Die Wahrheit über den "Einwanderermob" von Schorndorf
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Die Wahrheit über den "Einwanderermob" von Schorndorf

Wir haben mit der Polizei gesprochen. Und Schülerinnen, die vor Ort waren.

Es ist wieder passiert: Horden von Asylbewerbern haben sich zusammengerottet, um ein deutsches Volksfest zu sprengen, deutsche Polizisten anzugreifen und deutsche Mädchen anzugrapschen. Das ist zumindest die Geschichte, die gerade in den sozialen – und einigen anderen – Medien kursiert: "Massenkrawalle in Schorndorf: Einwandermob sprengt Volksfest", titelt die Junge Freiheit, "Die dunkle Nacht von Schorndorf", schreibt die FAZ.

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"Das ist doch wieder GENAU DAS GLEICHE wie in Köln", schäumt die rechte Kolumnistin Anabel Schunke auf ihrem Facebook-Profil. "Da rotten sich an die 1000 (!) Männer, nach Angaben von Zeugen und Polizei mehrheitlich Männer mit Migrationshintergrund, also höchstwahrscheinlich Asylbewerber, in einem Park im kleinen Schorndorf zusammen und randalieren."

Aber was ist eigentlich passiert? Ist Schorndorf, ein kleiner Ort in der Nähe von Stuttgart, wirklich das neue Köln?

Was zuerst in der Öffentlichkeit ankam

Tatsache ist, dass das Polizeipräsidium Aalen am Sonntagnachmittag eine Pressemitteilung veröffentlichte, in der es von einem Großeinsatz bei der diesjährigen Schorndorfer Woche, kurz "SchoWo", berichtete: Demnach hatten sich in der Nacht zum Sonntag "ungefähr bis zu 1.000 Jugendliche und Junge Erwachsene" im Schorndorfer Schlosspark versammelt. "Bei einem großen Teil handelte es sich wohl um Personen mit Migrationshintergrund", heißt es in der Meldung weiter. "Hierbei kam es zu zahlreichen Flaschenwürfen gegen andere Festteilnehmer, Einsatzkräfte und die Fassade vom Schorndorfer Schloss." Die Polizei musste "Schutzausstattung" anziehen, um die Situation unter Kontrolle zu kriegen.

Außerdem seien in derselben Nacht noch zwei Polizeiautos beschmiert, eines mit einer Flasche beschädigt und an sechs anderen Autos die Kennzeichen abmontiert worden. Und: Später seien dann noch "mehrere Gruppierungen mit circa 30-50 Personen" durch die Innenstadt gezogen, einige der Männer seien mit Messern bewaffnet gewesen. Woanders in der Stadt schoss jemand mit einer Schreckschusswaffe in die Luft. Am Freitagabend wurden drei Fälle von sexueller Belästigung auf dem Fest gemeldet, in einem Fall konnte ein Iraker als Verdächtiger ermittelt werden. Am Samstagabend nahm die Polizei dann drei Flüchtlinge aus Afghanistan fest, die eine 17-Jährige festgehalten und ihr an den Hintern gefasst haben sollen.

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Zusammengenommen klingt das wirklich dramatisch. In den sozialen Medien verbreitet sich die Polizeimeldung am Sonntagabend und Montagmorgen wie wild. Bis das Thema Montagvormittag von überregionalen Medien aufgegriffen wurde, war für viele Twitter-Nutzer bereits klar, dass hier wieder ein riesiger Skandal vertuscht werden soll. "Der Umgang der öffentlich-rechtlichen Medien mit #Schorndorf würde Schnitzler und Goebbels vor Neid erblassen lassen!", schreibt ein Nutzer mit AfD-Logo als Profilbild auf Twitter.

Was an den empörten Asylkritikern vorbeigegangen war: Schon am Montagmorgen hatte die Polizei ihre Schätzung nach unten korrigiert, der Anteil der Migranten in der Menge habe "unter 50 Prozent" gelegen. Auch der Schorndorfer Oberbürgermeister Matthias Klopfer hatte dem SWR morgens ein Radio-Interview gegeben, in dem er erklärte, "der Großteil" der Menschen in dem Park seien "Abiturienten und Realschüler" gewesen. Bei einer Pressekonferenz am Montagmittag wollte sich dann auch der Aalener Polizeipräsident Roland Eisele nicht mehr darauf festlegen, dass es sich zum "großen Teil" um Menschen mit Migrationshintergrund gehandelt habe. "Also, jetzt zu sagen, dass sind 50 Prozent mit Migrationshintergrund – mit solchen Zahlen muss man vorsichtig sein, weil man sie einfach überhaupt nicht verifizieren kann", sagte Eisele auf Nachfrage.

Eisele besteht jedoch darauf: Die Aggression, die den Polizisten aus der Menge entgegengeschlagen sei, habe man in Schorndorf "noch nie gekannt". Auch der Sprecher der Aalener Polizei, Ronald Krötz, bestätigte gegenüber VICE, es habe im Schlosspark eine "sehr angeheizte Stimmung" geherrscht.

