Drei junge Menschen stehen mit dem Gesicht von der Kamera abgewandt und schauen aus dem Fenster
Alle Fotos: Djanlissa Pringels
Menschen

So ist das Leben als wohnungslose Studierende

"Das Lernen gab mir einen Grund, am Leben zu bleiben" – Denice, 23.

Obdach- oder wohnungslos zu sein, ist für Menschen jeden Alters schwierig. Doch gerade wohnungslose Jugendliche haben einen extrem schweren Start in ein verfrühtes Erwachsenenleben.

Einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts zufolge leben geschätzte 37.000 Jugendliche bis 27 Jahre in der Bundesrepublik auf der Straße. Zum Vergleich: In Großbritannien meldeten sich in diesem Jahr 103.000 Menschen unter 25 bei den Behörden, um Hilfe bei Wohnungslosigkeit zu beantragen. Und ein Drittel der Menschen, die in Spanien auf der Straße leben, ist unter 30. In den Niederlanden hat sich die Zahl der wohnungslosen Jugendlichen in den vergangenen drei Jahren verdreifacht, so das niederländische Zentrale Amt für Statistik.

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Back Up ist eine Organisation im niederländischen Utrecht, die wohnungslosen Jugendlichen hilft. Dank Back Up konnten wir mit Denice, Sam und Robin sprechen und sie nach ihren Erfahrungen als wohnungslose Studierende fragen. Um ihre Identität zu schützen, haben wir die Namen der drei geändert.

Robin, 25

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Robin

Mein Stiefvater machte mir das Leben zur Hölle, deswegen ging ich von zu Hause weg. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich schon für ein Studium in Informations- und Kommunikationstechnik eingeschrieben. Ich wollte in eine Studierendenwohnung ziehen, aber das ist in den Niederlanden gar nicht so leicht, weil die potentiellen Mitbewohner einen auswählen müssen. Mir ging es zu der Zeit so schlecht, dass ich niemanden von mir überzeugen konnte.

Die Bezeichnung "wohnungslos" verunsicherte mich extrem. Nachdem ich zum zigsten Mal abgelehnt wurde, hatte ich keine Kraft mehr, um weiter nach einem Zimmer zu suchen. Zum Glück hatte ich etwas Geld angespart, sodass ich für ein paar Monate in einem günstigen Hostel unterkam.


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Mir fiel es sehr schwer, befreundeten Mitstudierenden zu sagen, dass ich keine Wohnung hatte. Ich denke, sie müssen es geahnt haben, denn ich sah ziemlich runtergekommen aus, aß nichts und war immer sehr still. Mir war es wichtig, aktiv zu bleiben, indem ich Sport und Musik machte. So kam ich weiterhin an Glückshormone und konnte mich aufs Studieren konzentrieren.

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Das Studium hat mich damals gerettet. Wenn du täglich Kommilitonen siehst – und sie dich –, dann fühlst du dich nicht unsichtbar. Eine tägliche Routine ist auch gut, damit man sich nicht so von Tag zu Tag hangeln muss. Aktuell wohne ich mal hier, mal da, aber ich habe gute Chancen, in naher Zukunft ein Zimmer zu finden. Dann kann ich endlich mein Leben als eigenständiger Mensch beginnen.

Denice, 23

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Denice

Als meine Mutter starb, wurde ich nach und nach zu einem sehr schwierigen Teenager, was die Situation bei mir zu Hause furchtbar machte. Mit 18 zog ich aus, doch ich fühlte mich extrem verletzlich. Ich wohnte an den schlimmsten Orten, gab mich mit den falschen Leuten ab. Mein Vermieter war übergriffig – er sagte, mein Freund dürfe mich nur besuchen, wenn ich mit dem Vermieter Sex hätte. Eines Nachts wachte ich davon auf, dass er mich küsste. Am Tag darauf zog ich aus und kam bei Freunden unter.

Um mir eine Zukunft zu sichern, beschloss ich, eine Ausbildung zur Köchin zu machen. Das gab mir auch ein Gefühl der Sicherheit. Ich musste nur einmal die Woche in die Schule, an den anderen Tagen arbeitete ich. Die Tage, an denen ich nicht über meine schwierige Wohnsituation nachdenken musste, waren für mich ein Segen.

Ich suchte nach einem Zimmer, aber niemand wählte mich aus. Mit dem wenigen Geld, dass ich mit meinen Studi-Jobs verdiente – 1.000 Euro im Monat –, konnte ich keine eigene Wohnung mieten. Ich hatte ja nicht mal genug für die Kaution. Innerhalb kurzer Zeit hatte ich mich tief verschuldet, aufgrund von Bus- und Bahntickets, Kleidung und Zahnarztrechnungen. Seit ich nicht mehr zu Hause wohne, bin ich etwa elfmal umgezogen und habe dabei viele meiner Sachen verloren. Meine Schulden belaufen sich inzwischen auf 20.000 Euro.

