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Popkultur

Wie Sexualstraftäterinnen in den USA zu Freiwild werden

"Es ist schwieriger zu sagen: 'Ich will das nicht mit dir machen' oder 'Ich will warten, bevor wir Sex haben'. Wie setzt du Grenzen, wenn du selbst gegen ein Gesetz verstoßen hast?"
Shawna Baldwin in der Dokumentation Untouchable | Screenshot von YouTube aus dem Video “Shawna: A Life on the Sex Offender Registry“ von The Marshall Project

In den kommenden Monaten wird Jenny* besonders darauf achten, noch vor ihrem Mann und ihrer Tochter den Briefkasten zu leeren. In der Weihnachtszeit kommen die meisten Briefe.

Als Absenderadressen sind meistens die Haftanstalten Angola oder Dixon, Louisiana, angegeben. Der Inhalt folgt oft dem gleichen Muster. Erst schreibt der Absender, dass er Jennys Foto gesehen habe und sie ja wunderschön aussehe. Nein, er würde sie nicht für das verurteilen, was sie getan hat. Danach geht das Niveau steil bergab.

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"Was ich dafür geben würde, von dir unterrichtet zu werden …", heißt es in einem Brief, datiert auf den 3. April 2016. Das Englisch ist fehlerhaft und der Text mit blauer Tinte auf liniertem Papier geschrieben. "Du bist meine Fantasie. Ich wünschte, ich dürfte deinen Körper berühren."


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Jenny, Anfang 40, sagt, über 100 sexuell anzügliche Briefe – manche von ihnen fünf oder sechs Seiten lang – seien in den drei Jahren in ihrem Briefkasten gelandet, seit sie in Louisianas Sexualstraftäterregister aufgelistet ist. Ihr Eintrag umfasst ein Foto von ihr, ihre Adresse, ihr Vergehen (als Lehrerin hatte sie Sex mit einem 16-jährigen Schüler) und auch ihre Narben und Tattoos. Auch in manchen Zeitungs- und Fernsehberichten über ihr Verbrechen wird ihre Adresse genannt.

Es ist wirklich nicht leicht, Mitleid für Sexualstraftäterinnen zu haben. Genau wie männliche Täter können auch sie extreme körperliche und emotionale Schäden bei ihren Opfern anrichten. In den USA ist die Bestrafung mit dem Gefängnis aber nicht vorbei. Nach der Haft erwartet die Verurteilten nicht selten ein Leben voller Einschränkungen und Auflagen. Sie können nicht mehr frei wählen, wo sie leben. Mit einer solchen Vorstrafe Arbeit zu finden, ist schwer. Und oft sind sie öffentlich mit Foto und Vergehen in dem Register für Sexualstraftäter ihres Bundesstaats aufgeführt. Als Grund für diese noch weit nach der eigentlichen Strafe fortdauernden Einschränkungen wird stets die öffentliche Sicherheit angeführt. Eine wachsende Zahl von Kritikern beginnt nun allerdings, die vermeintlichen Vorteile dieser, wie sie es ausdrücken, "drakonischen" Gesetze zu hinterfragen.

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Wie sind die Register entstanden?

Bis 1994 führten nur wenige US-Bundesstaaten eine Täterdatenbank. Das änderte sich mit der Entführung und dem Verschwinden des 11-jährigen Jacob Wetterling 1989. Der Fall versetzte damals Eltern im ganzen Land in Angst und Schrecken. Erst 27 Jahre später gestand ein Mann, der für den Besitz von Kinderpornografie verhaftet worden war, die Tat. 1994 wurde ein Gesetz in Jacobs Namen verabschiedet, das alle Bundesstaaten dazu zwang, eine solche Datenbank für den internen Gebrauch zu führen. Ein weiteres brutales Verbrechen führte schließlich 1996 zu einem weiteren Gesetz. Megan's Law – benannt nach einer Siebenjährigen, die von einem vorbestraften Sexualstraftäter missbraucht und getötet worden war – machte diese Datenbanken dann öffentlich. Seitdem können sich besorgte amerikanische Bürger anhand dieser Register darüber informieren, wo Sexualstraftäter wohnen, arbeiten oder zur Schule gehen. Selbst ihre Internetidentitäten sind dort aufgelistet.

Über 750.000 Menschen befinden sich momentan im landesweiten Sexualstraftäterregister des FBIs, also ungefähr so viele, wie sich zusammengenommen in den individuellen Registern der einzelnen Bundesstaaten befinden. Der Frauenanteil in dieser Datenbank beträgt sieben Prozent. Natürlich lassen sich die Erfahrungen dieser Frauen nicht verallgemeinern. Die sechs, die ich für diesen Artikel interviewt habe, beschrieben allerdings alle, wie sie aufgrund ihres Eintrags zu Opfern sexueller Übergriffe und Belästigungen geworden waren. Aufgrund des großen Stigmas, mit denen ihre Taten behaftet sind, hätten sie außerdem oft nicht das Gefühl, irgendetwas dagegen tun zu können.

