Jenny im Rollstuhl
Foto: Alexandra Stanić
Menschen

Jenny stürzte nach K.O.-Tropfen 21 Meter aus dem Fenster und überlebte

"Viel schmerzhafter als der Sturz ist, wie der Club und die Polizei mit der Situation umgegangen sind."

Eigentlich wollte Jenny nur ein Glas Wasser aus der Küche holen. Aber in ihrem Körper mischten sich K.O.-Tropfen und Alkohol, als sie gegen 3:40 Uhr in der Nacht vom Boden ihres Zimmers aufstand und die falsche Richtung einschlug. Statt durch die Tür in die Küche zu laufen, rannte sie auf das offenstehende Fenster zu. Die Mischung löste, wie man später feststellen wird, Halluzinationen bei Jenny aus. Sie stürzte 21 Meter in die Tiefe. Ihre anwesende Schwägerin hörte den lauten Knall, als Jenny auf dem Boden aufkam.

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Vier Tage lang wussten die Ärzte und Ärztinnen nicht, ob sie überleben würde. Die Folgen des Sturzes waren verheerend: Sie brach sich ihren Kiefer, sieben Rippen und das Schlüsselbein. Ihre Sprunggelenke waren zertrümmert, ihre Leber gerissen, sie hatte Wasser in der Lunge, auch ihre Niere wurde verletzt.

Jenny – wir nutzen hier nur ihren Spitznamen, um sie zu schützen – hatte Glück im Unglück. Sie überlebte. Zurzeit sitzt sie im Rollstuhl, schafft auch schon einige Meter auf Krücken. Doch das ist für sie nicht das Schlimmste. "Viel schmerzhafter als der Sturz ist, wie der Club und die Polizei mit der Situation umgegangen sind", sagt sie. Sowohl der Polizei als auch dem Club wirft Jenny vor, nicht genug unternommen zu haben, um aufzuklären, wer ihr die K.O.-Tropfen in den Drink gemischt hat. VICE hat den Fall rekonstruiert und sowohl die Polizei als auch den Club mit den Vorwürfen konfrontiert.

Jenny landete auf einer ausgegrabenen Fläche aus Erde, rund herum nur Beton. Wäre sie nicht auf der Erde und nicht auf ihren Füßen aufgekommen, hätte sie vermutlich nicht überlebt. 78,7 Milligramm γ-Hydroxybuttersäure, besser bekannt als GHB, pro Kilogramm Körpergewicht – so viel wurde um 7:30 Uhr morgens in ihrem Blut nachgewiesen.


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Wie viel GHB im Moment des Sturzes durch Jennys Blut floss, ist schwer zu sagen. So ist es häufig, denn wenn man den Verdacht hat, K.O.-Tropfen verabreicht bekommen zu haben, sind sie meist schon nicht mehr nachweisbar. Der Stoff wird vom Körper schnell abgebaut und ist im Urin nur rund 12 Stunden nachweisbar.

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Wolfgang Bicker, Leiter des Forensisch-Toxilogischen Instituts in Wien, sagt gegenüber der österreichischen Tageszeitung Kurier, die ebenfalls über Jennys Fall berichtete, dass GHB in Kombination mit Alkohol bei zu hoher Dosierung lebensgefährlich sein kann. Dass die Mixtur auch bei Jenny Halluzinationen auslöste, hält er für realistisch. In Verbindung mit Alkohol könne es zu dem beschriebenen Verhalten gekommen sein, so Bicker. Eigentlich hätte sofort ein Urintest durchgeführt werden müssen. Aber das ist in Jennys Fall nicht passiert. Aus Sicht der Ärzte und Ärztinnen ist das verständlich: Sie waren damit beschäftigt, Jennys Leben zu retten.

Eine Woche lang lag Jenny im Koma, dann wurde sie für zwei weitere Wochen in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, weil die Schmerzen für sie nicht auszuhalten gewesen wären. Nachdem sie zu sich kam, hing sie zwei weitere Wochen an einem Beatmungsgerät. Jenny konnte nicht alleine essen und trinken, der Schluckreflex setzte aus, sie konnte sich zunächst noch nicht einmal bewegen. Ihr Ärzteteam konnte ihr anfangs nicht sagen, ob sie jemals wieder gehen können würde. Sie schätzten, dass sie rund ein Jahr im Krankenhaus würde bleiben müssen.