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Letztes Jahr stand es übel um mich. Ich fand keine Unterkunft und landete auf der Straße. Die ersten paar Nächte verbrachte ich in einem verlassenen Haus. Mein gesamter Besitz passte in zwei Plastiktüten. Es war eiskalt, ich konnte kein bisschen schlafen. Um in die Schule zu gehen, fehlte mir die Energie.

Nach vier Nächten konnte ich in eine Obdachlosenunterkunft. Tagsüber war ich bei meinen zwei Jobs und in der Schule, wo ich so tat, als sei alles in Ordnung. Die Nächte waren die Hölle. Ich war die jüngste Person in der Unterkunft und eine der wenigen Frauen, was mich für die Männer zur Zielscheibe machte. Ich fühlte mich ständig in Gefahr und weinte stundenlang.

In der Unterkunft zu lernen, war auch eine Herausforderung. In einem Zimmer, wo ständig Leute Gras rauchten und wo ich von Dutzenden lärmenden Männern umgeben war, konnte ich mich kaum konzentrieren. Aber ich bemühte mich, so gut es ging, denn das Lernen gab mir einen Grund, am Leben zu bleiben.

Vor ein paar Wochen bin ich in eine kleine Wohnung gezogen, wo ich mich zum ersten Mal seit Jahren sicher fühle. Ich stehe jetzt kurz vorm Abschluss. Eine Beraterin hilft mir mit meinen Schulden. Ich bin froh, dass ich diese Phase bald hinter mir lassen kann. Ich hoffe nur, dass ich wieder Vertrauen zu anderen Menschen fassen kann und das nächste Mal schon früher um Hilfe bitte, wenn ich sie brauche.

Sam, 21

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Sam

Als ich acht war, zog meine Mutter zurück nach Surinam und ließ ihre Kinder in verschiedenen Pflegefamilien zurück. Leider wollte mich niemand aufnehmen, also lebte ich im Alter von acht bis 16 Jahren in einer Reha-Einrichtung. Damals büffelte ich, um mich nach der Schule beim Militär einzuschreiben.

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Mit 16 kam ich bei einem Freund unter. Dort konnte ich mich nur schwer aufs Lernen konzentrieren, außerdem verstand ich mich nicht mit seiner Mutter. Als ich 18 war, ging ich einmal raus, um frische Luft zu schnappen, da sperrte sie mich und meine Sachen aus dem Haus aus. Ich hatte gerade meinen Schulabschluss gemacht und war drauf und dran, Soldat zu werden, aber ich hatte kein Geld, keine Unterkunft und eine Menge psychischer Probleme.

Ich beschloss, mich für einen anderen Studiengang einzuschreiben. So konnte ich von einem Stipendium leben. Da ich nicht sofort ein Zimmer fand, wohnte ich drei Monate lang in einem Krisenzentrum. Danach wohnte ich im Elternhaus meiner Freundin, aber dort konnte ich mich nicht offiziell melden – ich hatte hohe Schulden, und die Eltern hatten Angst, dass Gerichtsvollzieher bei ihnen vor der Tür stehen könnten.

Sie wollten mich auch nicht jede Nacht im Haus haben. Deshalb verbrachte ich viel Zeit damit, herumzulaufen und nach Schlafplätzen zu suchen. Manchmal musste ich auf der Straße schlafen. Aber an Einschlafen war nicht zu denken – ich konnte es nicht und wollte es auch nicht. Also rauchte ich Gras, bis die Sonne aufging.

Zu der Zeit studierte ich Management. Ich machte immer meine Hausaufgaben. Aber wenn ich die Nacht auf der Straße verbracht hatte, kam ich total zugedröhnt in die Vorlesungen. Mein Betreuer, der von meiner Situation wusste, ließ mich meist im Computerraum ein Nickerchen machen, wenn das passierte.

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Ich fühlte mich nie wie ein Obdachloser. Ich sah immer zu, dass ich Geld hatte; betteln musste ich nie. Ich duschte bei meiner Freundin und hatte immer eine Zahnbürste dabei. Wenn ich Essen brauchte, kaufte ich mir im Supermarkt ein Fertiggericht und bat dort darum, dass sie es mir warm machten. Ich habe gelernt, dass viele Menschen einem bereitwillig helfen, wenn man sich nur traut zu fragen.

Das Studium hat mich gerettet, aber es war nicht leicht. Sobald du kein Dach über dem Kopf hast, wird Geld deine größte Sorge. Dein ganzer Tag dreht sich um die Frage, wie du zurechtkommen sollst – zum Beispiel musste ich mir den Kopf darüber zerbrechen, wie ich die teuren Bücher für meine Kurse bezahlen sollte.

Wegen der Schulden, die ich gerade anhäufe, mache ich mir keine Sorgen. Das zahle ich alles ab, wenn ich nicht mehr auf der Straße bin. Ich träume von einer HipHop-Karriere, aber erst muss ich mein Studium schaffen, damit ich nie wieder auf der Straße lande.

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