Wir waren in den Ruinen von Minopolis, der "Stadt der Kinder"
Ein Dankeschön an den Fotografen, der mich begleitet hat. 

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Wir waren in den Ruinen von Minopolis, der "Stadt der Kinder"

Durch die Fenster hat man immer wieder Aussicht auf den DC-Tower mit seinen teuren Luxuswohnungen – ein ziemlich absurder Kontrast.

Als Kind habe ich Minopolis geliebt. Immer wieder habe ich meine Eltern in die Stadt der Kinder gezerrt und sie sind stundenlang mit leidendem Blick dort gegessen, während ich selig den Führerschein machte, Brot backte, Abwasserkanäle säuberte, Babyborns betreute und für die Minopolis-Zeitung Artikel schrieb. Ich fühlte mich so erwachsen und selbstständig. Und ich war reich. Meine Minopolis Bankomatkarte und tausende Eurolino-Banknoten habe ich heute noch.

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Als ich 13 wurde und damit nur noch als Begleitperson hinein durfte, war ich ernsthaft traurig – so war das echte Erwachsenwerden also, so ganz ohne Privilegien und Spielgeld und Spaß? Kurz darauf machte Minopolis für immer zu. Hauptgrund war angeblich, dass keine Einigung bei der Verlängerung des Mietvertrags gefunden wurde.

Seit Ende 2013 steht das Gebäude nun leer. Über eine Freundin habe ich erfahren, dass es immer mehr zu einer Ruine verkommt. "Alles ist vollgesprayt und zerstört", meinte sie. Meine Gefühle dazu waren gemischt. Zum einen trauerte mein Kinderherz immer noch um den behüteten Spielplatz, den ich dort einmal hatte. Zum anderen fand ich die Ironie hinter dieser Entwicklung fast schon lustig. Minopolis war zu einem völlig neuen, viel erwachseneren Spielplatz geworden – fast so, als würde das Gelände wollen, dass ich weiterhin Spaß auf ihm haben konnte.


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Also habe ich beschlossen vorbei zu schauen. Der Geruch nach Pisse schlägt mir schon von weiter Entfernung entgegen. Durch einen Seitengang, in dem offensichtlich einmal jemand gewohnt hat, kommt man durch eine aufgestemmte Tür in das Gebäude. Drinnen liegen in einem Nebenraum genügend Dopplerflaschen, um einen Elefanten abzufüllen. Über Stufen geht es weiter in alle anderen Räume. Ich erkenne den Autoplatz wieder und die Baustelle.

Das nachgestellte Abwassersystem, der MA 48, durch dessen "Kanäle" ich früher wohl stundenlang gekrochen bin, um es von "Müll" zu befreien finde ich auch und stelle fest, dass es sich eigentlich um in einem Raum liegende Rohre handelt, von denen ich damals vollkommen überzeugt gewesen war, dass sie unter der Erde sind – Kinder sind eben leicht zu täuschen.

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Genau diese Leichtgläubigkeit mache Minopolis sich auch zu Nutze, so viele Kritiker. Die Katholische Jungschar meinte zum Beispiel, dass das Projekt "den Glauben an den unbegrenzten Kapitalismus verkörpere" und kleine Kinder mit bewusst gesetzter Werbung schon frühzeitig auf Konsum trainiere. Raiffeisen, Ströck, Billa und der Kurier hätten so die Möglichkeit bekommen, sich auf spielerische Art die Konsumenten von morgen heranziehen.

Überall riecht es nach Pisse, Schimmel und anderen Dingen, von denen ich gar nicht wissen will, dass ich sie eingeatmet habe.

Minopolis betonte dagegen immer, durch die Spiel-Geschäfte ein Bewusstsein für die Arbeitswelt und ein spielerisches Kennenlernen von Strukturen zu ermöglichen. Warum die Fake-Geschäfte für Kinder dann aber unbedingt echte Firmennamen tragen mussten und nicht einfach „Bäckerei" und „Bank" hießen, bleibt mit dieser Erklärung zumindest fragwürdig.

Mit dem Wissen um diese Vorwürfe, auf die ich mit acht Jahren natürlich niemals aufmerksam geworden wäre, ist der Eindruck, den dieses neue Minopolis bei mir hinterlässt, umso stärker. Überall riecht es nach Pisse, Schimmel und anderen Dingen, von denen ich gar nicht wissen will, dass ich sie eingeatmet habe. Ich finde einige Schlafplätze. Alle sind im Sommer offensichtlich vorübergehend verlassen. Die Wände sind voll mit Graffiti, überall liegen Müll und Schutt. In einer Ecke war offensichtlich eine provisorische Bar aufgebaut. In ein paar Räumen hat es eindeutig einmal gebrannt – es riecht noch nach dem Feuer.