Heute lebt Jenny bei ihren Eltern außerhalb von Wien. Nicht jede ihrer Behandlungen wird von der Krankenkasse bezahlt, deswegen startete eine Freundin eine Spendenaktion. Jenny wirkt trotzdem fröhlich und selbstbewusst, trägt ein Sommerkleid und zieht immer wieder mal ihren Lippenstift nach. Die 29-Jährige lacht überraschend viel. Sie strahlt die meiste Zeit, bei jedem noch so kleinen Detail ihrer tragischen Geschichte findet sie einen positiven Ansatz. Sie erzählt zum Beispiel, dass lange nicht sicher war, ob sie im Rollstuhl bleiben wird: "Aber ehrlich? Mir ist das egal, dann rolle ich eben durchs Leben, statt zu laufen. Hauptsache am Leben." Die neugierigen, teilweise aufdringlichen Blicke von Passanten und Passantinnen entgehen ihr nicht. Natürlich seien die manchmal nervig. "Aber ich kann ganz gut mit der Aufmerksamkeit umgehen", sagt sie und lacht wieder. Jenny sehe das Leben seit dem Sturz aus dem Fenster als Spiel. "Wenn du dem Tod so nahe kommst, kannst du das Leben nicht mehr ernst nehmen."

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Nach den Shots tanzt Jenny plötzlich wie wild

Die Nacht, in der Jenny aus dem Fenster stürzte, begann mit einer Party. Ihrer Aussage nach ereignete sich die Nacht wie folgt: Am Abend des 8. Februar 2019 wollte Jenny ihre absolvierten Uni-Prüfungen und eine Jobzusage mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und deren Freundin feiern. Ursprünglich wollten die vier Frauen auf ein Konzert gehen. Weil das aber doch nicht stattfand, hätten sie spontan entschieden, einen Wiener Club, der bei der ex-jugoslawischen Community beliebt ist, aufzusuchen. Jenny habe dort einen Wodka Red Bull und zwei Shots getrunken, "also nicht allzu viel".

Dann habe Jenny nacheinander drei Männer getroffen, die alle als mögliche Verabreicher der Tropfen in Frage kommen. Da keiner dieser Männer für die Tat verurteilt werden konnte, beschreiben wir sie hier nicht näher. Nur eines ist ganz klar: Im Laufe des Abends verändert Jenny sich, tanzt plötzlich wie wild. Ihre Mutter will deswegen das Tablet mit den Shots vom Tisch genommen haben. Jenny sei daraufhin ausgerastet, habe alles vom Tisch geworfen und sei nach draußen geeilt, gefolgt von ihrer Mutter. "Ich habe sie weggeschubst und gerufen, dass ich diese Frau nicht kenne und dass sie nicht meine Mutter ist", sagt Jenny. Sie selbst kann sich an all das nicht mehr erinnern, sie hat den Abend wieder und wieder mit ihrer Mutter rekonstruiert. Andere Gäste bestätigen ihren Wutausbruch.

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Laut Jenny ging der Abend so weiter: Sie sei in ein Uber gestiegen, habe einen Zwischenstopp bei McDonald’s eingelegt, das zeigt ein Kontoauszug, und sich dann auf den Nachhauseweg gemacht. Ihr Bruder rief sie Dutzende Male an, weil die Mutter – krank vor Sorge, so kennt sie ihre Tochter nicht – ihn um Hilfe bat. Zusammen mit seiner Frau erwartete er Jenny vor ihrer Wohnungstür und brachte sie nach oben in den vierten Stock. Auch dort randalierte sie, war außer sich. "Sie haben mir gesagt, dass sie mich noch nie so erlebt haben." Vom einen auf den anderen Moment wurde Jenny ruhig, wirkte wie gelähmt. Sie soll wie ein Zombie gesprochen haben: Sie habe sich jetzt beruhigt und wolle schlafen gehen.

Jennys letzte Erinnerung an diese Nacht ist, wie sie mit ihrer Schwägerin am Boden sitzt und sagt, sie habe Durst. Daraufhin verlässt ihre Schwägerin das Zimmer, um Wasser zu holen. Dann der Knall: Um 3:40 Uhr stürzt Jenny aus dem Fenster. Jenny konnte mit ihren Ärzten und Ärztinnen grob rekonstruieren, wie der Sturz genau passiert ist. "Ich bin mit meinen Füßen aufgekommen und habe quasi einen Squad gemacht", sagt sie und grinst.