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Das Gefühl von Machtlosigkeit

Genau wie Jenny hat auch die 34-jährige Sawna Baldwin reichlich Post von fremden Männern erhalten. "Sie beschreiben mir ihre Genitalien, fragen, ob ich schon mal bei einem Gangbang mitgemacht oder Vergewaltigungsfantasien habe", berichtet sie. "Weil ich in dem Register stehe, denken die, ich wäre ein heimlicher Sexfreak."

Die heute dreifache Mutter wurde mit 19 dafür verurteilt, Sex mit einem 14-Jährigen gehabt zu haben. Ihr Fall wird ausführlich in der Dokumentation Untouchable beschrieben. Im Juli ist ihre Bewährungszeit ausgelaufen. Bis dahin musste sie zweimal im Jahr einen Lügendetektortest machen und eine Therapie für Sexualstraftäter besuchen. In dem Register von Oklahoma wird sie jedoch ihr ganzes Leben bleiben. Shawna erzählt, dass sich die Briefe für sie 2011 sogar in der Form eines Stalkers manifestierten. Während sie als Friseurin arbeitete, starrte der Mann sie von der Straße aus durch das Fenster des Salons an. Als er schließlich begann, mit ihr und ihren Kindern Kontakt aufzunehmen, erwirkte Baldwin vor Gericht eine Schutzverfügung. Das war das eine Mal, dass sie von ihren Rechten Gebrauch gemacht hat.

Baldwin erzählt weiter, dass ihr früherer Chef ständig anzügliche Bemerkungen gemacht und sich an ihr gerieben hätte. Er wusste von ihrer Verurteilung. Das Gesetz zwingt sie dazu, jeden Arbeitgeber darüber in Kenntnis zu setzen. Baldwin hatte nie das Gefühl, sich beschweren zu können. "Wer würde einer Sexualstraftäterin auch glauben?", sagt sie resigniert.

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Auch Jenny hat keinen ihrer Briefeschreiber der Gefängnisleitung gemeldet. Sie will lieber "unter dem Radar bleiben" – insbesondere, was Strafvollzugsbehörden angeht. Ein Verstoß gegen ihre Auflagen und sie muss vielleicht den Rest ihrer 15-jährigen Bewährungsstrafe im Gefängnis absitzen. Keine der beiden Haftanstalten hat auf unsere Anfragen geantwortet.

Auch in Beziehungen ausgeliefert

In den Liebesbeziehungen einiger Sexualstraftäterinnen gab es Vorfälle von sexuellen Übergriffen und Belästigungen. Vor mehreren Jahren hatte die Therapeutin Tanya* Sex mit einem 17-jährigen Patienten.

Da ihr Bundesstaat Abstufungen in der Schwere der Tat macht, ist die heute über 30-Jährige nicht öffentlich im Register aufgelistet. Sie gilt als Level eins – die Kategorie, bei der eine Wiederholungstat am unwahrscheinlichsten ist. Aber nicht alle Bundesstaaten unterscheiden. Dennoch schreiben Tanyas Auflagen ihr vor, jedem Sexualkontakt ihre Situation offenzulegen. Ihrer Erfahrung nach sind Männer davon entweder abgestoßen oder beginnen, sie deswegen zu fetischisieren. "Es ist schwieriger zu sagen 'Ich will das nicht mit dir machen' oder 'Ich will warten, bevor wir Sex haben'", erzählt sie. "Wie setzt du Grenzen, wenn du selbst gegen ein Gesetz verstoßen hast?"

Wenn sie selbst nicht das Stigma einer Sexualstraftäterin mit sich herumtragen würde, hätte sie bereits einige Vorfälle als sexuelle Übergriffe gemeldet. "Ich habe das in gewisser Weise verinnerlicht, dass ich wegen dem, was ich getan habe, und dem, was passiert ist, kein Recht über meinen eigenen Körper mehr habe", erklärt Tanya.

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Kim*, die ebenfalls in ihren 30ern ist, hat ähnliche Erfahrungen mit einigen Männern gemacht – Kollegen und Liebhabern. Diese würden mit unangemessenen und aggressiven Anliegen zu ihr kommen, sobald sie erfahren, dass sie im Sexualstraftäterregister ist. "Die wollen mich fesseln und mir eine Augenbinde überziehen und mich zu ihrer 'kleinen Nutte' machen, wie ein Typ es formuliert hat", erzählt Kim, die für die Vergewaltigung eines Elfjährigen verurteilt wurde. "Weil ich eine Sexualstraftäterin bin, erwarten sie, dass ich das einfach über mich ergehen lasse."

