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Sex

So lebt es sich mit einer Berührungsphobie

AJ ist 23 Jahre alt und hat extreme Angst vor Körperkontakt. Er erzählt, wie sich dieser Umstand auf seinen Alltag und sein Liebesleben auswirkt.

Foto: Danielle Elder | Flickr | CC BY 2.0

Haphephobie ist der Fachausdruck für die Angst, andere Personen zu berühren oder selbst berührt zu werden. Egal ob nun bei Fremden, bei guten Freunden oder bei Beziehungspartnern, Menschen mit Haphephobie finden Berührungen extrem unangenehm, ja sogar fast unerträglich. Im Normalfall haben sie keine Angst davor, sich mit irgendetwas anzustecken (das bezeichnet man als Mysophobie), sondern sind nur sehr auf den persönlichen Abstand bedacht.

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Um herauszufinden, wie es sich mit Haphephobie lebt, haben wir mit dem 23-jährigen Grafikdesigner AJ gesprochen. Er hat uns erzählt, wie er seine Angst das erste Mal bewusst wahrgenommen hat, wie das Ganze sein Liebesleben beeinflusst und wie oft er andere Menschen vor den Kopf stößt, weil er sie nicht berühren will.


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Wenn mich jemand berührt, dann tut das weh. Besser kann ich es nicht beschreiben. Bis vor Kurzem konnte ich mich noch an jede Gelegenheit erinnern, in der ich von anderen Menschen berührt worden bin – wo genau ihre Hand auf meiner Haut lag und wie ich das Ganze hätte verhindern können. Ich hatte all das noch im Gedächtnis, weil ich immer total panisch werde, wenn mir jemand zu nahe kommt. Wenn mich jemand anfasst, dann brennt es fast und ich kann die Berührung noch lange spüren. Ich komme mir verletzt vor, bis ich mich auf etwas Anderes konzentriere. Ein Freund hat mir letztens erzählt, wie lustig es aussieht, wenn ich mich durch eine Menschenmenge bewege. Ich verdrehe mich dabei immer ganz elegant, um wirklich keinen anderen Menschen zu berühren.

So ergeht es mir schon mein ganzes Leben. Aber erst als während meiner Schulzeit dieses verdammte "Free Hugs"-Video erschien, wurde mir bewusst, dass ich ein Problem hatte. Später stieß ich bei der Recherche für eine Psychologiearbeit auf den Begriff Haphephobie. Ich wollte direkt allen zeigen, dass ich an einer echten Krankheit leide.

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Meine Eltern hatten nur Spott für mich übrig und sagten, dass Menschen Berührungen bräuchten. Sie selbst haben ihre Liebe trotzdem nie wirklich körperlich gezeigt. Und auch meine Urgroßmutter mütterlicherseits wurde insgeheim als die "große Unantastbare" bezeichnet. Sie und meine Eltern haben mich in meinem gesamten Leben nur ein paar Dutzend Mal umarmt. Küsse auf die Wange gab es noch nie. Als ich klein war, hörte ich zufällig mit, wie sich meine Mutter am Telefon darüber ausließ, wie ekelhaft Familien seien, in denen die Kinder geküsst werden. Ich habe nie daran gezweifelt, dass meine Eltern mich lieben. Bloß sind Berührungen halt nicht so ihr Ding.

Dass ich nicht berührt werden will, bedeutet nicht, dass ich keinen Sexualtrieb habe.

Die Haphephobie wirkt sich natürlich auf meine zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Ich habe aber den Eindruck, dass Frauen damit besser umgehen können als Männer. Vielleicht liegt das daran, dass sie eine Sache direkt merken: Ich bin nicht an Sex interessiert. Oft halten sie mich direkt für schwul. Ich weiß nicht, wie Frauen sich fühlen. Aber es hat den Anschein, als ob sie ständig damit rechnen müssen, dass irgendwelche Typen sie angrabschen wollen. Und das klingt wie die Hölle.

Dass ich nicht berührt werden will, bedeutet nicht, dass ich keinen Sexualtrieb habe. Ich lebe ihn bloß nicht aus, wenn ich mich nicht extrem wohl fühle. Einmal nahmen Freunde und ich ein betrunkenes Mädchen mit nach Hause. Laut ihnen taten wir das, weil sie nicht mehr fahren konnte. Ich checkte nicht, dass sie mich einfach nur mit ihr verkuppeln wollten. Für genau solche Momente trug ich jedoch einen falschen Ehering. Ich erzählte dem Mädchen, dass ich verheiratet sei und sie auf der Couch schlafen könne. Ich selbst bekam in dieser Nacht kein Auge zu, weil ich die ganze Zeit Angst davor hatte, sie könnte ins Schlafzimmer kommen und trotzdem mit mir schlafen wollen.