Als sie zu sich kam, lag sie im Krankenhaus. "Im Koma hatte ich immer wieder das Bild vor Augen, wie ich Wasser holen möchte und den Boden unter den Füßen verliere", sagt Jenny. "Dieses Bild verfolgt mich bis heute."

Entgegen der Einschätzungen der Mediziner und Medizinerinnen schaffte Jenny es nach dreieinhalb Monaten nach Hause. "Sobald sich mein Körper ein wenig erholt hatte, habe ich angefangen, Übungen zu machen", erklärt Jenny ihren Heilungsprozess. Jede Bewegung habe geschmerzt, aber Woche für Woche erhöhte sie ihr Gewicht um ein halbes Kilo. "Ich wusste, dass ich Kraft in meinen Armen und und im Rücken brauche, wenn ich es aus dem Krankenhausbett in den Rollstuhl schaffen will."

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Jenny beim Heilungsprozess

Jenny trainiert täglich, trotz schlimmer Schmerzen || Fotos: Ella Ramakić

Jenny geht derzeit auf Krücken. Wird es ihr zu viel, setzt sie sich in den Rollstuhl. "Ich soll jeden Tag zumindest 30 Minuten gehen, sonst besteht die Gefahr, dass ich an Trombose erkranke", erklärt sie. Auf Schmerzmittel verzichtet sie ganz, "sonst müsste ich sechs verschiedene schmerzstillenden Tabletten täglich nehmen, das möchte ich nicht." Während sie geht, pausiert sie oft. Die zertrümmerten Sprunggelenke brauchen Pausen.

Wer ihr die Drogen verabreicht hat, weiß Jenny bis heute nicht – und sie wird es vermutlich nie erfahren

Die Landespolizeidirektion Wien erklärt auf Anfrage von VICE, der toxikologische Befund und der Tatort seien für Ermittlungen hilfreich, aber alleine aufgrund der in Österreich geltenden Gesetze nicht ausreichend, um eine Person einer Tat überführen zu können. Es gebe keinen konkreten Tatverdacht gegen eine bestimmte Person, aber diverse Hinweise, denen nachgegangen worden sein soll. Es habe sich kein konkreter Verdacht gegen eine bestimmte Person verhärten können.

Jennys Mutter hatte zwar noch in der Unfallnacht Anzeige erstattet. Die Ermittlungen wurden aber auch auf Jennys Wunsch hin eingestellt – weil sie der Polizei nicht vertraute. Die Art und Weise, wie sie vernommen wurde, empfand Jenny als unangemessen. Wenige Tage nachdem sie zu Bewusstsein kam, befragte sie ein Beamter der Landeskriminalpolizei Wien. Sie lag zu dieser Zeit noch auf der Intensivstation, konnte nicht eigenständig atmen. "Ich war noch nicht vollständig bei mir, als ich das erste Mal befragt wurde."

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Die LPD Wien erklärt auf Anfrage, dass es richtig sei, dass Jenny vom Kriminaldienst im Spital besucht und zum Sachverhalt befragt worden sei. VICE liegt ein entsprechendes Protokoll von einem zweiten Besuch eines Polizeibeamten vor. Unüblich ist das nicht – unangemessen findet Jenny es dennoch: "Natürlich ist es hart, was mir passiert ist", sagt sie. "Aber wie die Polizei und der Club mit der Situation umgehen, tut viel mehr weh."

Auch der Umgang mit Beweismitteln macht Jenny zu schaffen. Der Club selbst postete wenige Tage nach dem Sturz auf Instagram, dass sie der Polizei Überwachungsaufnahmen aus jener Nacht übermittelt hätten.

"Bereits am zweiten Tag nach dem Unglück standen wir (Name des Clubs entfernt) mit der Polizei in Kontakt und haben alle uns zur Verfügung stehenden Kamera- und Videoaufnahmen an die ermittelnden Beamten weitergeleitet. Bis heute verfolgen wir gemeinsam mit der Polizei alle Optionen, die zur Überführung des Täters führen könnten." Screenshots liegen VICE vor. Zudem liegen VICE Privatnachrichten einer Mitarbeiterin vor, in denen auch sie versichert, die Polizei hätte das Material zur Verfügung gestellt bekommen.

Die Polizei aber sagt, dass das Lokal unmittelbar nach dem Vorfall umgebaut und auch die Videoanlage ausgetauscht worden sein soll, weshalb keine Videoaufnahmen vorhanden seien und sichergestellt werden konnten. Das ärgert Jenny besonders. "Vielleicht hätte man auf den Aufnahmen erkennen können, wer mir etwas ins Getränk geschüttet hat. Aber jetzt werden wir das nie herausfinden." Zum ersten Mal während des Gesprächs wirkt sie wütend und aus der Fassung.