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Aber was lässt sich verifizieren? Was haben Leute erlebt, die dabei waren?

Was Besucher sagen

"Das war ein friedlicher Abend", sagt Maike zu VICE. Die 16-jährige Schülerin aus der Schorndorfer Umgebung saß bis kurz vor Mitternacht mit ihren Freunden im Schlosspark. Sie sagt, sie habe von den "Krawallen" überhaupt nichts gemerkt. "Ich will nicht sagen, dass ich die ganze Lage im Blick hatte, aber ich war in der Mitte vom Schlosspark, und ich habe keine einzige Person getroffen, die aggressiv war oder Flaschen geworfen hat. Irgendwann haben wir mal ein paar Jugendliche von Polizisten wegrennen sehen, aber niemand wusste, warum."

Maike erzählt, der Abend sei so verlaufen wie in den Jahren davor auch: Die Schüler aus der Gegend haben sich im Schlosspark versammelt, um in ihren Cliquen Musik zu hören und "bisschen was zu trinken". Das Publikum, sagt Maike, sei auch das gleiche gewesen: "Ich habe in der Dunkelheit auch nicht jeden erkannt, aber der größte Teil waren Leute von 14 bis 20, die auf meine Schule oder andere Schulen hier gehen", berichtet sie. "So eine Gruppe von Migranten oder so habe ich ehrlich gesagt gar nicht gesehen – das heißt natürlich nicht, dass die nicht da waren."

Graffiti an der Schorndorfer Schlossmauer: "Wage es, selbst zu denken." | Foto: imago | 7aktuell

Um kurz vor Mitternacht ging sie nach Hause – und erfuhr am nächsten Tag zu ihrer Überraschung, dass sie sich die ganze Zeit mitten in einem riesigen Krawall befunden haben soll. "Ich habe gelesen, da wären Tausende Randalierer in dem Schlosspark gewesen – dabei waren 95 Prozent der Leute komplett friedlich", sagt Maike. "Ich kann mir vorstellen, dass es einzelne Ausschreitungen gab, aber das müssen auch keine Migranten gewesen sein. In den Jahren davor, als hier in Schorndorf noch gar keine Flüchtlinge waren, gab es bei der SchoWo immer ein paar Ausschreitungen. Nichts mit Messern oder so, aber es war schon immer so, dass da ein paar aggressive Jugendliche waren."

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Ihre Freundin Vera war bis kurz vor 1 Uhr morgens im Schlosspark – und ist gegangen, weil es langweilig wurde. "Kurz nach 12 wurde es immer leerer, da war mehr als die Hälfte eigentlich gegangen", sagt sie. "Wenn irgendwas passiert ist, muss das vorher passiert sein – aber wir haben von Unruhen nichts mitbekommen." Der Abend sei genauso ruhig gewesen wie im Jahr davor. Trotzdem habe sie einmal kurz Angst bekommen: als ein Flugzeug über dem Park mit lautem Knall die Schallmauer durchbrach. Von Gruppen von Fremden oder Flüchtlingen habe sie nichts bemerkt. Um sie herum seien vor allem "sehr viele Schüler" gewesen – "die meisten kannte ich aus der Schule".

Und was war mit den marodierenden Banden, die mit Messern und Schreckschusspistolen durch die Stadt zogen? "Ich kenne viele Leute aus der Gegend, die da waren, und keiner hat irgendwas von Waffen oder ähnlichem mitbekommen", sagt Maike. "Ich sage nicht, dass es nicht passiert ist – aber es hat keiner von uns gesehen."

Was die Polizei sagt

Der Pressesprecher Ronald Krötz bestätigt zwar die Details der Pressemitteilung, will aber nicht mehr von einem "großen Teil" von Menschen mit Migrationshintergrund sprechen ("einfach ein Teil, so kann man das vielleicht sagen").

Was aber trotzdem deutlich wurde: Die Dinge, die die Polizei beschrieben hat – Grapschereien, Flaschenwürfe auf Polizisten, beschädigte Polizeifahrzeuge und Gruppen, von denen einzelne bewaffnet waren – sind wohl alle passiert. Allerdings eben keinesfalls zur gleichen Zeit am gleichen Ort, und vor allem fast alle nicht im Schlosspark.