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Durch die Fenster und Löcher in der Wand hat man immer wieder Aussicht auf den DC-Tower mit seinen teuren Luxuswohnungen. Ein absurdes Kontrastprogramm. Wieder draußen fühle ich mich dreckig. Aber nicht nur wegen der Schicht aus Schimmelporen, mit denen ich jetzt wahrscheinlich überzogen bin, sondern auch wegen all der Spuren von Elend, die ich gesehen habe. Die frühere "Brutstelle des Kapitalismus" wurde eindeutig zu einem Unterschlupf einiger, die genau mit genau diesem nicht mehr mithalten konnten.

Viele, die das "neue" Minopolis besucht und zerstört haben, waren sicher Sprayer oder Jugendliche die einfach dort waren, um Party zu machen. Andere gaben sich hier wohl auch eine andere Art von Kick, weil sie nicht mehr ohne konnten, oder schliefen hier, weil sie nirgendwo anders Platz fanden. Minopolis wurde von der Stadt der Kinder zu jener der Obdachlosen, Junkies und allen anderen die keine bessere Unterkunft für die Nacht finden konnten.

Auf meinem Weg zurück nach Hause treffe ich einen ziemlich heruntergekommenen Mann. Ob ich ihm kurz zuhören könnte, fragt er. Er brauche Hilfe. Nach dem, was ich gerade gesehen habe, verkneife ich mir das fast schon antrainierte "Nein, tut mir leid" und bleibe stehen.

Man merkt, dass er das nicht gewöhnt ist. Er sieht gerührt aus. Dann erzählt er mir eine Geschichte von Drogen und Entzug. Seit zwei Jahren sei er jetzt clean, aber er schaffe es einfach nicht zurück in die Gesellschaft, obwohl er eigentlich zwei Berufe gelernt habe, bevor er abgestürzt sei. Er zeigt mir die Dokumente, die das belegen. Sie sind völlig zerrissen, aber sie sehen echt aus. Diese Tasche sei sein ganzer Besitz. Es ist eine sehr kleine Tasche. Er erzählt mir, dass er die Medizin, die er von der Apotheke statt der Drogen bekomme, seit zwei Tagen nicht genommen habe, weil er kein Geld dafür zusammen bekommen habe und Angst habe, einen Rückfall zu erleiden, weil man an Drogen notfalls auch anders ran komme, als mit Geld.

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Dann meint er noch: "Ich liebe dieses Lied"; anschließend verabschieden wir uns.

Also nehme ich ihn zu einem Bankomaten mit und gebe ihm das Geld, das ihm fehlt. Währenddessen steht er respektvoll in einigem Abstand neben mir und wirkt, als würde er gleich zusammenbrechen. Er meint, er würde bald 400 Euro vom Staat bekommen und könnte mir die 10 Euro dann irgendwie zukommen lassen. Er holt eine Liste hervor, um sich meine Kontodaten aufzuschreiben, bis er mein "schon OK" dann doch noch akzeptiert. Ich wünsche ihm viel Glück; er bedankt sich und wünscht mir einen schönen Sonntag. Dann meint er noch: "Ich liebe dieses Lied" gegenüber des Songs den es im Kaufhaus spielt; anschließend verabschieden wir uns.

Vielleicht hat er sich um das Geld auch Drogen gekauft. Vielleicht bin ich naiv und er setzt sich in diesem Moment einen Schuss. Mir ist klar, dass ich nicht wirklich sein Leben von Grund auf ändern kann und auch keine echte Hilfe war. Aber wie das eben so oft der Fall ist, hätte ich nicht guten Gewissens weitergehen und damit leben können, dass niemand die Kraft oder die Ressourcen aufbringen will, ihm zumindest für einen Moment lang das Leben ein bisschen angenehmer zu machen.

Im zweiten Stock von Minopolis, wo die Baustelle früher einmal war, hängt ein Schild mit der Aussage "Wir bauen auf die Besten". Schon zu aktiven Zeiten hatte die Botschaft an einem Ort wie diesem einen komischen Beigeschmack. In der heutigen Ruine ist es an Ironie kaum noch zu überbieten.

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