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Es gab allerdings schon einige gute Freundinnen, für die ich Gefühle entwickelt habe und mit denen ich auch Sex hatte. Oder es zumindest versuchte, denn mein Herz schlug dabei wie verrückt und ich hatte absolut keinen Spaß. Das verunsicherte wiederum meine Sexpartnerinnen. Mithilfe von Alkohol unterdrückte ich schließlich meine Aufregung. Und ich konnte meine Orgasmusprobleme auf das Bier schieben.

Diese Entwicklung war einer der Gründe für mein Alkoholproblem. So lernte ich aber auch eine Krankenschwester kennen, die mir ihre Hand entgegenstreckte und sagte, dass ich sie berühren könne, ohne das es weh tut. Dann wies sie mich an, ihren Arm anzufassen. Oder sie berührte mich im Gesicht und erklärte mir dabei, dass das ja gar nicht schlimm sei. Ich fühlte mich zwar unwohl, aber dank ihr machte es mir auch Spaß. Es wurde immer besser und letztendlich heirateten wir. Ohne sie hätte ich niemals Fortschritte gemacht. Meine Frau hat außerdem zwei Kinder. Ich lebe jetzt schon seit gut zwei Jahren mit ihnen zusammen, aber berührt habe ich sie noch nie. Noch nicht mal unsere Hände haben sich zufällig gestriffen.

Wenn ich unter Leute gehe, dann betrinke ich mich normalerweise. Wenn das keine Option ist, dann spreche ich leise mit einem imaginären Hund.

Einmal beobachtete ich in einer Bar, wie ein Kumpel einem Typen die Hand auf die Schulter legte, als er an ihm vorbeiging. Ich weiß noch, wie ich mir dachte: "Scheiße, das war richtig elegant! Ich wünschte, ich könnte das auch." Kann ich aber nicht. Wenn ich unter Leute gehe, dann betrinke ich mich normalerweise. Wenn das keine Option ist, dann spreche ich leise mit einem imaginären Hund. Also ich beuge mich jetzt nicht nach vorne und streichle ein Tier, das gar nicht da ist. Ich flüstere einfach vor mich hin. Keine Ahnung, warum es mir dadurch besser geht, aber es ist nunmal so. Man hat mich schon oft bei meinen "Gesprächen" erwischt. Ich sage dann immer, dass ich singe. Zum Glück hat mich noch nie jemand nach dem Lied gefragt. Außerdem verschränke ich fast ständig die Arme. Dennoch gebe ich mein Bestes, um freundlich zu lächeln und über Witze zu lachen. Ich glaube aber, dass diese beiden Verhaltensweise nicht zusammenpassen und mich wie einen Psychopathen wirken lassen.

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Ich bin inzwischen ziemlich gut darin, Berührungen zu vermeiden. Dementsprechend kommt es auch nicht mehr zu unangenehmen Zwischenfällen. Ich bin Grafiker, wechsle derzeit aber in die Programmierung. Dort hat man nämlich weniger Kundenkontakt. In Geschäften zahle ich nach Möglichkeit nur noch mit Karte. Und wenn das nicht geht, dann lasse ich das Bargeld immer in die Hand der Verkäufer fallen. Dann halte ich meine eigene Hand relativ eindeutig auf und hoffe, dass sie mit dem Wechselgeld das Gleiche machen.

Leider kann ich nicht alles kontrollieren. Einmal überreichte mir meine Chefin zum Beispiel eine Weihnachtskarte und wollte mich anschließend umarmen. Ich machte einen Schritt zurück, hob meine Arme und erklärte ihr, dass das nicht gehe. Meine Reaktion kränkte sie ein wenig. Als ich die Karte schließlich öffnete und das großzügige Weihnachtsgeld erblickte, fühlte ich mich noch beschissener.

Erst gestern bekam ich mit, wie meine Schwiegermutter weinte. Ich konnte lediglich ein bisschen näher zu ihr hinrücken. Zwar wollte ich ihr aufmunternd auf den Rücken klopfen, aber daraus wurde nur ein komischer Piekser mit einem Finger.

Ich habe jetzt schon einiges durchgemacht. Hätte ich keine Maßnahmen ergriffen, wäre ich bestimmt schon an Leberversagen gestorben. Ich fühle mich oft wie ein Außenseiter, schaffe es aber trotzdem nicht, aus alten Mustern auszubrechen. Mir ist es eben wichtiger, nicht angefasst zu werden, als irgendwo dazuzugehören. Es ist noch ein langer Weg, bis meine Phobie besiegt ist. Mal sehen, wohin mich die Zukunft führt. Ich glaube allerdings, dass meine Eltern Recht haben: Menschen brauchen körperliche Berührungen. Ich muss nur einen Weg finden, damit umzugehen.

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