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Nach diesem Rückschlag und dem zweiten Besuch des Inspektors entscheidet Jenny, die Ermittlungen einstellen zu lassen. "Das hätte so nichts gebracht", sagt sie.

Foto von ihrer Narbe am Oberschenkel

Um ihren offenen Bruch am Fuß zu schließen, entnehmen die Ärzte und Ärztinnen Haut von Jennys Oberschenkel || Foto: Alexandra Stanić

Der Club will für Jennys Fall nicht verantwortlich gemacht werden und droht über Instagram mit einem Anwalt

Publik wird Jennys Fall erst, als ihre Freundin Ella am 8. März 2019, am Weltfrauentag, einen Beitrag auf Instagram teilte. Ella schrieb, in welchem Club Jenny das Liquid Ecstasy verabreicht wurde, und wirft dem Club vor, Jenny und ihre Familie nicht kontaktiert zu haben. "Ihr habt weder angerufen, noch eine Karte oder Blumen geschickt. Kein Zeichen von Menschlichkeit und Sympathie. Ich frage mich: Wie könnt ihr nachts schlafen?"

Daraufhin erhält vor allem Ella Dutzende Hassnachrichten wie diese: "Hoit de Pappn du cuxxl mach hier ned auf trauerbloggerin und hol dir deine likes wie die restlichen sharmutas mit nacktfotos und nicht mit irgendwelchen lügen Geschichten". Sie wird als "Sharmuta", also Schlampe, und "Hurenfreundin" beschimpft, die mit dem Leid ihrer Freundin Likes generieren wolle. Eine 18-jährige Userin, die den Beitrag über Jennys Geschichte teilt, erhält eine Nachricht von einem User, der dem Club anscheinend nahe steht. Er "rät" ihr in seiner Nachricht, dass sie aufpassen solle, was sie postet. Auch Jenny erhält Hassnachrichten. VICE hat den Club mehrmals konfrontiert und um Stellungnahme gebeten – bis zur Veröffentlichung des Artikels haben wir keine Antwort erhalten.

Die Polizei Wien aber bestätigt, dass Angehörige des Opfers und diverse unbeteiligte Nutzer das Lokal auf Social Media konfrontiert hätten. "Teilweise anscheinend mit rechtlich bedenklichen Beschuldigungen." Der Betreiber des Lokals wiederum soll aufgrund dieser "öffentlichen Angriffe" Rufschädigung und Umsatzeinbußen geltend gemacht haben und deshalb unter Einschaltung eines Anwaltes zivilgerichtliche Schritte gegen die Angehörigen des Opfers erwogen haben. Posts des Clubs in sozialen Medien bestätigen das. Die Ermittler sollen versucht haben, als Mediator zu schlichten: "Keine der beteiligten Seiten würde von vorschnellen und nicht erwiesenen Anschuldigungen profitieren und durch solche Aktionen werden die Ermittlungen nicht gerade einfacher."

Jennys Fall zeigt, wie kompliziert es für Menschen, die mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht worden sind, ist, den oder die Täterin ausfindig zu machen. Die Tropfen sind nicht lange nachzuweisen, die Clubs, in denen die Täter oder Täterinnen sich ihre Opfer suchen, können unmöglich jeden Winkel des Lokals überwachen, und Polizeikräfte müssen bei diesem Thema mit Fingerspitzengefühl vorgehen. In Jennys Fall ging alles schief. Dennoch will sie sich von den Reaktionen auf Social Media nicht einschüchtern lassen.

Denn es meldeten sich auch Frauen bei Jenny und Ella, denen im selben Club ihrer eigenen Einschätzung nach Drogen ins Getränk gemischt worden sein sollen. Beweisen können allerdings auch sie das nicht, weil die Droge nicht in ihrem Blut nachgewiesen wurde.

Jenny will mit ihrer Geschichte Bewusstsein schaffen, deswegen geht sie damit an die Öffentlichkeit. "Ich möchte, dass sich gesellschaftlich und rechtlich etwas verändert. Es kann nicht sein, dass Frauen alleine da durch müssen, ohne eine Chance auf Gerechtigkeit." Sie möchte aber auch Frauen warnen, vorsichtig zu sein. "Die Wahrheit ist: Du bist als Frau nicht sicher. Das muss sich ändern."

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