Das hartnäckige Klischee der "heißen Lehrerin"

"Viele Menschen tendieren dazu, die meisten Frauen im Register für eine Art Debra Lafave und die meisten Männer für unkontrollierbare Pädophile zu halten", sagt Derek Logue, ein registrierter Sexualstraftäter, der sich für die Rechte von Sexualstraftätern einsetzt. Der Fall von Debra Lafave hatte damals wegen ihrer Tat und vor allem ihres Aussehens für großes Aufsehen gesorgt. Diese Klischees seien aber "einfach nicht wahr", so Logue weiter. Er hätte noch von keinem Sexualstraftäter gehört, der auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit wie die Frauen bekommen hätte, die ich für diesen Artikel interviewt habe. Die Online-Kommentare zu Meldungen über Lehrerinnen, die Sex mit Schülern haben und Artikel wie "The 10 Hottest Women on the Texas Sex Offenders List" der Houston Press liefern eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie sehr manche Männer solche Frauen anhimmeln.

In den 15 Jahren, in denen sich die promovierte Psychologiedozentin Franka Cortoni mit Sexualstraftätern befasst hat, hat sie noch nie von Erfahrungen gehört, wie sie Baldwin, Jenny und die anderen vier Frauen geschildert haben. Aber sie wundert sich auch nicht darüber.

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"Nicht alle Männer schreiben diese sexualisierten Briefe, sondern Männer, die speziell auf diese besondere Art von Sex stehen. Durch die öffentlichen Datenbanken können sie leicht nachschauen, wer in der Vergangenheit abweichendes Sexualverhalten an den Tag gelegt hat. Diese Frauen sind dann Freiwild für sie", so Cortoni.

"Ohne jetzt zu viel Mitleid mit diesen Frauen haben zu wollen – da müssen wir meiner Meinung nach sehr aufpassen –, sieht die Realität für Sexualstraftäterinnen generell anders aus als für männliche Täter", erklärt sie weiter. Bevor sie Dozentin wurde, hatte sie in einem Klinikumfeld mit solchen Straftätern gearbeitet. Ein Unterschied sei auch, dass Frauen an sich schon einen wesentlich geringeren Teil der Täter ausmachen. Das erschwere zusätzlich die Probleme, die man als registrierter Sexualstraftäter sowieso schon habe, einen Job und damit ein geregeltes Einkommen zu bekommen.

Heiligt der Zweck die Mittel?

Cortoni und mit ihr viele andere fordern seit einiger Zeit, dass der rechtliche Umgang mit Sexualstraftätern überdacht wird. Immer wieder werden das öffentliche Register und die hohen Auflagen nach abgesessener Strafe mit einer Rückfallquote von 80 Prozent verteidigt. Wie David Feige, ehemaliger Pflichtverteidiger und Regisseur der Dokumentation Untouchables, allerdings diesen September in einem Artikel für die New York Times darlegte, liegt die Rückfallquote je nach Studie eher im Bereich von 13,5 Prozent. Bei Sexualstraftäterinnen ist sie mit 1,5 Prozent noch einmal erheblich niedriger. "Warum stellen wir uns aus Prinzip nicht einfach die Frage: 'Funktionieren diese Gesetze und Auflagen?'", sagte Feige vor Kurzem in einem Gespräch mit mir. "Und erschreckenderweise lautet die Antwort darauf meiner Meinung nach: Nein – sie funktionieren nicht wirklich."

Im Namen der öffentlichen Sicherheit würden verurteilte Sexualstraftäter heute in ein Leben voller Instabilität, Obdachlosigkeit und Armut entlassen, da sind Feige und Cortoni einer Meinung. Meine Interviewpartnerinnen, von denen einige selbst Mütter sind, sagen, dass die Bewährungsauflagen und die öffentlichen Register sie und auch ihre Familien in die Schusslinie bringen.

Baldwin zum Beispiel muss mindestens 2.000 Fuß (gut 600 Meter) von Schulen, Parks und Kinderbetreuungszentren entfernt leben. In den zwei Jahren nach ihrer Scheidung war sie alleinerziehend und das einzige Zuhause, das sie sich leisten konnte, war ein Trailer "mitten im Nirgendwo". Damals zog sie zwei Kinder groß, schlug sich mit einem Stalker rum, bekam ungefragt Sexpost und das alles im Wissen, dass ihr Foto, ihre Adresse und ihre Straftat öffentlich für jeden einsehbar sind. "Das ist extrem unheimlich", sagt sie

*Die Namen der Interviewpartnerinnen wurden geändert, um ihre Sicherheit und die Sicherheit ihrer Familien nicht zu gefährden.

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