu gesehen, in dem ein Rentner wegen leichter Beschwerden im Krankenhaus landet, dort durch die Hölle des rumänischen Gesundheitssystems geht und schließlich stirbt. In Rumänien wird klar, dass der Film ziemlich realitätsnah ist. "Wir haben hier so eine Redensart", spottet Bărbulescu, mein Übersetzer. "'Mit einer Kleinigkeit ins Krankenhaus gehen und tot wieder rauskommen.'"Die Piața Victoriei steht für den Protest der Städter, hier dagegen versammelt sich die Arbeiterklasse aus der Provinz. Männer in Arbeiterkappen und Schiebermützen lärmen mit
Lufthupen und Vuvuzelas und skandieren: "PSD! PSD!"
Nacheinander betreten PSD-Funktionäre in roten Overalls die Bühne und bearbeiten das Publikum: "Gute Morgen, Freunde! Wir unterstützen die Regierung! Diese Regierung setzt sich für Rumänen ein, nicht für Ausländer! Unsere Gegner sind schlechte Verlierer!" Nach der Kundgebung marschieren die Menschenmassen zwei Stunden lang im Regen durch die Stadt. Anwohner in heruntergekommenen Hochhäusern schwenken von den Balkonen rote Schals. Eine Grundschullehrerin meint, die PSD sei beliebt, weil sie die Löhne erhöhe und "an das Volk denkt".Mir fällt wieder ein, was der Philosoph Sorin Cucerai mir über 1989 erzählt hat: „Die Demonstration, an der ich am 21. Dezember 1989 teilgenommen habe, war ein Protest der urbanen Elite. Am nächsten Tag riefen die Industriearbeiter in Bukarest zum Generalstreik auf. Mich hätte Ceaușescu als 'Konterrevolutionär' oder 'kriminelles Element' ohne Zögern erschießen lassen, aber mit den Arbeitern konnte er das nicht machen, schließlich war er Kommunist. Also versuchte er zu fliehen. Der Generalstreik war in Wirklichkeit die erfolgreichere Protestaktion. Fragt man aber die Menschen – fragt man mich – dann war ich der wahre Rebell, denn ich war zuerst da, und auf mich hätte Ceaușescu schießen lassen. Es gibt zwei sehr verschiedene Kräfte, die Ceaușescu gestürzt haben. Die urbane Elite tendierte zur Demokratie und zum Westen und stimmte für die neu gegründeten liberalen Parteien, während die Arbeiterklasse die Nationale Rettungsfront wählte [die das postkommunistische Rumänien dominierte]. Seit 27 Jahren besteht dieses Land eigentlich aus zwei Ländern, die einander entweder ignorieren oder hassen."Welche Ziele die Opposition verfolgt und wie sie sich entwickeln wird, ist noch unklar. Die demokratisch gewählte Regierung wollen sie nicht stürzen. Sie verstehen sich als gebildete, moderne Europäer und wollen anstelle der korrupten politischen Klasse "ehrliche Menschen" in der Regierung sehen.