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Was im Schlosspark passiert ist: Die Polizei bekam Meldungen, dass jemand eine Flasche auf jemand anderen geworfen hatte, außerdem seien Flaschen gegen das Schloss geworfen worden. Als die Beamten dorthin kamen, wurden sie "aus der Anonymität der Masse heraus von einer gewissen Anzahl von Leuten, die wir jetzt nicht zahlenmäßig benennen können", ebenfalls mit Flaschen beworfen. Wegen dieses "massiven Flaschenbewurfs" zogen sich die Kräfte zurück, um sich Schutzkleidung anzuziehen. Als sie wieder in den Park kamen, sahen sie einen Betrunkenen, der einen anderen Gast angriff. Als sie ihn festnehmen wollten, habe der sich "massiv gewehrt", und dann seien ihm andere zur Hilfe gekommen. "Das war übrigens ein deutscher Staatsangehöriger", ergänzt Krötz. "Die Solidarisierung hatte offensichtlich nicht mit seinem Freundeskreis zu tun gehabt, sondern das waren die, die bereits zuvor Flaschen geworfen haben und die Polizei einfach als Feindbild ausgemacht haben. Ein Kollege musste sich dann mit Androhung von Pfefferspray und Schlagstock schützen."

Als die Beamten den Störenfried schließlich herausziehen konnten, wurden sie auch beim Abgang mit Flaschen beworfen. "Die Kollegen waren schon schockiert, weil sie das von diesem Fest nicht kennen, dass da so vorgegangen wird", sagt Krötz. Deshalb sei dann Verstärkung gerufen worden.

Diese Auseinandersetzung rund um eine Verhaftung war aber offenbar alles, was an dem Abend im Schlosspark passiert ist. Die anderen Vorgänge ereigneten sich völlig unabhängig davon, zu anderen Zeiten und an anderen Orten. Die einzige sexuelle Belästigung am Samstagabend (durch die drei Afghanen) geschah auf dem Festgelände, nicht im Schlosspark. Die Polizeiautos wurden irgendwann im Laufe der Nacht heimlich und unbemerkt beschädigt. Und die zwei Gruppen, die später durch die Stadt zogen und aus denen offenbar einer einen Schuss mit einer Schreckschusspistole abgegeben hat, wurden zwar von Zeugen gesehen – hatten sich aber offenbar schon verdrückt, als die Polizei sie suchte. Angegriffen haben diese Gruppen jedenfalls niemanden mehr.

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Fazit

Was am Samstagabend alles in Schorndorf passiert ist, wissen wir immer noch nicht genau. Aber wir wissen, was nicht passiert ist: Es gab keinen "Einwanderermob", der ein Volksfest sprengt und tausendfach Frauen belästigt. Und es gab auch keine riesigen "Krawalle" im Schlosspark, bei denen 1.000 Menschen die Polizei angriffen.

Es gab: einen besoffenen Deutschen, der einen anderen verprügeln wollte und festgenommen wurde, und offenbar eine Gruppe von Leuten, die Stress machen wollten. Gut möglich, dass diese oder andere später ihren Frust an unbewachten Polizeiautos ausgelassen haben, vielleicht gab es auch irgendeinen Streit, sodass zwei Gruppen von Leuten nachts noch durch die Stadt zogen und sich gegenseitig suchten. Mit den sexuellen Belästigungen hat das alles offenbar nichts zu tun.

Warum die Aalener Polizei beschloss, alle diese separaten Ereignisse in einer Pressemitteilung so zu vermengen, dass sich daraus ein düsteres Bild ergibt, ist unklar. Offensichtlich waren die im Schlosspark eingesetzten Beamten wirklich geschockt, dass sie aus einer Teenie-Party heraus plötzlich mit Flaschen beworfen wurden. Dass daraus dann "schwere Krawalle" wurden, liegt vielleicht eher an den Nachwehen vom G20-Gipfel in den Köpfen als an der Realität. Warum in der Pressemitteilung davon die Rede war, dass es sich bei den 1.000 Schlosspark-Sitzern vor allem um Leute mit Migrationshintergrund gehandelt habe, ist auch nicht nachzuvollziehen.

Unser Gespräch mit dem Polizeisprecher Ronald Krötz könnte aber einen Hinweis enthalten, warum die erste Pressemitteilung so alarmistisch formuliert war: "Was passiert ist zu rekonstruieren, ist unheimlich schwer, weil die Kollegen von der Bereitschaftspolizei ja jetzt nicht mehr im Dienst sind, weil sie eine Nachtschicht hatten", erklärt Krötz. Was soviel bedeutet wie: Derjenige, der die Pressemitteilung geschrieben hat, war selbst nicht im Schlosspark und hat vorher womöglich nie direkt mit den Kollegen gesprochen, die im Einsatz waren. Und so wurde aus einer ungemütlichen Situation mit Flaschenwürfen und anderen verstreuten Delikten schließlich ein "Einwanderermob", der ein deutsches Volksfest gesprengt hat.

Update: Die Polizei hat ihre ursprünglichen Angaben zu den Vorfällen auf dem Schorndorfer Volksfest mittlerweile korrigiert: Die Pressemitteilung sei missverständlich formuliert gewesen. Nach der neuen "vorläufigen Bilanz" standen in der Nacht zu Sonntag nicht 1.000 Menschen, sondern etwa 100 Jugendliche und junge Erwachsene der Polizei feindselig gegenüber.

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